Einleitung: Der heutige Volksglaube in seinem allgemeinen Verhältnis zur Mythologie der Vorzeit.

Es gab eine Zeit, — und sie liegt nicht so fern, — wo man eine deutsche Mythologie nicht kannte, wo man, was sich an sogenanntem Aberglauben, Sagen, Märchen und Gebräuchen in Deutschland, besonders beim Landvolke, vorfand, meist verächtlich bei Seite schob, bis Jacob Grimm, wie auf andern Gebieten schöpferisch, so auch hier mit kundiger Hand die Zauberwelt deutschen Glaubens wieder herauf beschwor und zeigte, dass eben jene Sagen, Märchen, Gebräuche und Alles, was man gewöhnlich Aberglauben nennt, in seinen Hauptmassen die letzten Reste des alten deutschen Heidentums seien *). Ist es gleich nicht mehr jener stattliche Urwald, in dem unsere Väter Jahrhunderte lang ein zwar rohes, doch frisches Leben führten, sind gleich seine schönsten Bäume im Sturm der Zeiten entwurzelt, und statt ihrer andere aus fernen Zonen angepflanzt worden, die weithin ihre Wurzeln verbreitet und hoch ihre Häupter erhoben haben: noch immer blickt der alte Götterhain in allen deutschen Gauen als Busch und Gestrüpp zwischen durch, das zu uns spricht von vergangenen Tagen und von der Vater Träumen und Denken. Nichts kann mehr den innerlich stätigen Gang der Entwicklung des Menschengeschlechts nachweisen, als diese Tatsache. Mochte immerhin in wilderen Zeiten, wo die Gewalt fast Alles entschied, auch Gewalt dem neuen Prinzipe Raum verschaffen, um sich geltend zu machen: es bedurfte doch seiner ihm nötigen Entwicklungszeit, um sich dem Volke vollständig einzubilden, dass es das alte ganz verdrängte. Tausend Jahre ist es her, dass Karl der Große mit Feuer und Schwert das Heidentum in Norddeutschland zerbrach und Kirchen und Kapellen erbaute, und erst jetzt, nachdem während dieser ganzen Zeit das Christentum und eine neue Bildung, die mit ihm einzog in das Land, am Volke gearbeitet, erst jetzt nach tausend Jahren gibt das Heidentum, auf allen Stellen vom Geiste überwunden, seine letzten Posten dem siegreichen Christentum (2) und der neuen Zeit gegenüber auf. Erst heut verschwendet bei dem der Zahl nach größeren Teil des Volkes der letzte Glaube an die alte Geisterwelt mit ihrem wilden Jäger und ihren weißen Frauen, Nixen und Kobolden, Mährten und Drachen, Hexen und Zauberern: ein oder zwei Geschlechter vor uns musste die Bildung noch fortwährend dagegen ankämpfen. Ja noch nicht zwei Jahrhunderte ist es her, dass das im Christentum wieder aufgestandene Heidentum mit seinem Hexen- und Zauberglauben jene Verfolgungen veranlasste, die als düsteres Nachtgemälde sich in einzelnen Zügen bis in die neuesten Zeiten erstrecken.

*) Grimms deutsche Mythologie 1835 und in einer 2. Ausgabe 1845.


Freilich ist dies Haften des Heidentums erklärlich, wenn man die Verhältnisse erwägt; den verschiedenen Charakter des Heidentums und des Christentums, wie dieser besonders hervortreten musste gegenüber den Schichten des Volks, in denen jenes sich so lange erhalten, nämlich dem Landvolke. Man kann sich kaum eine Vorstellung machen, — genauere mythologische und ethnographische Studien werden dies noch immer mehr ins Licht stellen, — mit wie wunderbaren und feinen Fäden das Heidentum das ganze menschliche Treiben und Leben umfasst hielt *). Alles trat in mittelbare oder unmittelbare Beziehung zu den Wesen, die man bald sichtbar, bald unsichtbar neben sich in der Welt, besonders in der Natur, wirksam wähnte, und von denen man sich mehr oder weniger abhängig fühlte. Krieg, Jagd, Ackerbau, Viehzucht, das öffentliche und Privatleben, jedes Unternehmen, auch das kleinste, ward in Beziehung gesetzt zu ihnen **); das stets rege Wirken der Natur, den Himmel mit seinen Erscheinungen verwebte die gläubige Phantasie mit dem irdischen Treiben; der Mensch bewegte sich gleichsam in einer Zauberwelt, und wenn er gleich in dieser Weise sie sich selber geschaffen hatte, indem er sie so nur wahrzunehmen glaubte, so begleitete sie ihn doch von der Wiege bis zur Bahre; an seine Geburt sowohl, als an seine Bestattung knüpfte sich allerhand Glaube, der Gebräuche mannigfacher Art damit verbunden wissen wollte ***). In diesem Lichte erscheint mehr oder minder jede Religion in ihrem ursprünglichen, rein volkstümlichen Charakter, der weniger in großen Kulten und Festen, als im engen Anschließen an das ganze Leben sich bekundet, und diesen Charakter hatte auch noch das deutsche Heidentum im Wesentlichen bewahrt, als das Christentum es traf. Es war erst, wie man aus Allem abnimmt, auf dem Wege zu dem Glänze eines homerischen Götterhimmels, wie ihn dort unter einem frühzeitigenden Himmelsstrich schon ein Paar tausend Jahre zuvor ein regeres Leben und mit demselben ein reiches Sänger- und Priestertum geschaffen hatte, und welchem Charakter anderseits die (3) skandinavische Mythologie wohl schon wegen der längeren Dauer und des auch durch Schifffahrt entwickelten Verkehrs etwas näher gekommen war; — eine Entwicklungs-Epoche übrigens, die, was sie an Glanz aufbietet, mit der notwendigerweise eintretenden Verallgemeinerung des Charakters an Innigkeit einbüßt.

*) Wie sehr der Volksglaube dies zum Teil noch heute tut, nimmt man erst recht wahr, wenn man sieh mit dem Sammeln derartiger Sachen beschäftigt.

**) Ich erinnere nur des Beispiels halber an die vielfachen Beziehungen in den gewöhnlichsten Handlungen auf den zu- und abnehmenden Mond, wie sie auch noch besonders bei den sogenannten Sympathien hervortreten.

***) Noch heut zu Tage lässt man z. B. in der Stube der Wöchnerin das Licht nicht ausgehen, damit Niemand, wie noch die Alten auf dem Lande wissen, dem Kinde etwas antun, besonders aber die Unterirdischen, die Zwerge, es nicht stehlen können; — und wenn Jemand stirbt, öffnet man das Fenster, dass seine Seele hinausfliege.

Aber jenes Beherrschen des ganzen Lebens der Menschen von Seiten des Heidentums, von dem wir geredet, wie es sich mehr auf das Äußere erstreckte, so bekundete es sich auch in der Art, wie es bis ins Kleinste herrschte, nämlich durch Gebräuche und Gewohnheiten, die der Glaube heiligte, als etwas Äußerliches. Dem gegenüber trat nun aber das Christentum mit seiner inneren Gewalt, die sich an den inneren Menschen richtete. Es verlangte zunächst mit dem Glauben an einen Gott das Bekenntnis Christi, welcher sich für der Menschen Sündhaftigkeit und Schwäche hingegeben; dann aber nur eine durch bestimmte einfache Formen geregelte Verehrung. So trat es dem Einzelnen gegenüber und Hess somit noch viel Raum, von den Vätern ererbte und deshalb immer noch werte Vorstellungen festzuhalten. Denn, wo die Herrschaft der christlichen Kirche nun fester begründet wurde, verbannte sie zwar das Heidentum aus dem Vordergrund des großen öffentlichen Lebens, aber es blieben immerhin noch Kreise genug übrig, in denen es sich teils, wenn auch eingeschränkt, bewegen und ruhig fortbestehen, teils unter anderer Form wieder aufleben konnte. Zweierlei kam nämlich noch hinzu. Einmal brachte das Christentum, wie es überhaupt die Natur ausschloss, für vieles Wunderbare in derselben, was der Heide mit seinem Glauben in Verbindung gebracht und sich so gedeutet hatte, keine Erklärung mit; nur die Haupterscheinungen des Gewitters, der Wandel der ewigen Gestirne, ward, wenn auch nur äußerlich, mit dem christlichen Gott in Verbindung gebracht; in dieser Beziehung ward also derjenige Teil des Heidentums, welcher sich an die Natur knüpfte, nur beschränkt, nicht vollständig beseitigt. Dann aber brachten die Verkündiger der neuen Lehre selber ja neben der christlichen Vorstellung eines Gottes den Glauben an gute und böse Geister mit, Grund genug, dass heidnische Vorstellungen in Menge sich fort erhielten, ja öfters sogar ein christliches Gewand annahmen, dass z. B. was im alten Heidentum als bös aufgetreten war, auf den Teufel übertragen wurde, was als gut hingegen erschienen, in die Natur von Engel oder Heiligen überging. Wurden doch selbst die höchsten Gestalten des Christentums durch die noch immer wache Naturanschauung im Volke gleichsam zu neuen Naturgottheiten umgestaltet; ward doch, um nur etwas herauszugreifen, Petrus, der himmlische Pförtner, als der zeitweilige Ordner des Wetters angesehen *), und ihm deshalb, z. B. im Saterland bei der Ernte ein Busch Roggen stehen gelassen **); ja glaubte man doch, im Gewitter verfolge Gott selbst den Teufel, wie es der estnische Volksglaube bestimmt hinstellt ***), und wie auch Vieles im deutschen auf diese Vorstellung hinweist, so z. B. (4) die noch heut in Pommern gebräuchliche Redensart: „Nun schlag Gott den Teufel tot“, welche gleichbedeutend mit dem : „Nun schlag ein Donnerwetter darein“, auftritt. — Es blieben also, wie wir gesehen, dem Heidentum, wenn es auch aus dem öffentlichen Leben immer mehr verschwand, die mehr täglichen Himmelserscheinungen nicht mehr mit ihm in Verbindung gesetzt wurden, doch noch Anknüpfungspunkte genug in dem außerhalb desselben liegenden Leben und allerhand besonderen Naturerscheinungen. Besonders werden es aber hier außer den Hauptereignissen des Familienlebens, wie Geburt, Hochzeit und Tod, jene aus der Heidenzeit mit herübergenommenen Tätigkeiten der Jagd, des Ackerbaues, der Viehzucht, des Spinnens u. dgl. sein, an denen noch die meisten heidnischen Gebräuche und Vorstellungen gehaftet. Und wenn das Letztere schon besonders auf das Landvolk hinweist, so wird sein inniger Verkehr mit der Natur es auch in dieser Hinsicht geeignet erscheinen lassen, die darauf bezüglichen heidnischen Vorstellungen festgehalten zu haben, zumal wenn man die Einfachheit der ländlichen Verhältnisse hierbei in Anschlag bringt, so wie die Zähigkeit, mit welcher der mehr in der Natur Lebende Alles, was er ererbt und ihm somit lieb geworden ist, festzuhalten pflegt.

*) So sagt man z. B. in der Uckermark bei bunt wechselndem Wetter: „hê (d. h. Gott) is allwedder nich to hûs, Petrus is an't regêren", Kuhn und Schwarte, Norddeutsche Sagen. Leipzig 1848. Abergl. 415.
**) Das sogenannte Peterbült, vergl. Norddeutsche Sagen, Gebr. 99.
***) Grimm, Myth. I. Ausg., Anhang p. 123 Nr. 61. „Der Donner entsteht, wenn Gott dem Teufel nachsetzt, ihn erreicht und niederschmettert. Man macht während des Gewitters Tür und Fenster zu, damit der gejagte Teufel sich nicht ins Haus flüchte, und da ihn Gott immer ereilt, dieses vom Donner getroffen werde."


Aus diesen Betrachtungen aber ergibt sich für uns, die wir etwas näher auf den heutigen Volksglauben, als den Rest des alten Heidentums, eingehen wollen, gleich etwas Wichtiges. Es bestimmt sich nämlich hiernach die Beantwortung der Frage, was eigentlich vom alten Heidentum im heutigen Volksglauben übrig geblieben sei. Man kann dies, glaube ich, nicht besser bezeichnen, als wenn man es im Allgemeinen die niedere Mythologie mit ihren Gebräuchen nennt. Alles, was sich unmittelbar auf die größeren Naturerscheinungen, auf das größere öffentliche Leben bezogen, wird weggefallen sein, wenn es nicht unter anderer Form sich geborgen; festgehalten hingegen wird nur der Teil des Heidentums sein, welcher die einfachsten Tätigkeiten des Menschen, wie sie das Landvolk im großen Ganzen aus heidnischer Zeit mit herübergenommen hat, so wie das Familienleben umfasst, oder sich an das geheimnisvollere Treiben der Natur anschließt. In dieselben Kreise verwiesen wird auch scheinen, was sich sonst noch an Sagen und Gebräuchen daran reiht, obwohl noch oft bei genauerer Betrachtung diese hinübergreifen in das Gebiet, was der eigentliche Glaube aufgegeben, in die Anschauungskreise, die das Christentum und die mit demselben verbundene Bildung jenem abgerungen hat. Dies gilt von dem größeren Teile; vereinzelt erscheint dem gegenüber und in jedem Falle besonders nachzuweisen, wo das Heidnische unter christlichen Formen fortgelebt. Demnach trete ich J. Grimm, wie auch schon oben ausgesprochen, unbedingt bei, wenn er eben diesen Volksglauben zusammenhält mit den Nachrichten römischer Schriftsteller über die Hauptgötter der Deutschen und durch Vergleichung mit der verwandten nordischen Mythologie, welche sowohl ausgebildeter, als reicher überliefert worden, das Bild jener erweitert und schließlich sagt *): „In unserer heidnischen Mythologie treten Vorstellungen, deren das menschliche Herz hauptsächlich bedarf, an denen es sich aufrecht erhält, stark und rein hervor. Der höchste Gott ist ihm ein Vater, Altvater, Großvater, der Lebenden Heil und Sieg, Sterbenden Aufnahme in seiner Wohnung gewährt. Tod ist Heimgang, Rückkehr zum Vater. Dem Gott zur Seite steht die höchste Göttin als Mutter, Altmutter, Großmutter, (5) weise und weiße Ahnfrau. Der Gott ist hehr, die Göttin leuchtend von Schönheit; beide ziehen um und erscheinen im Land, er den Krieg und die Waffen, sie spinnen, weben, säen lehrend.“ Aber nicht kann ich J. Grimm beistimmen, wenn er hernach diesem entwickelteren Bilde gegenüber und den Gestalten, in denen es in dieser Weise auftritt, den heutigen Volksglauben in seiner Gesamtheit, als Entartung fasst, wenn er z. B. Myth. XXXII sagt: „Wuotan, Donar, Zio, Phol zogen die Natur übeltätiger, teuflischer Wesen an, und die Sage von ihrem feierlichen Jahresumgang gestaltete sich zu einem wilden wütenden Heer, dem das Volk mit Scheu auswich, wie es sich ehemals gedrängt hatte zu jenen Umzügen.“ Vielmehr werden wir nach dem Obigen in dem heutigen Volksglauben, wo nicht bestimmter Bezug auf das Christentum hervortritt, den alten Volksglauben selbst nur in seinen untern, mehr rohen Schichten, wenn auch etwas zusammengedrückt, wieder zu finden meinen, und wenn wir in ihm und den sich daran reihenden Sagen und Gebräuchen nun die alten Göttergestalten noch selbst wurzeln, ja aus ihm sich entwickeln sehen: so behaupte ich im Gegenteil, dass wir hier nicht die entarteten, sondern die ursprünglichen und eben deshalb auch roheren Formen derselben vor uns haben, wie z. B. gerade in Betreff der eben aus Grimms Mythologie angezogenen Stelle die folgende Untersuchung in der Vorstellung eines wilden, wütenden Heeres den ursprünglichsten Charakter der betreffenden Anschauungen darlegen wird. Denn einmal verhalten sich diese Gestalten zu dem vollendeten Bilde, welches man durch den Vergleich mit ihren nordischen Ebenbildern erhält, wie die alten volkstümlichen Gestalten der Griechen zu den durch Verkehr und Sängertum ausgebildeten homerischen, wie z. B. die Hekate des griechischen Volksglaubens zur homerischen Artemis oder der russische Hermes, mit dem man die Kinder schreckte, dass er aus dem Kamine hervorkommen würde, zu seinem homerischen Gegenbilde. Dann aber zeigen die so gewonnenen deutschen Göttergestalten durch ihr enges Anschließen an die einfachsten Lebensverhältnisse und an die Natur, welche den Menschen umgibt, eben, dass dies ihr ursprüngliches Element ist.

*) Grimms Mythologie 1844, p. XLI.

Bei genauerer Betrachtung des Stoffes von diesem Standpunkte aus, können wir überdies, trotz manches Lückenhaften, grade in diesen Kreisen die Wesen noch deutlich in ihrem Übergang von dem an eine bestimmte Naturerscheinung gebundenen Zustande in die freier und somit edler göttlicher Wesen, auf die der Mensch dann alles Gute und Schöne seiner eignen Natur häufte, verfolgen. Dieser Fortschritt vom Naturwesen zum Gott, um mich so auszudrücken, tritt besonders hervor in dem Verhältnis des Volksglaubens, welcher die Gestalten noch unmittelbar wirkend in der Natur vorstellt, zu dem sich daranschließenden Kultus, wo diese Beziehung zurücktritt, der Charakter sich verallgemeinert. Die Sagen, oder besser gesagt die Mythen, bilden die Brücke zwischen beiden; sie sind gleichsam Variationen auf den Volksglauben, sie zeigen uns die Naturmächte in dem mannigfachen Wechsel der Naturerscheinungen, denen sie angehören, tätig sowohl als leidend, und wie sich dabei endlich die Person des Gottes als etwas Bleibendes für den Kultus herausgebildet hat. Je reicher sich aber der deutsche Aberglaube selbst bis in seine kleinsten Teile vor uns entfaltet, je mehr wir ihn in den Sagen durch die verschiedenen Landschaften verfolgen können, einen (6) desto tieferen Blick werden wir grade in jenes Erwachsen des alten Heidentums aus der breiten Grundlage volkstümlicher Vorstellungen tun können, und grade in dieser Beziehung ist und wird das Studium der deutschen Mythologie fruchtbringend für die übrigen Mythologien, von denen wir gewöhnlich mehr die Hauptgestalten im Strahlenglanze einer entwickelten Zeit ohne jenen Hintergrund kennen. Wie der Raum uns aber schon in Betreff des Allgemeinen nur ein Skizzieren unserer Ansichten gestattete, so werden wir uns auch in der Ausführung beschränken müssen und können das Gesagte nur an einem Paar Hauptgestalten ausführlicher nachweisen. Da wird sie uns denn der Volksglaube zunächst meist nur des Nachts zur Geisterzeit, die daran sich reihenden Mythen werden sie uns aber noch in immer weiteren Kreisen, bei Tag und Nacht, ja das ganze Jahr hindurch tätig und in Beziehung zu den Menschen tretend, zeigen; der Kultus endlich wird, so weit noch Spuren davon vorhanden, sie nicht bloß an gewisse Erscheinungen geknüpft, sondern schon von der ursprünglichen Natur mehr gelöst und nach allen Seiten hin das Leben beherrschend aufweisen. Das Erstere wird aus der Sagenmasse noch reichhaltiger hervorblicken, während die Fäden des Letzteren mehr durch das Christentum abgerissen sind.

Ehe wir aber dazu übergehen, bleibt noch eins zu bemerken. Wenn ich nämlich im großen Ganzen eine Entartung des alten Heidentums im heutigen Volksglauben und dem, was sich daran reiht, leugne, sondern es eben in ganz anderer Weise aufgefasst zu sehen wünsche, so bleibt doch Etwas zu erwähnen, was hierher zu gehören scheint, aber nicht von unserm Volksglauben dem Christentume gegenüber ins Besondere, sondern von jeder Mythologie gilt, das ist, dass die Mythologie dem Leben der Völker gleichsam nachrückt und sich so äußerlich erneuert, wodurch auch die ganze Sagenmasse dann immer einen neuen Anstrich bekommt. Es ist zunächst das, was Grimm den historischen Niederschlag von Mythen nennt, welchen auch unser Deutschland im hohen Maße kennt, wo nämlich Mythen als Sagen von Helden wieder erzählt werden, und in diesem Falle natürlich oft in etwas modifizierter Gestalt. Dies hängt zusammen mit dem schon vorhin berührten Hervorbilden der Göttergestalten aus der Natur zu freien, göttlichen Wesen, die man dann ohne stätige Beziehung auf jene Naturkreise verehrte. So lange die Vorstellung nämlich die Gestalt nur an bestimmte Naturerscheinungen knüpfte, mussten im Glauben der Völker diese Götter als endlich, mit der Naturerscheinung entstehend und vergehend, oder wenigstens verschwindend, erscheinen. Dies war die Zeit, wo die Mythen von den Göttern entstanden, die Zeit der Göttergeschichten. Als nun aber die Gestalten, die im Glauben hafteten, sich loslösten von der Naturerscheinung, zu freien Wesen wurden, die im ewigen Glänze strahlten, — wie sich diese Entwicklung auch in der griechischen Mythologie noch nachweisen lässt, — mussten auch jene Mythen, die eigentlich zu unvollkommneren Gestalten gehörten, mit den vollkommneren nicht mehr vereinbar waren, sich von ihnen loslösen und konnten sich so an andere Gestalten ansetzen. Und wie allen Völkern berühmte Helden in einem schöneren Lichte erschienen, wie man, wenn jene es nicht schon selbst taten, ihr Geschlecht mit den Göttern(7) in Verbindung brachte, wie die homerischen Helden alle . . . . heißen, die angelsächsischen Stammtafeln alle auf Wodan zurückgehen und die Göttermutter Frigg in den Sagen noch als Ahnmutter so vieler edler Geschlechter auftritt: so ist demnach die Übertragung von alten Mythen auf Helden sehr erklärlich. Ein Name, welcher im Gedächtnis des Volkes haften geblieben, trat in der Erzählung, welche die Zeit und Entwicklung außer Verbindung mit dem Gott gebracht hatte, an die Stelle desselben, und damit änderte sich dann auch die ganze Szenerie. Dasselbe konnte sich nun öfter wiederholen. Sobald der Held vergessen ist, und ein anderer im Bewusstsein des Volkes sich in den Vordergrund drängt, tritt dieser an seine Stelle, und die Sage rückt wieder in eine näher liegende Zeit und bekommt wieder einen neuen Rahmen, gerade wie in städtischen Verhältnissen gewisse volkstümliche Anekdoten mit jeder Generation auf neue Persönlichkeiten übertragen werden. Dies Gesetz gilt in der umfassendsten Weise auch von den Resten unseres Heidentums und dadurch bekommen sie oft einen neueren Anstrich; es betrifft aber meist nur den Namen der handelnden Personen und die Szenerie der Erzählung, weniger den Inhalt der Sage oder des Mythos. Ein Beispiel wird dies vollständig ins Klare setzen, und zwar wähle ich dazu eine mehr historische Sage aus unserer Nähe, wo man dies Fortrücken recht deutlich wahrnehmen kann. „Bei Pichelsdorf zieht sich nämlich eine Landzunge ziemlich weit in den See, welchen die Havel dort bildet, die man „den Sack“ nennt. Dorthin soll einst Jemand, der in der Nähe eine Schlacht geschlagen, auf der Flucht geraten sein, und seine Verfolger schon triumphierend ausgerufen haben: „Nun haben wir ihn im Sack“, woher auch dies Stück Landes noch heut „der Sack“ heißt. „Er aber“, wird weiter erzählt, „gab seinem Pferd die Sporen und stürzte sich mit ihm in den See, und wo er am anderen Ufer glücklich landete, hängte er zum ewigen Andenken an den gefahrvollen Ritt Schild und Horn an einer Eiche auf, und die Stelle nennt man noch heut das Schildhorn. *)“ Soweit im Allgemeinen die Sage. Gewöhnlich meint man nun, es sei Jazco von Köpenick gewesen, der von Albrecht dem Bären bei Spandow geschlagen, hier durch die Havel gesetzt, und, nachdem er zuvor gleichsam zum Versuch den Gott der Christen angerufen, Christ geworden sei. In Pichelsdorf selbst erzählen ältere Leute es vom großen Kurfürsten **), jüngere, denen dieser schon anfängt zu fern zu liegen, vom alten Fritz ***). Es ist gleichgültig für uns, ob, was Einige bezweifeln, es wirklich Jazco von Köpenick gewesen: der Schild wenigstens beweist, dass es weder der große Kurfürst, noch der alte Fritz gewesen. Man sieht aber an diesem Beispiele deutlich, wie im Volke derartige Sagen übertragen werden, und ermisst, wie damit sich auch das, was wir vorhin die Szenerie der Sage nannten, ändern kann, denn auch in unserer Sage würde beim alten Fritz z. B. der Schild wohl nicht haften geblieben, sondern Anderes an seine Stelle getreten sein, vielleicht gar sein Krückstock, wenn nicht der Name der Landzunge „das Schildhorn“ jenes bewirkt hätte.

*) Kuhn, Märkische Sagen, Berlin 1843, S. 126.

**) Ist an der unter Anm. 1. angeführten Stelle hinzuzufügen, wo es nur im Allgemeinen heißt : „Zu den Zeiten des 30jährigen Krieges u. s. w."

***) Neuerdings hörte ich sogar Versionen, welche als den kühnen Schwimmer Gustav Adolph bezeichneten oder, offenbar in Anlehnung an den Namen des Orts, ihn General Schild nannten, wie ich dies schon in meinem Buche über den Ursprung der Mythologie. Berlin 1860, p. 25 erwähnt habe.


Hiernach kann es nicht auffallen, wenn wir bei den nach den Landschaften so verschiedenen Variationen der Sagenkreise dasselbe bald von einem göttlichen Wesen, bald von einem älteren oder jüngeren Helden erzählen hören; es ist das keine durch das Christentum bewirkte Entartung, sondern nach einem in den Mythologien und dem Volksbewusstsein begründeten Entwicklungsprozess geschehen.
Frau Goda

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Freyja

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Freyr

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Frigg, die Göttermutter

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Frühlingsumritt des Hobbyhorse in England. Maigraf

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Holda im Kinderbrunnen

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Holda

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Hrungnirs Tod

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Jungbrunnen

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Odhins Wölfe und Raben

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Perchta und die Heimchen

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Schicksalsgöttinnen, Nornen

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Wodan jagd die Wolkenfrau

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Wodan, schlafende Fürsten und Heere im Berge

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Wodan, Sturmlied des wütenden Heeres

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Wodans wilde Jagd

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