Der Weltkrieg vor Gottes Richtstuhl

Nach einer talmudischen Legende besitzt jedes Volk und jeder Staat einen Schutzpatron in der Person eines Erzengels im himmlischen Reiche, welcher die Interessen seines Volkes und seines Reiches vor dem Richtstuhl des Ewigen zu vertreten hat. Kommt es zu einem Kriege zwischen Völkern und Nationen, dann verhüllt der Ewige Vater im Himmel sein Gesicht in Trauer ob des vergossenen Blutes seiner Menschenkinder und während der ganzen Kriegszeit dürfen die Engelscharen keine Lobeshymnen zu Ehren Gottes singen. Nachdem schon genug Blut geflossen ist, erscheinen die Schutzpatrone der kriegsführenden Völker vor dem Richtstuhl Gottes und bringen ihre Argumente vor, den Sieg für ihre Schutzbefohlenen erbittend. Nach Anhörung aller Beteiligten fällt das Höchste Gericht die Entscheidung und die Siegespalme wird dem Gerechten zuerkannt.

Wer die Entstehungsgeschichte des jetzigen Krieges näher kennt, der wird keinen Moment daran zweifeln, dass das Recht auf Seiten Österreich-Ungarns, Deutschlands und der Türkei ist und dass dieser Mächtegruppe vor dem Stuhlgericht des himmlischen Vaters die Siegespalme zugebilligt werden wird.


Wir Juden sind aber auch dessen sicher, dass der Erzengel-Patron des jüdischen Volkes bei diesem Himmelgerichte ebenfalls zu Worte gelangen und für die Interessen seiner Schutzbefohlenen plaidieren wird. Das unschuldig vergossene Blut der Märtyrer von Kischiniew, Homel, Zytomir, Bialystok, Siedlec, Odessa und Kiew, die Tränen der Witwen und Waisen, deren Ernährer und Erhalter bei diesen Pogroms in grausamster Weise hingeschlachtet wurden, werden als Ankläger gegen den russischen Barbarismus auftreten, Rache und Sühne fordernd. Wenn noch etwas dazu notwendig wäre, die Waagschale auf die Seite Österreich-Ungarns, Deutschlands und der Türkei hinabzuziehen, so wird es sicherlich die Judenfrage sein. Der Sieg dieser Mächtegruppe wird auch Freiheit und Erlösung für die Millionen so schwer verfolgter und bedrückter Juden bringen und der Gott Israels wird seinem Volke beistehen.

WIEN, Jänner 1915.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Weltkrieg und die Judenfrage.