Das Problem der Schuld

Wir Menschen müssen alle, um überhaupt leben zu können, manche „Schuld“ auf uns nehmen. Wir müssen zum Beispiel eine wundervolle, in sich vollendete, ursprünglich uns überlegene Tierwelt ausrotten. Wenn wir die großen Raubtiere, Löwen und Leoparden, vernichten, so gehen wir dabei sehr böse vor; wir sagen daher: das Raubtier sei böse. Wenn wir die großen Schlangen ausrotten, so verwenden wir dazu viel Hinterlist; wir sagen daher: die Schlangen seien hinterlistig.

Habe ich jemals gegen einen andern schlechte Gedanken gehegt, dann muss ich diese schlechten Gedanken eben aus der Schlechtigkeit des andern vor mir selber begründen.


Wer einmal gesprochen hat: „Gott strafe England“ oder: „Deutschland muss gedemütigt werden“, der hegt von nun an unbewusst eine Parteinahme daran, alles aufzusammeln und hoch zu bewerten, was nur irgend zweckdienlich ist, sein ungünstiges Vorurteil zu rechtfertigen. Schließlich könnte es sogar sein, daß wir ein Böses gar nicht darum hassen, weil es böse ist, sondern: das, was wir hassen und hassen müssen, nennen wir: das Böse.

Dieser Vorgang der „Verhässlichung des Verhassten“ wird noch gesteigert, wenn ein geheimes Gefühl der Sympathie übertäubt und tot gemacht werden muss. Man sieht das in solchen Fällen, wo eine Liebe oder Freundschaft in Hass und Verfolgung übergeht.

Habe ich einen Menschen sehr hoch geschätzt oder sehr geliebt und fühle mich enttäuscht und ernüchtert, so empfinde ich das Verschwinden meiner alten Gefühle in der Regel keineswegs als meine Schuld oder als meinen» Irrtum, sondern ich motiviere die Wandlung meines Gefühlslebens, indem ich sage: der andere habe sich verändert. Das ist in der Regel ein Selbstbetrug. Nicht der andere hat sich verändert, sondern meine „innere Einstellung“ ist anders geworden. Aber überall, wo der Mensch Gewissenslasten tragen und seine Taten verantworten muss, da sind auch schöne Worte und große Ideale zur Hand, in deren Namen wir auch unser Unrecht in unser gutes Recht umdeuten können 2).

Man wende nun dieses allgemeine Gesetz auf die Judenfrage an:

Dem jüdischen Volk ist zweifellos Unrecht zugefügt worden. Sein unwürdiges Dasein würde jedem der gesunden Völker, unter denen das kranke Volk fortvegetiert, zum Vorwurf geworden sein, wenn man nicht geschichtliche Formeln gehabt hätte, dank deren das am jüdischen Volke verübte Unrecht zum berechtigten Unrecht, also zum Rechte zurechtgerückt wurde. Solche sinngebende Formeln hatten die Juden wie die Nichtjuden nötig. — Wird man uns künftig vernutzen, dann wird man es begründen mit der Einsicht, daß wir die Vernutzer der anderen seien. Will man uns abdrängen und unser Lebensgefühl vermindern, dann wird man alles anführen, was Ausnahmebestimmungen und Sondergesetze berechtigt macht. Es gibt in der Geschichte kein Unrecht, das nicht nachträglich als berechtigt oder doch als notwendig erwiesen werden könnte. Wo immer eine Menschengruppe verflucht wird, ihr Kreuz zu tragen, da wird es stets heißen: „Sie hat den Heiland ans Kreuz geschlagen.“

Welcher Seelenforscher aber weiß, ob jahrhundertelanges Herabmindern von Seelen nicht auch wirklich das Wesen der Geminderten verwandelt, so daß am Ende aller Enden alles Unrecht der Geschichte wirklich zum begründbaren Unrecht, also zum Rechte wird? — Denn um Menschen in Hunde zu wandeln, braucht man nur lange genug ihnen zuzurufen: „Du Hund!“


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der jüdische Selbsthass