Der Weinkeller von der Himmelspforte bei Wernigerode

Autor: Ueberlieferung
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Ein Förster zu Öhrenfeld wollte seine silberne Hochzeit feiern und hatte sich dazu hinreichend mit Wein versorgt; da sich aber mehr Gäste einfanden, als er erwartet hatte, ging sein Wein schon sehr früh zur Neige; deshalb schickte er seine Dienstmagd noch um elf Uhr nachts zu dem Weinhändler in Wernigerode, gab ihr das Rechnungsbüchlein mit und hieß sie so viel Wein von der kürzlich gelieferten Sorte mitbringen, als sie in ihrem Korb tragen könne.

Das Mädchen, des Weges nicht sehr kundig, fragte, wo sie denn hingehen solle. Der Förster aber antwortete ärgerlich: „Geh in die Himmelspforte!“ So hieß eine alte Klosterruine, die in der Nähe lag.

Das Mädchen nahm das für Ernst, schwang ihren Tragkorb auf den Rücken und trollte in die Nacht hinein nach der Himmelspforte. Sie war noch nicht weit gekommen, da sah sie ein Licht brennen, schritt darauf zu und traf eine einfach gekleidete Frau, die eine Laterne in der Hand hielt und einen Schlüsselbund an der Seite trug; sie stand vor einer offenen Kellertür. Das Mädchen nahm an, das sei die Ehefrau des Weinhändlers und brachte ihr Anliegen vor, ihrem Herrn von dem letzterhaltenen Wein so viel Flaschen zu schicken, als sie tragen könne.

Die Frau entgegnete kein Wort, schloß die Kellertür auf, ging voran und winkte dem Mädchen zu folgen. Sie stiegen viele Stufen hinab, durchschritten ein langes Kellergewölbe und blieben endlich vor einem alten, verschimmelten Faß stehen. Hier zapfte die Frau einige Flaschen Wein ab, packte sie in den Korb und half dem Mädchen, diesen auf den Rücken zu nehmen. Nun reichte die Magd das Büchelchen hin und bat die Frau, den Preis für die Flaschen einzuschreiben. Diese aber schob das Buch unwillig zurück und schüttelte verneinend den Kopf.

Das Mädchen dachte, auch gut; lief über die Treppen hinauf, wünschte gute Nacht, erhielt aber keinen Dank und eilte nach Hause.

Der Förster, der sie nicht so bald wieder zurückerwartet hatte, fragte sie verwundert: „Wo hast du denn den Wein hergeholt, daß du schon wieder hier bist?“

Die Magd antwortete: „Wie Ihr mir befohlen habt, in der Himmelspforte.“

Der Förster glaubte, das Mädchen wolle ihn zum besten halten, fragte noch einige Male, erhielt aber immer die gleiche Antwort. Er meinte daher, das Mädchen habe auf dem Weg von dem Wein gekostet und sei nun etwas betrunken, und da er überdies von den Gästen in der Stube verlangt wurde, ließ er die Sache für diesen Abend auf sich beruhen.

Am andern Morgen nahm er die Magd wieder ins Gebet, diese aber beharrte bei ihrer Aussage und erzählte den ganzen Hergang der Sache, wie es sich zugetragen hatte. Der Förster wußte nicht, was er davon denken solle, um so mehr, als der Wein viel besser geschmeckt hatte als der frühere, ja, er glaubte überhaupt noch nie einen so guten Tropfen getrunken zu haben. Er schickte also einen Boten nach Wernigerode zu dem Weinhändler und ließ fragen, ob vorige Nacht seine Magd dort den Wein geholt habe. Als der Bote mit der Nachricht zurückkehrte, niemand sei dort gewesen, kam dem Förster die Sache bedenklich vor. Er schickte deshalb nach dem Pastor und dem Lehrer, nahm einige Bauern und Jägerburschen mit, und so zog der ganze Schwarm unter Führung des Mädchens nach der Himmelspforte. Dort fand man zwar noch die Ruinen eines im Bauernkrieg zerstörten Klosters, aber weder von der Kellertür noch von der seltsam gekleideten Frau war eine Spur zu sehen.

Seit jener Zeit wurde die Himmelspforte und besonders die Klosterruine, die schon lange bei den umwohnenden Bauern verrufen waren, noch mehr gemieden; jedem klopfte das Herz hörbar in der Brust, wenn er an den Mauerresten vorüberging, jeder erwartete, daß die Kellertür sich öffnen und die seltsame Frau hervortreten würde; doch hat sich seit jenen Tagen nichts Ähnliches mehr ereignet.