Der arme Fiedler unserer lieben Frau im Dom zu Mainz

Autor: Ueberlieferung
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Unter den kostbaren Weihestücken des altehrwürdigen Domes zu Mainz befindet sich auch ein Bild der Jungfrau Maria, zu deren Füßen die Andacht eines Verehrers ein Paar Pantoffeln aus gediegenem Golde niedergelegt hatte. Darüber berichtet die Sage :

An einem rauhen Wintermorgen trat ein armer, schlecht gekleideter und hochbejahrter Fiedler, der schon mehrere Tage, ohne rechten Erfolg seine Weisen in den Straßen von Mainz gespielt hatte, in den Dom, um dem Himmel seine drückende Not zu klagen und von seinem Schöpfer Hilfe und Trost zu erflehen. Er sang sein Gebet in einer schlichten Melodie, die er ohne sonderliche Kunst selbst erfunden hatte, und spielte auf seinem abgenutzten Instrument die Begleitung dazu. Doch jedesmal, wenn er sich an den Himmel wandte, unterließ er auch nicht, das Mitleid der Umstehenden anzurufen.

Mich friert so sehr, ich bin so schwach,
Alt ohne Trost und Kost,
Doch niemand, ach! erbarmt sich mein,
Und schützt mich vor dem Frost.

Wie anders in vergang,ner Zeit,
Da hatt, ich Ruhm und Geld:
Wenn meine lust'ge Fiedel klang,
War fröhlich alle Welt.

Grau und gebückt schleich ich allein,
Und niemand hört mich an;
Denn jeder ruft: "Gib auf dein Spiel,
Du alter, siecher Mann!"

Während der Alte dies vor sich sang, blickte er um sich her und sah, daß die Kirche mittlerweile leer geworden war; denn die Kälte hatte die Besucher nach Hause an den warmen Ofen getrieben. Da also niemand mehr in der Nähe war, der den armen Fiedler bemerkt hätte, beschloß er, der Heiligen Jungfrau ein Stück auf seiner Geige zu spielen und ihr eines seiner schönsten Lieder zu singen.

Gesagt, getan! Er spielte und sang mit solcher Wärme, daß es ihm schien, als wäre seine Jugend zurückgekehrt, als könne er dem Leben wieder froh und hoffnungsvoll entgegenblicken, und die schönsten Farben des Frühlings schmückten sein Dasein. Nochmals kniete er andächtig nieder, sprach ein kurzes Gebet und wollte dann den Dom verlassen. Eben hatte er sich aufgerichtet, siehe! da hob das Bild, vor dem er gekniet und dem zu Ehren er seinen Gesang hatte erschallen lassen, den linken Fuß auf und schleuderte mit einer raschen Bewegung den goldnen Pantoffel, mit dem der Fuß bekleidet war, an die in Lumpen gehüllte Brust des alten Geigers. "Welch ein Wunder, oh, welch Wunder!" rief der Greis erschüttert aus; "die hochgelobte Jungfrau weiß das Flehen eines Armen und sein Streben, ihr Freude zu bereiten, huldreich zu belohnen!"

Dankerfüllt pries der alte Mann freudig und in den feurigsten Ausdrücken die himmlische Spenderin und ging dann auf den Markt, um einen Käufer für seinen Schatz zu suchen und aus dem Erlös seiner dringendsten Not abzuhelfen. Einen Tag und eine Nacht hatte er nichts mehr gegessen, der Hunger wühlte in seinen Eingeweiden, und so blieb ihm jetzt keine andere Wahl, als die Gabe mitzunehmen, die ihm die Gottesmutter doch offenbar zur Stillung dieses Bedürfnisses gewährt hatte. Aber ein Goldschmied, dem er den Pantoffel zum Kauf anbot, erkannte denselben sogleich, und in wenigen Minuten war der unglückliche Mann noch übler dran als vorher; denn er befand sich in den Händen der strafenden Gerechtigkeit.

In jener Zeit machte man mit jedem Verbrecher, mochte er auch noch so sehr seine Unschuld beteuern, kurzen Prozeß. Die Laune des Richters sprach das Urteil und ließ es auch in ein paar Stunden vollziehen. Insbesondere für das ruchlose Verbrechen eines Kirchenraubes, mit dem der beklagenswerte Greis belastet war, erschien keine Hoffnung, keine Gnade, kein Aufschob gegeben. Innerhalb einer Stunde sah sich der Häftling gerichtlich verhört, abgeurteilt und auf dem Wege zur Hinrichtung.

Die Richtstätte war auf dem Speisemarkt, der gerade den ehernen Toren des Domes gegenüberlag. Vergebens wiederholte der Greis die Erzählung der ganzen Begebenheit, umsonst schwor er, die Wahrheit zu sprechen. Die Richter hörten nicht darauf und hielten seine Beteuerungen für eine unverschämte Lüge. Der arme Geiger hatte nichts mehr zu hoffen, man verkündete ihm, daß er noch vor Mittag sterben müsse.

"Wohlan denn!" rief er, schon am aufgerichteten Schafott stehend, "wenn ich hier mein Leben endigen soll, so sei es mir doch erlaubt, nochmals zu den Füßen der Heiligen Jungfrau mein Gebet zu verrichten und nach der Musik meiner alten Fiedel ein Lied anzustimmen. Ich bitte darum in ihrem gebenedeiten Namen - ihr könnt es mir nicht verweigern."

Die Richter schlugen seine Bitte nicht ab; denn es wäre eine ebenso strafbare Ruchlosigkeit gewesen, wenn man sich zwischen einen Verurteilten und die Heilige Jungfrau hätte stellen und sein letztes Gebet verhindern wollen. Streng bewacht, trat der alte Fiedler nun in den Dom, der ihm zum Verhängnis geworden war, und betete kniend am Altare der Himmelskönigin; dann stand er auf und sang vor der Gottesmutter sein Lied. Kaum war es verklungen, so erhob zum Schrecken der Wachen, die den Verurteilten umgaben, das Bildnis seinen rechten Fuß und warf den Pantoffel, der den Fuß schmückte, an die Brust des Greises. Alle Anwesenden bezeugten dies, und niemand konnte leugnen, daß der Himmel sein Zeugnis zugunsten des armen Mannes abgegeben habe. Dieser wurde sogleich von seinen Fesseln befreit und im Triumph vor den Stadtrat gebracht, wo man nach Recht und Pflicht das gesprochene Urteil wieder aufhob und den Alten unverzüglich in Freiheit setzte.

Dann hat der alte Geiger vom Dome zu Mainz, so berichtet die Sage, gegen eine Versorgung für den Rest seiner Tage die goldenen Schuhe der hohen Geistlichkeit übergeben. Die Schatzkammer des alten Domes verwahrt heute noch diesen wertvollen Besitz.