Die Nowgoroder und ihre Fürsten

Es hat in Nowgorod zu den meisten Zeiten einen Fürst gegeben; Nowgorod war es einst, welches die Fürsten von außerhalb herbeirief. Die Gründe, die im IX. Jahrhundert hierfür maßgebend waren, haben nie aufgehört wirksam zu sein. Die Nowgoroder konnten wieder unter einander noch mit ihren Nachbarn im Frieden leben, „ein Geschlecht erhob sich gegen das andere und es war kein Recht“ 92, man bedurfte einer obersten Gewalt, welche die Leidenschaften im Zaume hielt und Frieden schaffte. So waren die Einwohner Nowgorods gezwungen unter Fürsten zu leben, aber sie waren nie gesonnen, ihre einst durch Jaroslaw I. erhaltenen und verbrieften Freiheiten aufzugeben oder auch nur einschränken zu lassen, dem Fürsten mehr Rechte einzuräumen, als dringend nötig war. Unter diesen Umständen, zumal die Nowgoroder ihm stets mit Argwohn begegneten, war die Stellung des Fürsten misslich genug. Er war Fürst von Volkes Gnaden und oft musste er sich entfernen, weil die Stadt mit ihm unzufrieden war 93). Ehe er in seine Stellung eintrat, musste er mit der Stadt einen Vertrag abschließen, der von letzterer vorgelegt, beiderseits mit Eid und Kreuzküssung akzeptiert und dann sorgsam befolgt wurde 94) Die wichtigsten Obliegenheiten des Fürsten waren, der Oberbefehl im Kriege und die Jurisdiktion. Aber weder das eine noch das andere stand ihm allein zu. Den Oberbefehl führte er zwar wohl dem Namen nach: ihm zur Seite standen jedoch die städtischen Beamten, welche event. den Gehorsam versagten. In Bezug auf die Jurisdiktion musste er sich ausdrücklich verpflichten, dass er ohne Possadnik kein Recht sprechen werde. Der Fürst erschien zu Nowgorod mit seinem Gefolge, der sog. Drushina, aber nicht in Nowgorod durfte er Wohnung nehmen, sondern war auf das nahe Gorodischtsche (Gorceke, Gerceke) angewiesen 95) Seinen Einnahmen waren ziemlich enge Grenzen gezogen. Weder er noch seine Hofleute durften Grundbesitz im Nowgoroder Gebiet erwerben. Nur gewisse Abgaben und gewisse Strafgelder flossen ihm zu. Es war ihm nicht gestaltet, sich direkt am Handel zu beteiligen und nur durch Vermittlung eines Nowgoroders konnte er z. B. mit den deutschen Kaufleuten in Verbindung treten 96). Endlich durfte er von sich aus keine auf Nowgorod bezüglichen Urkunden, welches Inhaltes sie auch sein mochten, ausstellen, keine kassieren: er hatte beides in Gemeinschaft mit den städtischen Beamten zu tun. Es ist ersichtlich, dass unter solchen Umständen von einer Souveränität des Fürsten, so sehr sich auch der Umfang seiner Macht nach seiner Persönlichkeit richtete, nicht die Rede sein kann.

86) Hier sei es noch ausdrücklich bemerkt, dass Land- und Winterfahrer ebenso wenig als Sommer- und Wasserfahrer identifiziert werden dürfen, wie es früher geschehen ist.


87) Sartorius-Lappenberg 1. c. Bd. I, S. 125.

88) vergl. Behrmann, De Scra van Nougarden S. 48 ff.

89) Riesenkampf, 1. c. S. 103.

90) vergl. Schiemann 1. c. I, 189.

91) vergl. Winckler, 1. c. S. 8 ff. Ewers, Studien zur gründlichen Kenntnis der Vorzeit Russlands. Dorpat 1830 S. 257—478. Schiemann 1. c. Bd. I, S. 185 ff. Vieles über die Verfassung Nowgorods findet sich bei Ssolowjew, Geschichte Russlands Bd. III und IV und Kostomarow, Geschichte Nowgorods, Pskows, Wjatkas in seinen historischen Monografien Bd. VII. VIII. Speziellere Arbeiten in russischer Sprache wie z. B. Ssolowjew, Über das Verhältnis Nowgorods zu den Großfürsten, oder Ssergejewitsch, Wetsche i. Knjaz (Volksversammlung und Fürst) sind mir leider unzugänglich gewesen.

92) Bestushew-Rjumin, Russische Geschichte (russ.) Hand I. S. 332.

93) Schiemann 1. c. Bd. I. S. 187 macht darauf aufmerksam, dass Nowgorod in den Jahren 1132 bis 1238 38 Regierungswechsel erlebt habe.

94) Uns sind mehrere dieser Verträge aus der Zeit von 1265 his 1471 erhalten; sie finden sich in Ssobranie gossudarstwennich gramot i dogoworow (Sammlung von Staatsurkunden) Bd. 1 S. 1 bis 80 sowie teilweise bei Tobien, Sammlung kritisch bearbeiteter (Quellen der Gesch. des russ. Rechts Bd. I S. 96—119.

95) Kostomarow, Gesch. Nowg. u. s. w. Bd. VII S. 109 u. 155 vergl. Hansisches Urkundenbuch I, S. 877 No. 1093. Über die Lage Gorodischtsches siehe die Karte bei Murawiew, Historische Untersuchungen betr. die Altertümer Nowgorods. St. Ptbg. 1828.

96) Sammlung von Staatsurkunden I, S. 20. Vertrag mit Alexander Michailowitsch v. 1327. Tobien 1 c. Bd. I, S. 110.


Die Souveränität in Nowgorod lag bei dem Wetsche der Volksversammlung, in der jeder freie Mann erscheinen durfte und stimmberechtigt war. Das Wetsche wählte, berief und vertrieb die Fürsten 97), wählte die Beamten und den Erzbischof, bestimmte über alle wichtigeren Fragen, Krieg und Frieden und übte endlich in besonderen Fällen auch die höchste Gerichtsbarkeit. Der Versammlungsort des Wetsches war der Jaroslaw'sche Hof. — Das Einberufungsrecht hatte nominell der Fürst und der Possadnik: jedoch in Wirklichkeit wurde es auch von besonders einflussreichen Personen oder Korporationen versammelt 98). Nicht immer liefen die Verhandlungen friedlich ab. Vielmehr ist es vorgekommen, dass, da zur Durchbringung eines Beschlusses Einstimmigkeit erforderlich war, die Abweichenden vergewaltigt, ja sogar im Wolchow ertränkt wurden. Zuweilen versammelten sich zwei Wetschen zu gleicher Zeit und in diesen Fällen ging es nicht ohne blutige Kämpfe ab 99). Es lag in der Natur der Sache, dass die Gewalt des Wetsches nur eine beratende und gesetzgebende war.

Die Exekutive lag nächst dem Fürsten, bei den städtischen Beamten, unter denen der oberste der Possadnik war. Derselbe wurde ursprünglich vom Fürsten eingesetzt, später von dem Wetsche gewählt, doch übte der Fürst auch dann noch je nach seiner Stellung einen größeren oder geringeren Einfluss auf die Besetzung dieses Amtes. Seine Amtstätigkeit war zeitlich nicht beschränkt, erst später ist er nur auf ein Jahr gewählt worden. Erhielt er sich in der Gunst des Volkes und blieb — was wichtiger — seine Partei am Ruder, so konnte er lange im Amte bleiben: verloren er und seine Partei die Leitung, so wurde er bald gestürzt. Der Possadnik tritt auf als Feldherr, als Richter, er spricht in finanziellen Dingen mit, er hat seine Hand in Beziehungen der auswärtigen Politik. Neben ihm steht der Tyssjazky, welcher ebenfalls ehedem auf unbestimmte Zeit später auf ein Jahr gewählt wurde. Das Wort bedeutet Tausendmann und der Tyssjazky wird ursprünglich der Leiter einer Tausendschaft gewesen sein. Allmählich spezialisierten sich seine Befugnisse und in unserer Zeit ist er vorzugsweise Feldherr und, wie es scheint, besonders Anführer der Reiterei. Daneben war er der Vorsitzende eines besonderen Handelsgerichts.

Die Einwohnerschaft Nowgorods gliederte sich ursprünglich in zwei Stände. Den ersten Stand bildeten die Bojaren (der Adel) den zweiten die gemeinen Leute. Die Letzteren spalteten sich jedoch mit der Zeit und man kann nun drei Teile dieses Standes unterscheiden: 1) die sesshaften Leute 2) die Kaufleute 3) die schwarzen Leute 100). Entsprechend dem Umstände, dass Nowgorods Bedeutung größtenteils auf seinem Handel beruhte, gelangte insonderheit der Stand der Kaufleute zu großem Ansehen. Das verdankte er, oder doch ein Teil von ihm, aber wieder seiner Organisation, vermöge welcher die tatkräftigsten und leistungsfähigsten Elemente fest zusammengeschlossen waren und die gemeinsame Tätigkeit einem Ziele zustrebte. — Soweit wir sehen können, war diese Organisation in der Johannesgilde (Iwanskoje kupetschestwo) am besten durchgeführt 101). Diese Gilde, welche ihren Namen nach der St. Johanneskirche, dem Mittelpunkte der Gesellschaft führte, ist durch eine Urkunde des Fürsten Wsewolod Mstislawitsch um 1130 zum Abschluss gebracht worden. Sie umfasste die reichsten Kaufleute der Stadt, welche durch ihren Eintritt in dieselbe und Entrichtung des Beitrags von 50 Mark Silber den Titel poschly kupez (d. h. erblicher Ehrenkaufmann) erhielten. Diese Johannisgilde scheint nun maßgebenden Einfluss auf den gesammten Handel Nowgorods geübt zu haben. Sie stellte das Handelsgericht, dass unter dem Vorsitz des Tyssjazky auf dem St. Johanneshof bei der Kirche tagte und das ganz unabhängig von der Stadtobrigkeit in allen Angelegenheiten des Handels kompetent war, nicht nur für Mitglieder der Gilde, sondern alle Kaufleute. Sie duldete keine Eingriffe der Obrigkeit: hatte also einen hohen Grad von Unabhängigkeit inne. Sie hatte schließlich den Wachshandel so gut wie ganz an sich gebracht: ein Erfolg, dessen weittragende Bedeutung in die Augen springt, wenn man bedenkt, dass das Wachs einer der wichtigsten Exportartikel war. Die Johannisgilde machte denn auch mit den deutschen Kaufleuten die meisten Geschäfte, indem sie das Wachs lieferte und das Tuch abnahm, um es ziemlich allein en detail zu vertreiben. Ein Zweig derselben war die Gilde der sog. überseeischen Kaufleute (samorskoje kupetschestwo), welche den überseeischen Handel in Händen hatte 102). Zu selbständiger Bedeutung ist diese Gilde jedoch nicht gelangt, wie wohl sie es an einem Versuche nicht fehlen ließ. Sie konnte die Konkurrenz mit den Deutschen nicht aushalten und trat daher desto mehr zurück, je größere Dimensionen der deutsche Verkehr annahm. Diese Gilde der überseeischen Kaufleute erbaute 1156 die Kirche des heil. Freitags.

Dass der Fürst von Nowgorod keine Urkunden allein ausstellen konnte, sondern dies stets in Gemeinschaft mit städtischen Beamten tun musste, sehen wir auch aus den Urkunden die sich auf den Verkehr der Deutschen in Nowgorod beziehen. In denselben wird zuerst freilich der König (coning) = rex = der Fürst genannt; aber gewöhnlich folgt als zweiter in der Reihe der Beurkunder der borchgreve — borchravius, Burggrat — der Possadnik 103). In einigen Urkunden findet sich allerdings an zweiter Stelle der biscop. 104) An dritter Stelle folgt der Hertog — dux — der Tyssjazky und zuletzt Urkunden noch „all de Nogarderen“ alle Nowgoroder.

97) Es konnte jedoch nur ein Spross des fürstlichen Geschlechts Rjuriks gewählt werden.

98) Vergl. Ewers 1. c. S. 344. Ssolowjew 1. c. Bd. III, S. 28.

99) Bestushew-Rjumin 1. c. Bd. I, S. 335 f.

100) Ewers. 1. c. S. 303 ff.

101) Bereshkow, Über den Handel Russlands mit der Hansa S 73 ff. Schiemann 1. c. I, S. 190. Was Winckler 1. c. S. 8 und 10 darüber bringt, beruht auf Schiemann.

102) Bereshkow 1. c. S. 71 und 76.

103) vergl. Lehrberg, Untersuchungen zur Gesch. Russlands. S. 239 ff.

104) Nicht genau; Nowgorod ist seit 1180 Erzbistum.