Der lange Hinnerksen

Autor: Ueberlieferung
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Vor langen Zeiten lag unweit der Stadt Esens im ostfriesischen Harlingerland das Dorf Bense außerhalb des Norddeichs. Es bestand nur aus etwa drei bis vier Bauernhöfen, aber diese waren unermeßlich reich. Die Gutsbesitzer waren allesamt hoffärtige und frevelhafte Leute und verachteten den lieben Gott. Aber am schlimmsten von allen trieb es ein langaufgeschossener Mann, der lange Hinnerksen genannt.

Schon in seiner Jugendzeit war er der gottloseste Bursche in der ganzen Umgebung und war früh verdorben. Er sehnte sich nach etwas ganz Außerordentlichem und schloß einen Vertrag mit dem Gottseibeiuns. Vierzig Jahre mußte der Teufel ihm, und er danach dem Teufel in alle Ewigkeit dienen. Hätte es sich aber einmal getroffen, daß der Teufel eine Forderung nicht zu erfüllen vermochte, dann wäre der Vertrag null und nichtig gewesen. Der Herr nutzte seinen Diener aus, soviel er nur konnte. Einst fiel es ihm ein, eine Reise nach England zu machen, aber nicht zu Schiff, sondern vierspännig in einer feinen Kutsche. Voll Übermut sagte er zu seinem Diener: »Baue mir eine Brücke über die Nordsee, aber sie soll erst entstehen, wenn ich anfange zu fahren. Und sie soll so schnell gelegt werden, daß ich ohne Aufenthalt im Galopp lagen kann, und sofort hinter dem Wagen soll sie wieder abgebrochen werden!« Gefordert, gebaut! Der lange Hinnerksen fuhr im gestreckten Galopp über das Meer. Noch viele tolle und halsbrecherische Teufeleien führten die beiden zusammen aus, doch ließ sich der Teufel nie in seiner wahren Gestalt erblicken. Nun begab es sich einmal, daß der Bauer einen neuen Großknecht annahm, der war ein frommer Mensch und gewann das Vertrauen seines Herrn. Er mußte in jeder Nacht aufstehen und den Pferden die Krippen nachfüllen. Einst zur Mitternacht stellte sich ein Begleiter bei ihm ein, schweigend sah er dem Knechte zu, und ebenso schweigend verrichtete dieser seine Arbeit und ging kopfschüttelnd zu Bett. Von dieser Nacht an stellte sich der mitternächtliche Wandersmann regelmäßig ein, und der Knecht gewöhnte sich an ihn. Als es einst wieder Mitternacht geworden war, erwachte der Knecht von einem furchtbaren Lärm. Die Pferde hatten sich losgerissen und sprangen wild umher, doch der Knecht beruhigte sie alsbald und band sie wieder fest. Da lachte hinter ihm der unheimliche Gast höhnisch auf, und der Knecht merkte, daß der leibhaftige Satan ihn begleitete. So ging das Lärmen viele Nächte hindurch, bis der Knecht es zuletzt nicht mehr ansehen und hören mochte. Er trat eines Morgens zu seinem Herrn und sprach: »Herr, der Teufel bindet jede Nacht Eure Pferde ab und peinigt sie; wollt Ihr dem Dinge nicht ein Ende machen?« Der Bauer wußte wohl, was dies zu bedeuten habe, und bat ihn, er möge die nächtliche Fütterung einstellen. Da der Knecht aber auf seiner Pflicht bestand, so sagte der Herr zu ihm, er wolle einmal mitgehen. Bei der nächsten Gelegenheit weckte der Knecht seinen Herrn und beide gingen in den Stall zum Heuboden hinauf, und der Teufel mit ihnen. Der Bauer aber tat, als sähe er nichts. Als sie oben waren, sagte der Knecht ängstlich: »Herr, der Dritte steht hinter Euch!« »Tue deine Pflicht«, antwortete der Bauer, »ich will die meine tun! « Zog ein scharfes Messer heraus und hieb damit nach dem Kopfe des Eindringlings. Aber er traf nur den Schatten und plötzlich wurde ihm selbst sein Kopf mit einem Ruck halb umgedreht, so daß er zu Boden stürzte. Der Knecht hob den Bauern auf und führte ihn ins Haus, wo er sich jammernd und wehklagend zu verstecken suchte. Auch verbot er, etwas von der Sache zu erzählen, aber dennoch wurde es fern und nah ruchbar. Bald kam der lange Hinnerksen zu sterben, und der Teufel holte seine Seele.

Trotz dieser Warnungszeichen ließen die anderen Benser Gutsherren nicht ab von ihrem sündhaften Leben, ja sie trieben es nur noch ärger denn zuvor. In einer Nacht folgte die Strafe, als kein Mensch daran dachte. Das Meer erhob sich aus seinen Ufern und verschlang das ganze stolze Dorf. Ein mächtiges Seegatt war eingerissen, wo einst Bense stand, und bis auf den heutigen Tag hat man es nicht aufschlicken können.