Pogrome während des Krieges.

Wenn trotz all dem sich irgendwo ein Optimist finden sollte, der an eine Besserung der Judenlage in Russland glauben könnte, so müssten ihn gerade die Erfahrungen der letzten Wochen eines besseren belehren.

In derselben Zelt, wo ca. 300.000 Juden in der russischen Armee kämpfen, und ihr Blut für das „teure Vaterland" au! den Schlachtfeldern Galiziens und Polens verspritzen; in derselben Zeit, wo die ganze Judenheit Russlands in den Beweisen der Opferwilligkeit und Loyalität für das Reich und Armee wetteifert, derart, dass selbst die verbissensten Judenhasser, wie Purischkiewitsch, „Nowoje Wremia" etc. dem jüdischen Patriotismus das höchste Lob zollen — in derselben Zeit sind in Russland die Judenpogrome auf der Tagesordnung, in derselben Zeit wurden die gesetzlichen und administrativen Ausnahmebestimmungen gegen die Juden nicht nur nicht erleichtert, sondern geradezu viel strenger durchgeführt. Selbst für die Kinder derjenigen, welche ihr Leben auf dem Schlachtfelde der Ehre geopfert haben, wird die Prozentnorme in den Schulen nicht um das mindeste durchbrochen; selbst für die auf dem Schlachtfelde verkrüppelten jüdischen Soldaten werden die Bestimmungen des Ansiedlungsrayons nicht im geringsten erleichtert: solange sie in den Spitälern liegen müssen, dürfen sie wohl die heilige Luft Kiews, Moskaus und Petersburgs einatmen; kaum jedoch sind ihre Wunden vernarbt, da werden sie trotz Tapferkeitsmedaillen und Heldenmutsprämien rücksichtslos wieder in das jüdische Ghetto abgeschoben. Selbst die jüdischen Frauen und Mädchen, welche sich in den Dienst des russischen Roten Kreuzes stellten und geradezu Bewunderungswürdiges leisten, was auch seitens der antisemitischen Presse rühmend hervorgehoben wurde — dürfen sich außerhalb des Ansiedlungsrayons nicht aufhalten. Dieses Recht besitzen nur diejenigen, welche den berüchtigten „gelben Bogen" genommen haben . . . All dies sind Fakten, welche selbst die russische Presse registriert und als unbegreiflich bezeichnet. So behandelt das um seine Weltstellung kämpfende Russland seine jüdischen Bürger; welche Orgien würde eine eventuell siegreiche Petersburger Reaktion feiern?! Israel Zangwill und seine englischen und französischen Freunde mögen wohl darauf die Antwort geben.


Was die Juden übrigens von Russland zu erwarten haben, beweist das Vorgehen der russischen Soldateska in Ostgalizien. In allen Ortschaften, wo die Kosakenhorden zeitweilig eindringen konnten, waren die Juden die ersten Opfer. Das Judenviertel Lembergs ist durch einen schrecklichen Pogrom geschändet worden; nirgends, wo die Russen eindrangen, sind die Juden des Lebens und des Vermögens sicher. Selbst offiziell hat das vordringende Russland den Kampf gegen die Juden angekündigt, indem es in Flugblättern die Polen und Rutenen versichern lässt, das „heilige Russland" komme, um sie von dem „jüdischen Joch" zu befreien.

Ein einflussreicher russischer Senator ließ auch in den letzten Tagen in einem Interview mit einem englischen Zeitungskorrespondenten die Äußerung fallen: „Russland wird nach der Annexion Galiziens (nit derleben wet dus Fonie! sagt ein galizisch-jüdisches Sprichwort) wenigstens die Hälfte der dortigen Juden zur Auswanderung zwingen."

Wie wenig der Patriotismus und die Opferwilligkeit der russischen Juden seitens der Machthaber in Petersburg gewürdigt werden, zeigt auch der Fakt, dass das Zarenreich bei der Hilfsaktion für die infolge des Krieges hart betroffenen Bevölkerungskreise sein berüchtigtes „krome Jewrei" nicht fallen ließ und die Juden von der staatlichen Unterstützung ausgeschlossen hat, so, dass sich in England ein jüdisches Komitee zur Hilfeleistung und Unterstützung der gegenwärtig Not leidenden russischen Juden bilden musste. Sollte nicht den englischen Juden die Schamröte ins Gesicht steigen, dass eine solche Hilfsaktion für ihre russischen Brüder erst notwendig sein musste?!! Welch gewaltiger Unterschied zwischen diesem unmenschlichen Vorgehen und der geradezu imponierenden Hilfsaktion der österreichischen und ungarischen Regierung, für die galizischen Flüchtlinge!

Kann nach all dem noch jemand im Zweifel sein, dass nur eine Niederlage Russlands den dortigen Juden ein besseres Los bringen wird?!
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Weltkrieg und die Judenfrage.