Kapitel 45 - Mein Bruder

Ich war noch nicht acht Tage auf Urlaub, da kriegte ich die telegraphische Nachricht: »Lothar verwundet, nicht lebensgefährlich.« Mehr nicht. Nähere Erkundigungen ergaben, daß er wieder mal recht leichtsinnig gewesen war. Er flog mit Allmenröder zusammen gegen den Feind. Da sah er tief unten, ziemlich weit drüben, einen allein herumkrebsenden Englishman. Das sind so die feindlichen Infanterieflieger, die unseren Truppen besonders lästig fallen. Jedenfalls beunruhigen sie sehr. Ob sie wirklich etwas erreichen mit ihrem tiefen Rumkrebsen, ist sehr die Frage. Mein Bruder war etwa zweitausend Meter hoch, der Engländer tausend. Er pürscht sich ’ran, setzt zum Sturzflug an und ist in wenigen Sekunden bei ihm. Der Engländer zog es vor, den Kampf zu vermeiden, und verschwand gleichfalls im Sturzflug in der Tiefe. Mein Bruder, nicht faul, hinterher. Ganz schnuppe, ob es drüben oder bei uns ist. Nur ein Gedanke: er muß ’runter. Das ist ja auch natürlich das richtige. Ab und zu mache ich’s auch. Aber wenn es mein Bruder bei jedem Fluge nicht mindestens einmal gemacht hat, macht ihm das ganze Unternehmen keinen Spaß. Erst ganz kurz über dem Boden kriegt er ihn wirklich gut vor und kann ihm den Laden vollschießen. Der Engländer stürzt senkrecht in die Erde. Viel bleibt nicht mehr übrig.

Nach so einem Kampfe, besonders in geringer Höhe, in dem man sich so oft gedreht und gewendet hat, mal rechtsrum und mal linksrum geflogen ist, hat der normale Sterbliche keine Ahnung mehr, wo er sich befindet. Nun war es an diesem Tage noch etwas dunstig, also ein besonders ungünstiges Wetter. Schnell hatte er sich orientiert und merkt erst jetzt, daß er doch wohl ein ganzes Ende hinter der Front ist. Er war hinter der Vimy-Höhe. Die Vimy-Höhen sind etwa hundert Meter höher als die andere Gegend. Mein Bruder war hinter diesen Vimy-Höhen verschwunden – behaupten jedenfalls die Beobachter von der Erde aus.


Dieses Nachhausefliegen, bis man seine eigene Stellung erreicht hat, gehört nicht zu den angenehmsten Gefühlen, die man sich denken kann. Man kann nichts dagegen tun, daß einen der Gegner beschießt. Nur selten treffen sie. Mein Bruder näherte sich der Linie. In so geringer Höhe kann man jeden Schuß hören, es hört sich an, wie wenn Kastanien im Feuer platzen, wenn der einzelne Infanterist schießt. Da – mit einem Male fühlte er einen Schlag, getroffen. Das war ihm klar. Er zählt zu den Menschen, die nicht ihr eignes Blut sehen können. Bei einem anderen macht es ihm keinen Eindruck; wenigstens weniger. Aber sein eigenes Blut stört ihn. Er fühlt, wie es ihm warm am rechten Bein herunterläuft, zur gleichen Zeit auch einen Schmerz in der Hüfte. Unten wird noch immer geknallt. Also ist er noch drüben. Da endlich hört es so sachte auf, und er ist über unsere Front hinüber. Nun muß er sich aber beeilen, denn seine Kräfte lassen zusehends nach. Da sieht er einen Wald, daneben eine Wiese. Also auf die Wiese zu. Die Zündung schnell herausgenommen, der Motor bleibt stehen, und in demselben Augenblick ist es alle mit seinen Kräften, die Besinnung hat ihn verlassen. Er sitzt ja nun ganz allein in seinem Flugzeug, also ein zweiter konnte ihm nicht helfen. Wie er auf die Erde hinuntergekommen ist, ist eigentlich ein Wunder. Denn von allein startet und landet kein Flugzeug. Man behauptet dies nur von einer alten Taube in Köln, die von einem Monteur zum Start zurechtgemacht ist und gerade in dem Augenblick, wie der Pilot sich hineinsetzen will, von allein losfliegt, von allein eine Kurve macht und nach fünf Minuten wieder landet. Das wollen viele Männer gesehen haben. Ich habe es nicht gesehen – aber ich bin doch fest davon überzeugt, daß es wahr ist. Mein Bruder jedenfalls hatte nicht so eine Taube, die von allein landet, aber trotzdem hatte er sich bei dem Berühren mit dem Erdboden nichts getan. Erst im Lazarett fand er die Besinnung wieder. Er wurde nach Douai transportiert.

Es ist für einen Bruder ein ganz eigenartiges Gefühl, wenn man den anderen in einen Kampf mit einem Engländer verwickelt sieht. So sah ich zum Beispiel einmal, wie Lothar hinter dem Geschwader etwas herhängt und von einem Engländer attackiert wird. Es wäre für ihn ein leichtes gewesen, den Kampf zu verweigern. Er braucht bloß in der Tiefe zu verschwinden. Aber nein, das tut er nicht! Der Gedanke kommt ihm scheinbar gar nicht. Ausreißen kennt er nicht. Zum Glück hatte ich dies beobachtet und paßte auf. Da sah ich, wie der Engländer, der über ihm war, immer auf ihn ’runterstößt und schießt. Mein Bruder versucht, seine Höhe zu erreichen, unbekümmert, ob er beschossen wird oder nicht. Da – mit einem Male überschlägt sich das Flugzeug, und die rot angestrichene Maschine stürzt senkrecht, sich um sich selbst drehend, herunter. Keine gewollte Bewegung, sondern ein regelrechter Absturz. Dieses ist für den zusehenden Bruder nicht das schönste aller Gefühle. Aber ich habe mich so sachte daran gewöhnen müssen, denn mein Bruder benutzte es als Trick. Wie er erkannt hatte, daß der Engländer ihm über war, markierte er ein Angeschossensein. Der Engländer hinterher, mein Bruder fängt sich und hat ihn im Umsehen überstiegen. Das feindliche Flugzeug konnte sich nicht so schnell wieder aufrichten und zur Besinnung kommen, da saß ihm mein Bruder im Nacken, und einige Augenblicke später schlugen die Flammen heraus. Dann ist nichts mehr zu retten, dann stürzt das Flugzeug brennend ab.

Ich habe mal auf der Erde neben einem Benzintank gestanden, wo hundert Liter auf einmal explodierten und verbrannten. Ich konnte nicht zehn Schritt daneben stehen, so heiß wurde mir. Und nun muß man sich vorstellen, daß auf wenige Zentimeter vor einem so ein Tank von vielen fünfzig Litern explodiert und der Propellerwind die ganze Glut einem ins Gesicht treibt. Ich glaube, man ist im ersten Moment schon besinnungslos, und es geht jedenfalls am schnellsten.

Aber es passieren doch ab und zu Zeichen und Wunder. So sah ich z. B. einmal ein englisches Flugzeug brennend abstürzen. Die Flammen schlugen erst in fünfhundert Metern Höhe heraus. Die Maschine stand in hellen Flammen. Wie wir nach Hause fliegen, erfahren wir, daß der eine der Insassen aus fünfzig Metern Höhe herausgesprungen ist. Es war der Beobachter. Fünfzig Meter Höhe! Man muß sich mal die Höhe überlegen. Der höchste Kirchturm, der in Berlin ist, reicht gerade heran. Man springe mal von der Spitze dieses Turmes herunter! Wie man wohl unten ankommen mag! Die meisten brächen sich’s Genick, wenn sie aus dem Hochparterre herausspringen würden. Jedenfalls, dieser brave »Franz« sprang aus seinem brennenden Flugzeug aus fünfzig Meter Höhe heraus, das bereits mindestens eine Minute gebrannt hatte, und machte sich weiter nichts als einen glatten Unterschenkelbruch. Er hat sogar, gleich nachdem ihm all dies passiert ist, noch Aussagen gemacht, also sein seelischer Zustand hatte nicht einmal gelitten.

Ein andermal schoß ich einen Engländer ab. Der Flugzeugführer hatte einen tödlichen Kopfschuß, das Flugzeug stürzte steuerlos, senkrecht, ohne sich zu fangen, aus dreitausend Metern Höhe in die Erde. Eine ganze Weile später erst kam ich im Gleitflug hinterher und sah unten weiter nichts als einen wüsten Haufen. Zu meinem Erstaunen erfuhr ich, der Beobachter habe nur einen Schädelbruch, und sein Zustand sei nicht lebensgefährlich. Glück muß eben der Mensch haben.

Wieder einmal schoß Boelcke einen Nieuport ab. Ich sah es selbst. Das Flugzeug stürzte wie ein Stein. Wir fuhren hin und fanden das Flugzeug bis zur Hälfte im Lehm vergraben. Der Insasse, ein Jagdflieger, war durch einen Bauchschuß besinnungslos und hatte sich beim Aufschlagen nur einen Arm ausgekugelt. Er ist nicht gestorben.

Andererseits habe ich es wieder erlebt, daß ein guter Freund von mir bei einer Landung mit einem Rade in ein Karnickelloch kam. Die Maschine hatte überhaupt keine Geschwindigkeit mehr und stellte sich ganz langsam auf den Kopf, überlegte sich, nach welcher Seite sie umkippen sollte, fiel auf den Rücken – und der arme Kerl hatte das Genick gebrochen.




Mein Bruder Lothar ist Leutnant bei den Vierten Dragonern, war vor dem Kriege auf Kriegsschule, wurde gleich zu Anfang Offizier und hat, gleichwie ich, den Krieg als Kavallerist begonnen. Was er da alles an Heldentaten begangen hat, ist mir unbekannt, da er nie von sich selbst spricht. Man hat mir nur folgende Geschichte erzählt: Es war im Winter 1914, sein Regiment lag an der Warthe, die Russen auf der anderen Seite. Kein Mensch wußte, rücken sie oder bleiben sie. Die Ufer waren zum Teil gefroren, so daß man schlecht durchreiten konnte. Brücken gab’s natürlich nicht, die hatten die Russen abgerissen. Da schwamm mein Bruder durch, stellte fest, wo die Russen waren, und kam zurückgeschwommen. Dieses alles im strengen russischen Winter bei soundso viel Grad minus. Seine Kleider waren nach wenigen Minuten festgefroren, und darunter, behauptete er, sei es ganz warm gewesen. So ritt er den ganzen Tag, bis er abends in sein Quartier kam. Dabei hat er sich nicht erkältet.

Im Winter 1915 ging er auf mein Drängen hin zur Fliegerei, wurde, gleichwie ich, Beobachter. Erst ein Jahr später Flugzeugführer. Die Schule als Beobachter ist gewiß nicht schlecht, gerade für einen Jagdflieger. März 1917 machte er sein drittes Examen und kam sofort zu meiner Jagdstaffel.

Er war also noch ein ganz, ganz junger und ahnungsloser Flugzeugführer, der noch an kein Looping und ähnliche Scherze dachte, sondern zufrieden war, wenn er ordentlich landen und starten konnte. Nach vierzehn Tagen nahm ich ihn zum ersten Male mit gegen den Feind und bat ihn, dicht hinter mir zu fliegen, um sich die Sache mal genau anzusehen. Nach dem dritten Fluge mit ihm sehe ich mit einem Male, wie er sich von mir trennt und sich gleichfalls auf einen Engländer stürzt und ihn erlegt. Mein Herz hüpfte vor Freude, als ich dies sah. Es war mir wieder mal ein Beweis, wie wenig das Abschießen eine Kunst ist. Es ist nur die Persönlichkeit oder, anders ausgedrückt, der Schneid des Betreffenden, der die Sache macht. Ich bin also kein Pégoud, will es auch nicht sein, sondern nur Soldat, und tue meine Pflicht.

Vier Wochen später hatte mein Bruder bereits zwanzig Engländer abgeschossen. Dies dürfte wohl einzig dastehen in der ganzen Fliegerei, daß ein Flugzeugführer vierzehn Tage nach seinem dritten Examen den ersten und vier Wochen nach dem ersten zwanzig Gegner abgeschossen hat.

Sein zweiundzwanzigster Gegner war der berühmte Captain Ball, weitaus der beste englische Flieger. Den seinerzeit ebenso bekannten Major Hawker hatte ich mir vor einigen Monaten bereits zur Brust genommen. Es machte mir besonders Freude, daß es nun mein Bruder war, der den zweiten Champion Englands erledigte. Captain Ball flog einen Dreidecker und begegnete meinem Bruder einzeln an der Front. Jeder versuchte den anderen zu fassen. Keiner gab sich eine Blöße. Es blieb bei einem kurzen Begegnen. Immer nur auf sich zufliegend. Nie glückte es dem einen, sich hinter den anderen zu setzen. Da entschlossen sich plötzlich beide in dem kurzen Augenblick des Aufeinanderzufliegens, einige wohlgezielte Schüsse abzugeben. Beide fliegen aufeinander zu. Beide schießen. Jeder hat vor sich einen Motor. Die Treffwahrscheinlichkeiten sind sehr gering, die Geschwindigkeit doppelt so groß wie normal. Eigentlich unwahrscheinlich, daß einer von beiden trifft. Mein Bruder, der etwas tiefer war, hatte dabei seine Maschine stark überzogen und überschlug sich, verlor das Gleichgewicht, und seine Maschine wurde für einige Momente steuerlos. Bald hatte er sie wieder gefangen, mußte aber feststellen, daß ihm der Gegner beide Benzintanks zerschossen hatte. Also landen! Schnell die Zündung ’raus, sonst brennt die Kiste. Der nächste Gedanke aber war: Wo bleibt mein Gegner? Im Augenblick des Überschlagens hatte er gesehen, wie sich der Gegner gleichfalls aufbäumte und überschlagen hatte. Er konnte also nicht allzu weit von ihm entfernt sein. Der Gedanke herrscht: Ist er über mir oder unter mir? Drüber war er nicht mehr, dafür aber sah er unter sich den Dreidecker sich dauernd überschlagen und noch immer tiefer stürzen. Er stürzte und stürzte, ohne sich zu fangen, bis auf den Boden. Dort zerschellte er. Es war auf unserem Gebiet. Beide Gegner hatten sich in dem kurzen Augenblick des Begegnens mit ihren starren Maschinengewehren getroffen. Meinem Bruder waren die beiden Benzintanks zerschossen, und im selben Augenblick hatte der Captain Ball einen Kopfschuß bekommen. Er trug bei sich einige Photographien und Zeitungsausschnitte seiner Heimatprovinzen, in denen er sehr angefeiert wurde. Er schien kurze Zeit zuvor noch auf Urlaub gewesen zu sein. Zu Boelckes Zeiten hatte Captain Ball sechsunddreißig deutsche Apparate vernichtet. Auch er hat einen Meister gefunden. Oder war es Zufall, daß eine Größe wie er gleichfalls den normalen Heldentod sterben mußte?

Captain Ball war ganz gewiß der Führer des Anti-Richthofen-Geschwaders, und ich glaube, der Englishman wird es nun lieber aufstecken, mich zu fangen. Das täte uns leid, denn dadurch würde uns manche schöne Gelegenheit genommen, bei der wir die Engländer gut belapsen könnten.

Wäre mein Bruder nicht am 5. Mai verwundet worden, ich glaube, er wäre nach meiner Rückkehr vom Urlaub gleichfalls mit Zweiundfünfzig auf Urlaub geschickt worden.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der rote Kampfflieger