Kapitel 03 - Die Pest im Vintschgau.

Der Diener Emil brachte den Kaffee, und nachdem jeder seine Tasse ausgetrunken hatte, sagte Borsati: „Wenn ich im Geist zurückschaue, fällt mir ja dies und jenes auf, was des Berichtens wert wäre, aber wo ich selbst beteiligt bin, stört mich die Nähe, und wo es nicht der Fall ist, bin ich ungewiß, ob ich überzeugend oder wahr sein kann.“

„Wir sind nicht einmal wahr, wenn wir Vorfälle aus unserm eigenen Leben erzählen, um wie viel weniger, wenn es sich um fremde Erlebnisse handelt“, erwiderte Lamberg. „Ja, man lügt mehr, wenn man über sich selbst die Wahrheit sagt, als wenn man andere in erfundene Geschicke stellt.“


„Wir wollen Sachlichkeiten und keine Sentiments“, versetzte Cajetan mißbilligend. „Jeder ist dann so wahr, wie seine Augen oder sein Gedächtnis wahr sind. Ich bin nicht größer als mein Wuchs. Wer sich größer macht, wird ausgezischt. Die Welt ist vom Grund bis zum Rand erfüllt mit den seltsamsten Begebenheiten, und die seltsamste wird wahr, wenn man ein Gesicht sieht, ein lebendiges Gesicht.“

„Famos. Ich will möglichst viel schöne Gesichter sehn“, sagte Franziska und nahm eine Miene des Bereitseins an.

„Jedes Gesicht ist schön im Erleiden des besondern Schicksals, zu dem sein Träger bestimmt ist“, entgegnete Lamberg.

„Darf ich etwas Ketzerisches sagen?“ begann Franziska wieder; „ich finde, daß der Sinn für die Schönheit immer geringer wird; man sucht stets noch etwas Anderes daneben, Seele oder Geist oder Genie, etwas, das mit der Schönheit gar nichts zu schaffen hat und einem nur den Geschmack verdirbt.“

„Es scheint in der Tat, daß man in früheren Zeiten die Schönheit mehr um ihrer selbst willen geachtet hat“, antwortete Lamberg. „Auch wurde ihr eine höhere Wichtigkeit zuerkannt. So wird von einer vornehmen Marquise berichtet, deren Name mir entfallen ist, und die im Alter von siebenundzwanzig Jahren an der Schwindsucht starb, daß sie die letzten Monate ihres Lebens auf einem Ruhebett zubrachte und beständig einen Spiegel in der Hand hielt, um die Verwüstungen zu beobachten, die die Krankheit in ihrem Gesicht erzeugte. Schließlich ließ sie die Fenster dicht verhängen, kein Mensch durfte mehr zu ihr, und sie duldete kein anderes Licht als die Lampe eines Teekessels.“

„Sogar das Volk besaß einen echten Enthusiasmus für die Schönheit hochgestellter Frauen“, sagte Cajetan. „Im Jahre 1750 verdiente sich ein Londoner Schuster eine Menge Geld dadurch, daß er für einen Penny den Schuh sehen ließ, den er für die Herzogin von Hamilton verfertigt hatte. Und als dieselbe Herzogin auf ihre Güter reiste, blieben vor einem Wirtshaus in Yorkshire, wo sie wohnte, mehrere hundert Menschen die ganze Nacht über auf der Straße, um sie am nächsten Morgen in ihre Karosse steigen zu sehen und die besten Plätze dabei zu haben.“

„Demgemäß äußerte sich dann auch die Verliebtheit der Männer“, nahm Georg Vinzenz abermals das Wort; „ein Jüngling in einer burgundischen Stadt war von der Schönheit seiner Geliebten so hingerissen, daß er nach dem ersten Stelldichein, das sie ihm bewilligt hatte, in allem Ernst erklärte, er werde sich die Augen ausstechen, wie es die Pilger von Mekka bisweilen tun, wenn sie das Grabmal des Propheten gesehen haben, um ihre Blicke von nun ab vor Entweihung zu schützen.“

„Das muß ein Bramarbas gewesen sein“, behauptete Borsati; „ich glaube ihm nicht eine Silbe.“

„Warum?“ versetzte Cajetan. „Wir können uns kaum eine Vorstellung von der Energie und Glut machen, mit denen man sich damals einer Leidenschaft hingab.“

Borsati zuckte die Achseln. „Mag sein, daß er’s getan hätte“, sagte er, „was wir erdenken können, kann auch geschehn. Ich wehre mich nur dagegen, daß man aus unserer Zeit die großen Empfindungen hinausredet, um eine nur durch die Ferne reizvolle Vergangenheit mit ihnen zu schmücken. Allerdings sehen die Leidenschaften, deren Zeugen wir selbst werden, anders aus als die mit dem Galeriestaub der Überlieferung, und ihre Verfeinerung oder Verdünnung auf der einen Seite bedingt meist ein finsteres und brutales Gegenspiel.“

Zum Beweis erzählte er folgende Geschichte.

„Vor zwei Jahren war ich auf einem mährischen Gut zu Gast. Man kannte mich in der nahgelegenen Stadt, und weil der ansässige Arzt über Land gefahren war, wurde ich eines Abends, ziemlich spät, in das Wirtshaus gerufen, wo ein junger Mann lag, der sich durch einen Pistolenschuß in die Lunge tödlich verletzt hatte. Der Fall war hoffnungslos, Linderung der Schmerzen war alles, was zu tun übrig blieb. Am folgenden Morgen saß ich lange an seinem Bett, er hatte Vertrauen zu mir gefaßt und enthüllte mir, was ihn zu der Tat getrieben. Er war Student, fünfundzwanzig Jahre alt, Sohn vermögender Eltern. Bis zu seinem einundzwanzigsten Jahr hatte er, ich gebrauche seine eigenen Worte, gelebt wie ein Tier; leichtsinnig, verschwenderisch und in gewissenloser Verprassung von Zeit und Kräften. Sein Gemüt, ursprünglich zarter Regungen durchaus fähig, war verhärtet und abgerieben durch den beständigen Umgang mit Dirnen. Die Atmosphäre gemeiner Kneipen war ihm Bedürfnis und die Zudringlichkeit käuflicher Weiber Gewohnheit geworden. Er wußte kaum, wie anständige Frauen sprechen, und in unreifer Überhebung sah er in diesem Treiben die Krone der Freiheit. Da geschah es, daß er auf einer Ferienreise in ein vielbesuchtes Hotel kam und auf dem Schreibtisch seines Zimmers einen Brief fand, der unter Löschblättern lag, unvollendet und sicher dort vergessen worden war. Er gab mir den Brief zu lesen, den er wie einen Talisman von der Stunde ab immer bei sich getragen, der sein Leben verändert und zuletzt noch seinen Tod verschuldet hatte. Wie der Inhalt zu schließen erlaubte, war das Schreiben von einem jungen Mädchen und an einen Freund gerichtet. Man kann sich etwas Ergreifenderes nicht denken. Furcht vor Armut und Schande, vor völliger Verlassenheit, Beteuerung vergeblicher Anstrengungen, Züge menschlicher Habsucht, Härte und Niedertracht, entdeckt von einem Wesen, das gläubig war und das noch immer, obwohl mit schwindendem Gefühl, auf eine wohlmeinende Vorsehung baute, das war der Text in dürren Worten, die nichts von der tiefen und natürlichen Beredsamkeit eines verzweifelnden Herzens ahnen lassen. Die Frage nach der Unbekannten war umsonst, sie war nicht einmal gemeldet worden, die Bediensteten des Hauses konnten ihm keinerlei Auskunft geben und wiesen auf den großen Verkehr nächtigender Gäste hin. Anhaltspunkte über Namen und Wohnort enthielt der Brief nicht, und dem jungen Mann war zumut, als hätte er eine Stimme von einem unerreichbaren Stern vernommen. Es ergriff ihn eine brennende Unruhe, und durch Sehnsucht wurde er geradezu entnervt. Daß der Brief zu ihm gelangt war, erschien ihm als Fügung und Aufforderung zugleich; daß es eine Frau in der Welt gab, die so beschaffen war, so zu empfinden, so zu leiden vermochte, war ihm neu und erschütterte die Fundamente seines Lebens. Er studierte den Brief wie ein Egyptolog einen Papyrus, suchte Hindeutungen auf einen bestimmten Dialekt, auf eine bestimmte Sphäre der Existenz. Jede Silbe, jeder Federzug wurde ihm allmählich so vertraut, daß sich ein Charakterbild der Schreiberin immer fester gestaltete, daß er ein Antlitz sah, die Geberde, das Auge, daß er die Stimme zu hören glaubte, eine Stimme, die ihn ohne Unterlaß rief. Er reiste von einer Stadt in die andere, wanderte tagelang durch Straßen, um Gesichter von Frauen und Mädchen zu finden, die dem erträumten Gesicht der Unbekannten ähnlich sein konnten, ging zu Wahrsagerinnen und Kartenlegerinnen, veröffentlichte Inserate in den Zeitungen und entfremdete sich seinen Freunden, seinen Eltern, seiner Heimat, seinem Beruf. In fatalistischem Wahn sagte er sich: unter den Millionen, die diesen Teil der Erde bevölkern, lebt sie; es ist meine Bestimmung, sie zu treffen; warum sollte ich nicht, wenn ich alle meine Sinne in der Begierde sammle? Unter den Tausenden, an denen ich täglich vorübergehe, weiß vielleicht einer von ihr; mein Wille muß so stark, mein Gefühl so elementar, mein Instinkt so untrüglich werden, daß ich den einen spüre und mir durch die Millionen einen Weg zu ihr bahne; mißlingt es, so bin ich ein Zwitterding und nicht wert, geboren zu sein. Im Verlauf der Jahre wurde er schwermütig, auch ermattete wohl das Ungestüm seines Verlangens; es läßt sich ja denken, daß sich die Natur einer so beständigen Anspannung der Seelenkräfte widersetzt. Nur sein Wandertrieb wurde nicht geringer, und so kam er denn auf einer Fahrt vom Norden her in jenen mährischen Ort, wo er den Zug verließ, weil ihm plötzlich vor der abendlichen Ankunft in der großen Stadt, vielem Licht, vielem Lärm und vielen Menschen graute. Während er traurig und müde durch die dunklen Gassen schlich, gewahrte er am Fenster eines ziemlich abgelegenen Hauses ein altes Weib, das den Sims belagert hielt und ihn einzutreten bat. Er folgte willenlos und ohne Bedacht, als sei er an dem Punkt seines Lebenskreises angelangt, von dem er einst ausgegangen. In der Stube sah er sich einigen Mädchen gegenüber, denen er ohne Anteil beim Wein Gesellschaft leistete, und unter denen eine durch stumme Lockung ihn seiner Apathie zu entreißen vermochte, so daß er mit ihr ging. Es war alles so still in mir, sagte er, und als ich die elende Treppe hinaufstieg, war es, wie wenn dies nur eine Sinnestäuschung sei und ich in Wirklichkeit hinuntergezogen würde, immer tiefer bis ans letzte Ende der Welt. Als er das Mädchen bezahlen wollte, entfiel seiner Ledertasche der Brief; ein totes Ding, das leben und sprechen wollte, das den Augenblick der Entscheidung abgewartet hatte wie ein geheimnisvoller Richter. Das Mädchen bückt sich, nimmt den Brief in die Hand, wirft einen neugierigen Blick darauf, stutzt, wiederholt den Blick, schaut den jungen Mann an, eine Frage drängt sich auf ihre Lippen, ein Schatten auf ihre Stirn, er will ihr den Brief entreißen, da erweckt ihr Benehmen seine Aufmerksamkeit, er wird gleichsam wach, erkundigt sich in überstürzten Worten, ob sie die Schrift kenne, sie entfaltet das Papier, liest, Erinnerung überzittert ihre Stirn, durch Schminke, Elend und den Aufputz des Lasters hindurch zuckt eine Flamme von Bewußtsein, sie stürzt auf die Kniee, lachend ringt sie die Arme, und die ganze Unwiederbringlichkeit eines reinen Daseins schreit aus einem zertrümmerten und verfaulten als Gelächter empor. Nur noch vier Worte: Du bist’s? Ich bin’s! Dann eilte der junge Mensch hinweg und kurz darauf fiel der tötende Schuß.“

Die Zuhörer blickten vor sich nieder. Nach einer Weile sagte Cajetan: „Schade, daß ich den Brief auf Treu und Glauben hinnehmen muß. Könnt’ ich ihn lesen oder hören, so würde mir der junge Mensch verständlicher werden. Es hat sein Mißliches, lieber Rudolf, bei so wichtigen Dokumenten auf den Kredit zu bauen, den man genießt. Freilich bleibt ja die Verkettung der Umstände noch immer erstaunlich genug –“

„Es will mir nur nicht in den Sinn“, unterbrach ihn Franziska, „daß eine Person, die einen derartigen Brief zu schreiben imstande ist, in drei oder vier Jahren so tief sinken kann.“

„Drei oder vier Jahre Not?“ rief Hadwiger. „Das verwandelt, Franzi, das verwandelt! Ich habe in London eine Frau gekannt, die ihren Mann, ihre Söhne und ihren Reichtum verloren hatte. Zu Anfang eines Jahres hatte sie in einem der Paläste am Trafalgar-Square gewohnt, im Herbst desselben Jahres wurde sie in einer unterirdischen Morphiumhöhle, einer schauerlichen Katakombe des Lasters, erstochen.“

„Ja, was ist dann das, was man Charakter nennt?“ fragte Franziska kopfschüttelnd.

„Die Tugend der Ungeprüften“, versetzte Hadwiger schroff.

„Nun, so in Bausch und Bogen möcht ich diesen Ausspruch doch nicht gelten lassen“, fiel Borsati vermittelnd ein. „Es gibt –“

„Was? Eine Tugend? Gibt es eine Tugend, wenn man hungert? In den großen Städten nicht. In den Romanen vielleicht. Not bricht Eisen, heißt es. Aber sie bricht auch, und viel bälder noch, das Herz und den Verstand.“

„Und doch gibt es Seelen, die sich bewahren“, sagte Borsati ruhig. „Und es muß sie geben, sonst würde ja die Idee der Sittlichkeit zur Lüge.“

Plötzlich erschallte aus dem oberen Stockwerk ein kreischendes Geschrei, dem ein Gepolter wie von umstürzenden Stühlen und das dumpfe Brummen einer Männerstimme folgte. „Quäcola verübt Unfug“, sagte Lamberg lächelnd und erhob sich, um der Ursache des Lärms nachzuforschen. Cajetan begleitete ihn aufregungslustig.

Dem Affen war es zur Nachtruhe zu früh gewesen, und da er die Tür seines Käfigs unversperrt fand, hatte er sich ins erleuchtete Badezimmer begeben, war in die Wanne gestiegen, hatte den Hahn geöffnet und zu seinem Entsetzen eine Wasserflut auf den Pelz bekommen. Emil eilte mit dem Besen herbei, um ihn zu züchtigen, Quäcola war triefend und zitternd vor ihm geflohen, und nun standen Tier und Mensch einander gegenüber, jenes zähnefletschend und schuldbewußt, die Backen in possierlicher Schnellbewegung, dieser mit der Würde des gekränkten Hausgeistes, rachsüchtig und entschlossen. Als Lamberg auf den Plan trat, wandte sich der Schimpanse mit höchst entrüsteten und den Diener anklagenden Gebärden zu ihm, Emil jedoch gab seinem Unwillen durch Worte Ausdruck. „Gnädiger Herr, mit der Bestie ist nicht zu wirtschaften“, sagte er. – „Sie müssen ihn belehren und erziehen“, antwortete Lamberg gefaßt. – „Da ist Hopfen und Malz verloren, so lang ihn der gnädige Herr so verwöhnen“, war die Entgegnung. „’s ist ein falscher, treuloser Geselle, das ist er, ich verstehe mich auf –“ Schon wollte er sagen: auf Menschen, verschluckte aber die unpassende Bezeichnung und starrte melancholisch auf seinen Besen.

Lamberg schlichtete den Streit. Er überredete Quäcola, dem Diener die Hand zu reichen, der aber wich zurück wie ein Offizier, dem man das Ansinnen stellt, mit seinem Degen eine Maus aufzuspießen. Heftig gestikulierend ließ sich der Schimpanse in den Käfig führen; er wurde mit Leintüchern trocken gerieben, und nach einer Viertelstunde war Frieden. Cajetan hatte sich über die Szene sehr ergötzt, und Georg gab, als sie zu den andern zurückgekehrt waren, eine so vortrefflich nachahmende Schilderung von dem Benehmen des Tieres, daß alle in lautes Gelächter ausbrachen.

„Nicht immer spielen Affen eine so heitere Rolle“, sagte Lamberg schließlich. „Das Volk scheint sie sogar als verderbliche Dämonen zu betrachten. Ich lebte einmal einige Sommerwochen auf der Malser Heide, und ein junger Förster, mit dem ich häufig im Gebirg wanderte, erzählte mir die Geschichte eines Liebespaares aus jener Gegend, bei der ein Affe zur Verkörperung des Fatums wurde.“

„Laß hören“, rief Franziska, und Lamberg begann:

Im Anfang des siebzehnten Jahrhunderts war der Vintschgau ein nicht viel einsameres und karger bevölkertes Tal als heute. Die begrenzenden Bergwände sind steil und waldlos; durch die zahlreichen Seitentäler blicken hochgetürmte Gipfel: Mut- und Rötelspitze, Texel, Schwarz- und Trübwand, Lodner und Tschigat und der majestätische Laaser Stock. Braunes und gelbes Felsgestein ist allenthalben emporgezackt, auf den Hangwiesen leuchten die Blumensterne alpiner Flora, schwarze Ziegen grasen bis hoch hinauf in den Mulden, schmalhüftige Rinder brüllen über die ganze Weite der Senkung einander zu, gischtweiße Wasserfälle donnern in die Etsch, das aufgerissene Dunkel langer Engpässe und gewundener Schluchten läßt im Innern der Gebirge tiefere Abgeschiedenheit ahnen, und auf dem zerklüfteten Gestein sieht man von Meile zu Meile uralte Schlösser. Der Sommer bringt den Mandelbaum und die Edelkastanie zum Blühen, und bis zu der Stelle, wo das Schlandernauntal mündet, schlingt sich die Weinrebe um die schwärzlichen Moränen. Aber der Winter ist selbst im untern Tal hart; es heißt, daß die krankhafte Langeweile vom Oktober bis zum April fast alle Regierungsbeamten zu Morphinisten macht. Die Poststraße von Finstermünz übers Stilfser Joch ist acht Monate hindurch verschneit; nur nach Meran führt ein bequemer Weg, aber dort wohnt leichtes Volk, das viel lacht und wenig denkt. Im Vintschgau denkt man viel; seine Menschen sind hager, schweigsam, wachsam und seit dreihundert Jahren in ihrem Wesen kaum verwandelt.

Man sollte glauben, daß Jugend und Schönheit nicht von Belang sind in einer Welt, wo die herrische Natur während der längsten Dauer des Jahres ihre Geschöpfe in so strenger Zucht bindet. Trotzdem hat sich bis heute die Nachricht von einer leidenschaftlichen Begebenheit erhalten, vielleicht der außerordentlichen Umstände wegen, die damit verknüpft waren. Die Geschichte spielt zwischen den feindlichen Familien Ladurner und Tappeiner, die bei Schlanders in zwei Dörfern rechts und links der Etsch wohnten, die Ladurner in Goldrein, unterhalb Kastell Schanz und Schloß Annaberg, die Tappeiner in Morter an der Mündung des reißenden Plimabachs. Die Zwietracht bestand schon seit mehreren Geschlechtern und niemand kannte die Ursache; einige sagten, eine böswillig zerstörte Brücke sei der Anlaß gewesen, andere behaupteten, Uneinigkeiten über Jagdbefugnisse. Ich will mich nicht dabei aufhalten, jedenfalls war es der richtige scheele, eiserne Bauernhaß, wo Blut gegen Blut steht.

Man hat oft erfahren, auch die Dichtung bezeugt es, daß gerade die überlieferte Feindseligkeit zwischen nah beieinanderwohnenden Familien plötzlich und in natürlichem Widerpart gegen eingefleischte schlechte Instinkte einen Bund zweier Herzen hervorbringt und das Element der Liebe sich gegen das des Hasses stellt. Und wenn hier die Lösung der Geschehnisse den Hassern aus der Hand gerissen wurde, geschah es nicht, weil die Liebe stärker war, sondern weil eine allgemeine Vernichtung den Untergang der Liebenden begleitete.

Am Pfingstsonntag des Jahres 1614 hatte auf dem Marktplatz in Schlanders eine Truppe von Gauklern ihr Zelt aufgeschlagen. Es waren Italiener, die einen Taschenspieler, einen Seiltänzer, einen Wunderdoktor, einen Athleten und vor allem eine Gorilla-Äffin bei sich hatten. Diese Äffin erregte teils Neugier, teils Furcht, da sie ungeachtet ihrer Menschenähnlichkeit in Gebärden und Verrichtungen doch eine unsägliche Wildheit merken ließ. Jene Leute selbst waren des Tieres, das sie erst vor kurzem von maurischen Kaufleuten in Venedig erhandelt hatten, noch keineswegs sicher und legten es bei Nacht in Ketten.

Im Gedränge um den abgesteckten Platz waren drei Ladurnerburschen und der junge Franz Tappeiner, der sich in Gesellschaft einiger Kameraden aus Morter befand, aneinandergeraten, und es sah aus, als ob es nicht bei drohenden Mienen und Augenblitzen sein Bewenden haben sollte, als die junge Romild Ladurner ihrem Vetter die Hand auf den Arm legte und zum Frieden mahnte. Als Franz Tappeiner das Mädchen gewahrte, das feste Schultern und Zähne wie ein junger Hund hatte, trat er einen Schritt auf sie zu, denn er hatte sie vorher nie gesehen, und ihre Erscheinung rief auf seinem frischen Gesicht ein unendliches Erstaunen hervor. Sie hielt seinem Betrachten stand, und ihre Augen blickten starr wie die des Adlers, bis sie der Vetter, der Unheil witterte, bei der Hand packte und hinwegzog. Der junge Tappeiner drängte den Ladurnern nach, indem er sich wie ein Schwimmer durch die Menge arbeitete, und als er hinter Romild wieder an dem Strick angelangt war, der die Zuschauer von dem fahrenden Volk trennte, produzierte sich gerade die Gorilla-Äffin im Gewand eines vornehmen Fräuleins, wandelte knixend auf und ab und wehte mit einem florentinischen Fächer ihrem haarigen Gesicht Kühlung zu.

Die Bauern kicherten und grinsten vor Verwunderung. Auf einmal hielt die Äffin inne, ließ die glühend unruhigen Augen über die versammelten Köpfe schweifen, und in ihren Mienen war die diabolisch freche Überlegenheit eines Wesens, das, einer Riesenkraft bewußt, es dennoch vorzieht, sich in spielerischer Tücke zu verstellen. Da blieben ihre Blicke auf dem Antlitz der jungen Romild haften; das zarte Menschengebild schien es ihr anzutun, sie fletschte in grauenhafter Zärtlichkeit die Zähne, verließ mit einem Sprung das Podium, wobei der seidene Rock an einem Nagel hängen blieb und zerfetzt wurde, und streckte den überlangen Arm aus, um das Mädchen zu betasten. Mit einem einzigen Schreckensschrei wich die ganze Menschenmasse zurück, nur Romild verharrte wie eingewurzelt auf der Stelle; in derselben Sekunde griff eine Faust nach dem Handgelenk des Gorilla; es war Franz Tappeiner, der trotz seiner knabenhaften Jugend als ein Mensch von großer Stärke galt und den knöchern-schmächtigen Arm des furchtbaren Tieres leichterdings meistern zu können glaubte. Aber sogleich spürte er den eigenen Arm so gewaltig umklammert, daß er stöhnend in die Kniee brach. Im Nu war ein leerer Raum um ihn und Romild entstanden, den die Äffin durch heiser bellende Schreie vergrößerte, und Männer und Weiber begannen in fast lautlosem Gewühl zu fliehen. Die bestürzten Gaukler, die sich um ihren Verdienst gebracht sahen, liefen beschwörend hinterdrein, nur der Seiltänzer hatte Geistesgegenwart genug, den dicken Strick, der unter den Röcken der Äffin am Knöchel eines Fußes befestigt war, zu packen und um einen Pflock zu schlingen. Aus einem Fensterchen des Reisewagens der Bande schaute das bleiche Gesicht eines jungen kranken Frauenzimmers in die heillose Verwirrung. Wahrscheinlich kannte sie ein beeinflussendes Zeichen, denn kaum hatte sie den Mund zum Ruf geöffnet, so drehte sich das Gorillaweib um, trottete wie ein gescholtener Hund auf die Estrade zurück, kauerte mit gekreuzten Beinen nieder und stierte, die Kinnladen leer bewegend, in boshafter Nachdenklichkeit am Firstkranz der Häuser empor. Indessen ging der Wunderdoktor auf Franz zu, hieß ihn den Rock ausziehen, wusch das Blut von der Wunde, die sich oberhalb des Ellenbogens zeigte und schmierte eine nach Honig riechende Salbe darauf. Romild war verschwunden. Das heftige Durcheinander-Reden seiner Begleiter, die sich wieder zu ihm gefunden hatten, hörte Franz kaum, sondern wartete nur auf eine Gelegenheit, um sich ihrer zu entledigen. Doch mußte er sich gedulden, bis die Dunkelheit angebrochen war, dann eilte er wie fliehend an Gärten und Schänken vorüber, wo überall an rasch gezimmerten Tischen und Bänken die Vintschgauer beim Wein saßen und das aufregende Ereignis beredeten. Die Goldreiner Leute waren gewöhnlich im Postwirtshaus, und wie er dort am Tor stand und in die fackelbeleuchtete Halle spähte, fiel ein Schatten über ihn, und aufschauend sah er Romild neben sich. Das glitzernde Augenpaar eines alten Bauern von der Ladurner Sippe verfolgte die Beiden in blödem Entsetzen, als sie schweigend den Torweg verließen und im Abend, rätselhaft gesellt, verschwanden.

Sie gingen am Hang der schwarzgeballten Berge talabwärts, Romilds Dorf entgegen; sie hatten die gleiche Empfindung von Gefahr, und als sich zur Linken eine Schlucht öffnete, folgten sie ohne gegenseitige Verständigung einwillig dem wirbelnden Bach nach oben. In der Höhe hellte sich die Nacht, in der Tiefe versank die Etsch als schimmerndes Band, und das Firmament wehte wie eine bestickte Fahne über ihren Köpfen. Anrückende Felsen machten den Uferpfad ungangbar, und sie schlugen die Richtung nach einem kleinen Joch ein, wo das Kirchlein von St. Martin am Kofl stand. Vor der Kapelle ließen sie sich nieder und beteten, darnach küßten sie einander und nannten sich zum erstenmal bei Namen. Statt ins Dorf zurück, marschierten sie tiefer ins Gebirge hinein, um sich ein Hochzeitslager zu suchen, und Romilds stolzer Gang und die gerade Haupthaltung, die bei den Mädchen dieser Gegend vom Tragen schwerer Wassergefäße herrührt, verwandelten sich in frauenhafte Lässigkeit und lauschendes Anschmiegen. Als die bläulichen Ferner des Angelusgletschers über dem Tannen- und Felsendunkel aufrückten, ward ihnen fast heimatfremd zumute, und sie schlossen ihre Augen einer Welt, die so berückend und traumhaft sein wollte, wie sie selbst einander waren.

Die am Morgen aus dem Tal herauftönenden Kirchenglocken trieben sie zur Flucht vom Lager, und sie kamen zu einer Sennhütte, wo sie Milch und Brot empfingen. Dann wanderten sie weiter, und mittags und abends stillten sie den Hunger von dem Vorrat, den ihnen der Senner gegeben, und den sie an den folgenden Tagen erneuerten. Wenn die Nacht kam, glaubten sie Himmel und Sonne nur einen Augenblick gesehen zu haben, weil ihnen die Finsternis erwünscht und natürlich war. So lebten sie, ich weiß nicht wie lange, gleich verirrten Kindern, völlig ineinander geschmiedet, ohne Erinnerung an Vergangenes, ohne Erwägung der Zukunft, leidenschaftlich in Trotz und Furcht, denn die Angst vor dem, was sie bei den Menschen erwartete, hielt sie in der Einsamkeit fest. Eines Tages nun kam ein Hirt auf sie zu, der sie schon von weitem mit Verwunderung betrachtet hatte. Er erkannte sie, stand scheu vor ihnen und machte ein böses Gesicht. Sie fragten ihn, was sich drunten im Gau ereignet habe, und er erzählte, daß die Goldreiner schon am Pfingstmontag über den Fluß gegangen seien, um die in Morter wegen der entführten Jungfrau zur Rechenschaft zu ziehen. Die aber hätten die Beschuldigung zurückgewiesen und im Gegenteil die andern verklagt, daß sie an dem jungen Tappeiner sich vergangen hätten. Die Redeschlacht habe so lange gedauert, bis die von Morter zu Hirschfängern und Flinten gegriffen, um die Eindringlinge zu verjagen. Am nächsten Tag sei das Gerücht gegangen und wurde bald Gewißheit, daß zu Schlanders die Pest ausgebrochen sei; der Affe, den die welschen Gaukler mit sich geführt, habe die Krankheit eingeschleppt. Ein großes Sterben habe begonnen; von feindlichen Unternehmungen zwischen beiden Dörfern sei nicht mehr die Rede, und man glaube, die Äffin habe die beiden jungen Leute auf geheimnisvolle Weise verhext. „Folgt meinem Rat“, so schloß der Alte, „und geht hinunter zu den Euern, damit der Zauber geendet wird.“

Franz und Romild gehorchten. Schaudernd machten sie sich auf, um heimzuwandern. Alles Glück hatte sich in Traurigkeit verkehrt, und das längst; seit der ersten Umarmung hatten sie keine Freude genossen, aus der nicht grauenhaft das Bild der Äffin aufgetaucht wäre. In der Dämmerung langten sie unten an; noch ein Umschlingen, ein Druck der heißen Hände, noch ein Anschauen und Zurückschauen, dann ging jedes seinen Weg.

Auf den Fluren war tiefe Stille. In keinem Haus brannte Licht, und alle Tore waren verschlossen. Als Franz das Dorf betrat, grüßte ihn kein vertrautes Gesicht, überall war die gleiche Dunkelheit und Ruhe. Er klopfte ans Haus, nichts rührte sich. Erst als er den bekannten Pfiff erschallen ließ, raschelte es hinter den Läden. Das Fenster wurde geöffnet, und das fahle Gesicht seiner Mutter blickte ihn an. Ihr Schrei rief Vater und Bruder herzu, man ließ ihn ein, aber da er auf alle Fragen nur halbe Antwort gab und schließlich verstummte, betrachteten sie ihn ängstlich wie ein Gespenst. Die neueste Kunde war, daß die Äffin den Gauklern entlaufen sei, und sich im Tal herumtreibe; wer ihr nah komme, der werde von der Pest ergriffen, die von Naturns und Kastelbell bis Eyrs hinauf Hunderte von Menschen schon hinweggerafft habe. Schweigend lauschte der Heimgekehrte, und diese anscheinende Teilnahmslosigkeit brachte den Bruder in Wut. Er schrieb ihm alle Schuld zu; „hättest du das Affenweib nicht berührt, so wäre das Land verschont geblieben“, rief er, „und weil du mit einer Ladurnerin davon gegangen bist, darum ist ein Fluch auf dir, und wir müssen verderben“. Plötzlich stieß die Schwester einen gellenden Angstruf aus und stammelte, sie habe die grinsende Affenfratze am Fenster gewahrt, das noch offen war. Die Mutter warf sich Franz zu Füßen und beschwor ihn, von dem Mädchen zu lassen. Er wandte sich bebend ab, verstand kaum den Zusammenhang, wollte hinwegeilen und hielt schon die Klinke in der Faust, da rief ihn die Schwester fieberhaft bettelnd zurück, und er nahm wahr, daß die Krankheit sie gepackt hatte, denn ihr Gesicht sah bleiern aus wie das jenes Frauenzimmers, das aus dem Wagen der Gaukler geschaut. Er setzte sich an den Tisch und weinte. Am Morgen hatte sie die Beulen unter den Armen, das Fleisch zerging unter der Haut, und als sie starb, hatten ihre Züge den Ausdruck der Gorilla-Äffin.

In den Ställen hungerten Kühe und Ochsen; ihr Gebrüll war der einzige Laut des Lebens. Nachbarn hüteten sich, einander vor die Augen zu kommen. Der Himmel schien erblindet, die Luft verwest. Gefürchtet war der Tag, Schatten und Abend gemieden, Wasser und Wind totbringend. Von Dorf zu Dorf zogen die Mönche vom Karthäuserkloster in Neuratheis, segneten die Leichen vor den Haustoren und trösteten die rasenden Kranken. Es ging kein Wanderer mehr auf der Landstraße, es tönte kein Posthorn mehr, die Hirten blieben auf den Almen, kein Glockenecho brach sich an den Bergen. Aus Furcht vor dem Affen wurden die Fenster verhängt und die Türen verriegelt, so daß in den ungelüfteten Stuben die Seuche doppelt leichtes Spiel hatte. Nach der Schwester sah Franz den Bruder erliegen, und am Dreifaltigkeitssonntag spürte der Vater den ersten Frost. Als die Sonne untergegangen war, pochte es ans Fenster, die Mutter schlug vor Grausen die Hände zusammen und kreischte: „Das Tier! Das Tier!“ Es pochte abermals, da öffnete Franz den Laden und erblickte eine Gestalt, die jetzt unter dem Ahornbaum am Brunnen stand. Er erkannte Romild, die aus dem zinnernen Becher mit der Gier einer Gehetzten Wasser trank. Drei Sprünge, und er war draußen, der Hofhund winselte matt um seine Knie. Schluchzend vor Jubel, daß er noch lebte, zog ihn das Mädchen bis zum Rand des ausgetrockneten Bachs. Sie hatte noch immer die herrisch-gerade Haltung, doch ihre azurgeäderte Haut war entfärbt von überstandenen Leiden vieler Art. Die Ihrigen hatten sie beschimpft wie eine Ehrlose, der Vater hatte sie geschlagen, aber nun kam sie von einem Haus der Toten und Todgeweihten; der Liebeswille hatte sie getrieben, den schauerlichen Gang übers Tal zu wagen, und da stand sie, flüchtig und zitternd, dennoch beglückt. „Wir wollen uns ein Zeichen geben“, schlug sie vor; „wenn die Nacht kommt, steckst du eine brennende Fackel übers Dach, ein gleiches will auch ich tun, so wissen wir doch täglich voneinander, daß wir leben“. Franz war damit einverstanden; die Häuser beider Familien waren so gelegen, daß ein Feuersignal von einem zum andern wahrgenommen werden konnte.

So geschah es. Jeden Abend um die zehnte Stunde flammte von Goldrein und von Morter aus ein brennendes Scheit übers Tal: wie zwei irdische Sterne, die einander grüßen. Aber schon am vierten Tag fühlte sich Franz sterbensmatt, und bevor er im Fieber die Besinnung verlor, zwang er der Mutter, deren Herz schon erstorben und hoffnungslos war, das Versprechen ab, an seiner Statt das Flammenzeichen zu geben. Die Greisin übte diese Pflicht treu, und nur der Untergang einer Welt vermochte ihr Gewissen zu betäuben, denn was lag jetzt noch an Zuchtlosigkeit und Entehrung. Aber als der Einzige und Letzte des Stammes langsam zu genesen anfing, fand sie sich belohnt, und sie bekehrte sich zu der Meinung, daß Gott diesen Bund begünstigte, denn es gab nur wenige, die, von der Pest einmal erfaßt, wieder ins Dasein treten durften. Am neunten Tag war er imstande, das Bett zu verlassen; zwei Tage später versuchte er, nach Goldrein zu wandern, doch am Fluß überfiel ihn die wiederkehrende Schwäche des Kränklings, und er mußte von seinem Vorhaben abstehen. Nachdem er den ersten Schein des nächtlichen Fackelbrandes vom Ladurnerhof gewahrt, indes die Mutter willig über seinem Haupt die Lohe hinausreckte, fiel er in einen gesundenden Schlaf. Und wieder zwei Tage später machte er sich kraftvoller auf den Weg, und er wählte den Abend hiezu, weil er sich bei hellem Licht der Beachtung der feindseligen Sippe nicht aussetzen wollte. Er wußte nicht, daß es keine Feinde mehr dort drüben gab und daß der Gau entvölkert war.

Die Dunkelheit war längst eingebrochen, als er über die Brücke ging, und er entnahm dem Aussehn des Sternenhimmels die Stunde. Noch sah er die Fackel nicht, so daß er wähnte, die nahen Häuser des Dorfs entzögen sie seinem Auge. Aber plötzlich flammte sie auf; die Straße noch, der Platz, und nun das Haus. Er pochte; er rief, erst leise, dann laut. Da ihm keine Stimme antwortete, auch kein Schritt hörbar wurde, öffnete er ungeduldig die Türe und eilte ermattend durch den finstern Gang, der ihn zu einer niedrig gewölbten Küche führte. An der linken Seite befand sich ein vergittertes Fenster; durch dieses Fenster wurde die Fackel hinausgehalten, und ihr Schein erhellte düster und mit beweglichen Schatten rückstrahlend den Raum. Aber es war nicht Romild, in deren Händen das Holz brannte, sondern es war die Gorilla-Äffin. Das Tier kauerte am Fenster, zähnefletschend und mit den Lippen in gräßlicher Possierlichkeit schmatzend. Die Gebärde sinnloser Nachahmung, die sich im Hinausstrecken des Armes mit dem brennenden Scheit kundgab, war noch schrecklicher als der Anblick des entseelten Mädchenkörpers, der knapp vor den Beinen des Gorilla über die Herdsteine hingebreitet lag, die Gewänder halb vom Leib gerissen, die schneeige Haut blutbesudelt, der Hals wie gebrochen zur Seite geneigt, die toten Augen weit geöffnet und von der Kohlenglut unterm Rost mit täuschendem Leben bestrahlt. Franz Tappeiner stürzte nieder wie einer, dem der Schädel gespalten wird. Der Affe schleuderte die Fackel weg, packte den Wehrlosen und zerbrach ihm mit einer spielenden Gleichgiltigkeit das Genick. Dann begann er abermals, stumpfsinnig wie die Nacht, die Bewegungen der schönen Romild nachzuahmen, die er überfallen haben mochte, während sie, im Fieber vielleicht, dem Geliebten das sehnsüchtig erwartete Zeichen gab. Es war aber in seinen großen Urwaldaugen die instinktvolle Melancholie der Kreatur, die von weiter Ferne ahnt, was Verhängnis und Menschenschmerz bedeuten, jedoch in ihren Handlungen nur das willenlose Werkzeug eines unerforschlichen Schicksals bleibt.

Die Pestplage soll damit ihr Ende erreicht haben.

Sicher ist, daß die Äffin, als kurz hernach Regengüsse eintraten, während welcher sie, von Bauern und Hirten verfolgt, durchs Martelltal irrte, bei einem Ausbruch des Stausees am Zufallferner von den eisigen Fluten erfaßt wurde und elend ersoff.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der goldene Spiegel