Die Lage Nowgorods

Man wird zugeben müssen, dass nicht alle Stellen an dieser großen Wasserstraße gleich günstig für das Gedeihen einer Stadt, eines Handelsplatzes waren, zumal diejenigen, welche an kleinen Flüssen oder gar an dem zu Lande führenden Stück der Straße lagen. Aber grade die Situation Nowgorods war außerordentlich günstig. Die große Wasserstraße verband es unmittelbar mit der Ostsee und unmittelbar mit dem schwarzen Meer. Aus dem Ladogasee, der durch den Wolchow mit dem Ilmensee verbunden ist, gelangte man auf anderen Flüssen leicht in die nördlichen Teile des Landes. In den Ilmensee ergossen sich von Westen die Schelonj, von Süden die Lowatj, von Osten die Msta. Die Schelonj benutzte man zur Fahrt nach Pskow, die Lowatj, ein Glied der großen Wasserstraße, verband Nowgorod mit den südlichen Gegenden des Landes, vor allem mit Kiew. Die Msta endlich stellte die Verbindung mit der Wolga her, der bedeutendsten aller russischen Wasserstraßen, die für den Handel überhaupt wichtig, für den Orienthandel aber von ganz besonderer Wichtigkeit war. Die genannten Momente, die noch heute ins Gewicht fallen würden, waren in einer Zeit, da die Flüsse so ziemlich die einzigen Verkehrsstraßen waren, von entscheidender Bedeutung. Dieser zentralen Lage ist es ohne Zweifel auch zuzuschreiben, dass Nowgorod und nicht Ladoga eine so große Bedeutung erlangt hat. Letzteres lag am Ausfluss des Wolchows in den Ladogasee und somit für das Ausland günstiger. Allem Anschein nach haben daher Nowgorod und Ladoga in den ältesten Zeiten ihrer Geschichte konkurriert, wie denn schon im Namen ein gewisser Gegensatz ausgesprochen ist 8) (Ladoga — norm.: Aldeigjuborg — Stargard — Altstadt, Nowgorod — Naugard Neustadt), bis eben Nowgorod sich als das günstiger gelegene erwies und den Sieg davon trug. Es kam hinzu, dass die finnischen Seeräuber Ladoga leichter erreichten und Nowgorod ihren Angriffen nicht in gleichem Maße ausgesetzt war.

Zu den ersten, welche die große Wasserstraße befuhren, gehören die skandinavischen Wikinger 9), welche den Ortschaften, an denen sie vorüberfuhren, eigene Namen beilegten, Nowgorod nannten sie Holmgardr.


Es dürfte nun schwer sein, mit völliger Sicherheit nachzuweisen, ob die Fahrten der deutschen Kaufleute des XII. und der folgenden Jahrhunderte in direktem inneren Zusammenhange stehen mit den früheren Wikingerfahrten, aber es liegt nahe genug, diesen Zusammenhang anzunehmen 10). Der Einwand, dass der Ausgangspunkt der deutschen Kaufleute ein anderer war, als derjenige der Wikinger — denn dass die letzteren aus Schweden kamen, unterliegt keinem Zweifel — , kann nicht als stichhaltig gelten. Die deutschen Kaufleute standen mit Schweden und Gotland insbesondere, eher in Verbindung als mit Nowgorod. Von hier aus hatten beide den gleichen Weg. Die gotischen Kauffahrer waren schon nach Russland und Nowgorod gesegelt, als die Deutschen noch nicht soweit gingen und sich nur auf die Westküsten der Ostsee beschränkten 11). Was den Wikinger einst zur Fahrt nach Russland bewogen hatte, trieb auch den Kaufmann immer wieder unwiderstehlich dahin. Zudem ist zu bemerken, dass die Ostsee, auch ehe die deutschen Kauleute auf ihr erschienen, lange der Schauplatz regen Handelsverkehrs gewesen ist, der nicht nur von Goten und Schweden, sondern auch von Dänen, den wendischen Slawen, Esten, Karelen und Finnen vermittelt wurde. Die Deutschen haben den Verkehr mit Russland nicht neu eröffnet sondern sind in ihn nur eingetreten 12). Wie weit die deutschen Schiffe an der Küste der Ostsee nordostwärts gelangt sind, wissen wir nicht. Es steht aber fest, dass sie schon im XI. Jahrhundert nach Gotland gefahren und von hier aus nicht längs der Küste nach Nowgorod gekommen sind 13).

8) s. Grautoff, Historische Schriften Bd. II, Lüb. 1836, S. 304, auch Karamsin, Istorija gossudarstwa Rossijskago Bd. I, Anm. S. 194. N. 485

9) vorgl. Karamsin, Istorija gossudarstwa Rossijskago I Bd. 2A. St. Ptbg. 1818. S. 44ff.

10) vergl. Bereshkow, O torgowle Rossii s gansoju (Über den Handel Russlands mit der Hansa) Abhandlungen der historisch-philologischen Fakultät der St. Petersburger Universität, St. Pthg. 1878. S. 10.

11) Behrmann, De Skra van Nougarden, Copenhagen 1828 S. 64 versucht allerdings aus dem Umstand, dass nach seiner Meinung der ersten Nowgoroder Skra ein sehr hohes Alter zugeschrieben werden müsse zu folgern, dass die Deutschen vor den Goten nach Nowgorod gekommen seien. Nun hat die Skra, wie wir weiter unten sehen werden, nicht das von Behrmann ihr beigelegte Alter und es ist danach, was wir aus den Quellen wie aus der geographischen Lage schließen dürfen, nicht ersichtlich, wie die Deutschen den Goten vorausgeeilt sein sollten, vergl. Bereshkow I. c. und die v. Herrmann, Beiträge S. 10 angezogene alte einheimische Sage, welche erzählt, dass Goten schon in ältester Zeit nach Russland bzw. durch Russland nach Griechenland gekommen seien, sowie Frensdorff, Das statutarische Recht der deutschen Kaufleute in Nowgorod, Göttingen 1887. I. S. 4.

12) Wenn Ssaweljew, Muhamedanische Numismatik sagt, dass Nowgorods Handel mit der Hansa nur die Fortsetzung seines arabisch-bulgarischen Handels gewesen wäre, so können wir füglich dasselbe bezüglich der deutschen und der voraufgegangenen warägischen, dänischen, wendischen Beziehungen behaupten.

13) Riesenkampf, Der deutsche Hof zu Nowgorod, Dorpat 1854 S. 14 — 10 folgert aus einem Streit zwischen Nowgorod und den Goten und daraus resultierendem Abbruch der Beziehungen, dass die Reichsdeutschen zuerst über Livland, nicht über Gotland nach Nowgorod gekommen seien. K.’s Folgerung ist sehr unwahrscheinlich, einmal weil die Wasserstraße nach Nowgorod älter ist und zweitens weil, als die Beziehungen begannen, die deutsche Kolonisation in Livland noch nicht eingesetzt hatte, das Land unwirtlich und von Heiden bewohnt war. Die Kaufleute hätten sich hier einer Gefahr aussetzen müssen, der sie auf dem Seewege leicht entgehen konnten, cf. Sartorius-Lappenberg. Bd. I, S. 17.