Der Weg nach Moskau

Autor: Zetkin, Clara (1857-1933) deutsche Frauenrechtlerin und Politikerin, Erscheinungsjahr: 1920
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Moskau, Sowjetrussland, Sozialismus, Sozialdemokraten, Kommunisten, Bolschiwismus, Sozialismus, Prolitariat
Mit wachsender Klarheit und Bestimmtheit hebt sich aus dem gärenden, tosenden und schäumenden Chaos dieser Zeit eine hoffnungsreiche Tatsache empor. Das Drängen breitester Massen des deutschen Proletariats nach dem Anschluss an die Dritte, an die Kommunistische Internationale. Und dieses Drängen gewinnt an Umfang, an Tiefe, an Kraft und Leidenschaftlichkeit. Den mahnenden Unkenrufen und dem belfernden. Froschgequake aller jener politischen Amphibien zum Trotz, die ihrer Natur nach sich im Sumpf des Opportunismus heimischer fühlen, als wenn die Notwendigkeit sie zwingt, auf dem festen Lande grundsätzlichen Bekennens und Handelns zu kriechen und zu hüpfen. Was sich in dem Verlangen des Anschlusses an Moskau äußert, ist mehr, als nur ein Ausbruch elementaren Klasseninstinkts und elementaren Klassenempfindens der kapitalistischen Lohnsklaven in Deutschland. Es ist der Ausdruck fortschreitender revolutionärer Erkenntnis und Reife des Proletariats. In dem Ruf: „Nach Moskau!“ gewinnt der geschichtliche Entwicklungsprozess Leben und Gestalt, in dem sich die Arbeiter Deutschlands klar werden über die Bedingungen ihres revolutionären Klassenkampfes zur Überwindung. des Kapitalismus und zur Aufrichtung des Sozialismus, des Kommunismus.
Diese zunehmende Selbstverständigung kommt vor allem geradezu stürmisch in der Entwicklung der U.S.P. zur Geltung, die den größten Teil erwachender und revolutionär gesinnter proletarischer Massen in Deutschland organisatorisch erfasst hat und umschließt. Sie hat einen rechten und einen linken Flügel der Partei entstehen lassen, sie hat die rechtsgerichteten Führer Schritt für Schritt vorwärts gepeitscht, und dies auch auf dem Weg nach Moskau. Man erinnert sich, wie langsam und widerwillig diese Führer sich entschlossen, endgültig mit der Zweiten formalistische Organisationsbesessenheit der Parteimitglieder, um einen Sturm der Entrüstung gegen die Moskauer Bedingungen und damit gegen den Beitritt zur Kommunistischen Internationale selbst anzublasen. Ebenso breit als seicht, ebenso wortgewaltig als gedankenarm, plätschert der Strom ihrer Gegengründe dahin. Sie behaupten schlankhin, dass die geheischte nationale und internationale straffe Zentralisation und Disziplin jedes selbständige, eigene geistige, politische Denken, Wollen und Handeln der U.S.P., jeder Partei überhaupt, fessele und töte. Dass sie die gleiche verhängnisvolle Wirkung ausüben werde auf die Gewerkschaften und die Räteorganisationen, die sie unter den „Terror“ der Parteiherrschaft beuge. Dass sie ohne Berücksichtigung der in den einzelnen Ländern gegebenen geschichtlichen Verhältnisse den revolutionären Kampf grob-mechanisch schablonisiere und dem „Diktat der Moskauer Parteipäpste“ unterwerfe. Und die ob solcher Gefahren kummerbeschwerten Genossen Crispien, Dittmann, Breitscheid, Hilferding, ihre Richtungsbrüder und Richtungsschwestern schwören im Namen der Ehre, Würde, der Grundsätze, des Selbstbestimmungsrechtes, des innersten Lebens der U.S.P. feierliche Eide, dass die bedrohte Freiheit der Meinung, Selbständigkeit der Betätigung und Autonomie der Entwicklung den Moskauer „Oberbonzen“ nicht ausgeliefert werden dürfe.

Wem wird angesichts der Deklamationen von den heiligsten Parteigütern, die gegen „asiatische Barbarei“ zu schützen seien, nicht die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie und der U.S.P. selbst lebendig! Und wem steigt in der Erinnerung daran nicht Bitterkeit und Empörung im Herzen auf? In der Tat! Wo blieb die leidenschaftliche Sorge für die beweihräucherten Güter, wo die zum Äußersten entschlossene Rebellion, der zähe Kampf, als der Parteivorstand der weiland einen deutschen Sozialdemokratie zusammen mit der großen Mehrheit der Reichstagsfraktion und der Gewerkschaftsbürokratie den organisatorischen Apparat und die Disziplin der Partei in skrupellosester Weise missbrauchte, um unter Verrat aller sozialistischen Grundsätze das deutsche Proletariat an (kn bluttriefenden Kriegswagen des Imperialismus zu spannen und damit in den Dienst seiner Klassen- und Todfeinde zu stellen? Ach, wie zentralisations- und disziplinfromm krochen doch damals lange, viel zu lange, die schüchternen Opponenten des Verrats zum Kreuz, das ihnen die von Wilhelm II. gesegneten „Berliner Parteipäpste“ auferlegten. „Wir sind in der Rolle des gebrannten Kindes, dass das Feuer scheut“, so antworten sicherlich die Genossen und Genossinnen, denen die straffe Zentralisation und strenge Disziplin der Kommunistischen Internationale ein Greuel und Scheuel dünkt. „Gerade die damalige Situation hat uns gelehrt, wie verhängnisvoll straffste Zentralisation und Disziplin einer Partei dem revolutionären Kampfe des Proletariats werden.“

Werden können, jawohl, aber nicht werden müssen, ist darauf zu erwidern. Hand aufs Herz! Waren es wirklich nur, wären es einzig und allein der Parteimechanismus und die Parteidisziplin, die bewirkten, dass die einsetzende Verteidigung des internationalen Sozialismus sich scheu und ängstlich hinter verschlossene Türen duckte, statt stolz hinauszuschreiten unter die proletarischen Massen? Dass man in der Reichstagsfraktion von dem „Disziplinbrecher“ Karl Liebknecht weit abrückte, statt sich vor aller Welt und in aller Form mit ihm zu solidarisieren? Dass man es in der Öffentlichkeit schweigend duldete, als der Parteivorstand die erste Aktion des internationalen Sozialismus, die internationale sozialistische Frauenkonferenz zu Bern in Acht und Bann erklärte und in seinem Rundschreiben ihr Manifest geradezu dem Staatsanwalt denunzierte? Ich behaupte: Nein! Der letzte und tiefste Grund des Verhaltens der zahmen Opposition war nicht die zwingende Macht des Parteiapparates und der Parteidisziplin — die gewiss nicht zu unterschätzen ist — vielmehr die Grundsatzunsicherheit und der mangelnde Mut zum Alleinstehen, zum Minderheitskampf des linken Flügels der Sozialdemokratie selbst.

Man übersehe doch diese Binsenwahrheit nicht. Satzungen und Einrichtungen, von Menschen geschaffen, sind das, was die Menschen aus ihnen machen und machen lassen. Es ist keineswegs die starke Zentralisation und Disziplin des Organisationsapparates, die den schmählichen Bankerott der alten deutschen Sozialdemokratie herbeigeführt haben und die gegenrevolutionäre Gewerkschaftspolitik verschulden. Es ist der bürgerlich-reformerische, opportunistische Geist, der in der Sozialdemokratie mächtig geworden war, und der die Gewerkschaftspolitik der Arbeitsgemeinschaft lenkt und leitet. Unter der Herrschaft dieses Geistes wurden und werden Zentralisation und Disziplin der Organisation aus Mitteln zum Zweck, zum knechtenden, tötenden Selbstzweck; wurden und werden sie dazu gebraucht und missbraucht, bürgerlichen, verfälschten Losungen des proletarischen Klassenkampfes zu dienen, statt der Verwirklichung der revolutionären sozialistischen und kommunistischen Ziele der Arbeiterklasse. Allein gegen solch verhängnisvollen Missbrauch der Zentralisation und Disziplin, gegen eine Diktatur von „Organisationsbonzen“ schützt keine noch so lose Organisationsform, keine noch so weitgehende Autonomie einer Partei, keine noch so bindungslose Freiheit der Meinung und Betätigung des Einzelnen. Dagegen gibt es nur eine Waffe und Wehr. Das ist die Ziel und wegsichere Erkenntnis und die unbeugsame Entschlossenheit der Organisationsmitglieder, der breitesten proletarischen Massen. Solche Erkenntnis und solche Entschlossenheit verhindern, dass das feste Gefüge der Zentralisation zum engen Gehäuse erstarrt, in dem die Selbständigkeit der Überzeugung und des Handelns elendiglich verkrüppeln muss; dass die Disziplin zum stumpfsinnigen Kadavergehorsam entartet; dass die Führung Leithammelei von oben und blindes Nachlaufen von unten bedeutet. Solche Erkenntnis und solche Entschlossenheit sichern der Organisation die nötige Elastizität, den Anforderungen der Aktion unter verschiedenen, sich wandelnden geschichtlichen Umständen zu genügen; sichert ein Zusammenwirken von Führern und Massen, das der gleiche Pulsschlag geschichtlicher Einsicht, revolutionären Tatwillens belebt und beherrscht, ein Zusammenwirken, bei dem die Leitung nur der klarste, energischste, kühnste Ausdruck des zusammengeballten Verstehens und Wollens der Gefolgschaft ist. Der Erweckung, Ausbreitung, Pflege und Schulung der revolutionären Erkenntnis und des revolutionären Tatwillens größter Massen der Ausgebeuteten soll und will aber gerade die straffe Zentralisation und die eiserne Disziplin der Kommunistischen Internationale und der ihr angegliederten Parteien dienen. Träger der revolutionären Aktionen der Kommunistischen Internationale können ja nicht Massen sein, die zu Arbeit und Kampf befohlen, sich gedanken- und willenlos einem Kommando von oben unterwerfen, sondern nur Millionen, deren Erkenntnis in freiem Wollen und in freier Disziplin Tat- und Opferbereitschaft wird.

Aber freilich! Die rechtsgerichteten Führer der U.S.P. empfinden, erblicken von alledem nichts. Sie starren wie gebannt auf ein Schreckgespenst ihrer Phantasie, und das heißt: härteste Bevormundung, erbarmungslose Diktatur durch Moskau. Als Beweis dafür, dass dieses Schreckgespenst wirklich lebe, führen sie den Paragraphen der Aufnahmebedingungen an, der die Parteizugehörigkeit Kautskys und anderer kompromittierter und kompromittierlicher Führer des sogenannten „Zentrums“ der Arbeiterbewegung als unvereinbar mit dem Anschluss an die Kommunistische Internationale erklärt. „Seht, welch Beispiel höchster Unduldsamkeit und Vergewaltigung der Meinungsfreiheit, seht die Brutalität des bolschewistischen Juchtenstiefels!“ — so reden in den Tönen höchster Entrüstung diejenigen, die im Innersten widerstreben, dass die revolutionären Proletarier Deutschlands den Weg nach Moskau finden und in Reih und Glied der Kommunistischen Internationale treten. Im Hinblick auf Kautsky und seinesgleichen beschwört Genosse Crispien in tiefster Ergriffenheit Gestalten mit „ehrenvollen Kampfesnarben bedeckt“, und aus Genossen Breitscheids Ausführungen klingt es mit besonderer Beziehung auf Kautsky pathetisch: „Dies Kind, kein Engel ist so rein!“ Nach diesem Gewährsmann hat ja Kautsky nichts anderes getan, als die Bolschewik! kritisiert, und darum Räuber und Mörder! Gemach, ihr Genossen und Genossinnen, die ihr mit diesem Teil eurer Beweisführung gegen Moskau die Sentimentalität, das kurze Gedächtnis, die gedankenlose Großmut der revolutionär gesinnten Massen auszumünzen gedenkt. Blenden euch die „ehrenvollen Kampfesnarben“ der Führer, an die ihr euch mit sehnenden Organen klammert, wirklich derart, dass ihr nicht die blutenden, schwährenden, fressenden Wunden wahrnehmt, die gerade die nämlichen Führer durch ihre Theorie und Praxis dem kämpfenden Proletariat, der Revolution, national und international, geschlagen haben? Vermögen die „ehrenvollen Kampfesnarben“ ungeschehen machen, was ihre Träger durch verwirrende Lehren und abwegige Tat gesündigt haben? Alte Verdienste sind keine Rechtfertigung neuer Verfehlungen, sind kein Freibrief für Torheiten, ja, schwere Vergehen in Theorie und Praxis, sind kein fester Boden für Urteil und Entscheidung in der Gegenwart.

Bleiben wir bei Kautsky. Ist tatsächlich nur deswegen kein Platz für ihn in einer Partei, die zur Kommunistischen Internationale stoßen will, weil er ein unbestechlicher Kritiker der Bolschewiki sei, wie Genosse Breitscheid glauben machen möchte? Wer so urteilt, kennt die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie und Kautskys Wirken nicht. Unbestritten sei Kautskys großes und dauerndes Verdienst, den fortgeschritteneren Arbeitern das ABC des wissenschaftlichen Sozialismus, des historischen Materialismus gelehrt, sich in heißem Ringen darum gemüht zu haben, Marxens Gedankenwelt aufzuhellen, weiter zu entwickeln und einen Stab von Vorkämpfern des Proletariats in ihr heimisch zu machen. Jedoch gerade dieses sein Verdienst lässt seinen „Sündenfall“ um so tiefer unverzeihlicher erscheinen. Kautsky ist in der Periode des aufblühenden Imperialismus und seiner Rückwirkung auf die Arbeiterbewegung vom Künder, Erklärer und Verherrlicher der marxistischen Lehre zu ihrem Verwässerer und schließlich nach Kriegsausbruch zu ihrem Verfälscher geworden. Niemand trägt ein größeres Maß persönlicher Schuld — das Wort mit dem nötigen Gran geschichtlichen Salzes verstanden — an dem Verkommen, der Verlotterung der Sozialdemokratie, der Arbeiterbewegung Deutschlands, als Karl Kautsky. Er hat Schlimmeres getan, als dass er selbst dem Kampfe gegen den parlamentarischen Kretinismus und die Instanzenpolitik, gegen den Opportunismus und Reformismus allmählich ausgewichen ist. Er hat seine Autorität, seinen Einfluss gebraucht, um den Kämpfern dagegen in den Arm zu fallen.

Als bei Kriegsausbruch die Schicksalsstunde der deutschen Sozialdemokratie schlug, offenbarte sich auch sein Verrat am revolutionären internationalen Sozialismus vor aller Augen. In der Sitzung der sozialdemokratischen Parteiführer, in der mit der ersten Bewilligung der Kriegskredite die Entscheidung über die Stellung der deutschen Sozialdemokratie zum imperialistischen Raubkrieg fiel, versagte Karl Kautsky als Theoretiker, als Politiker, als Charakter. Einem Angsthasen gleich, der sich vor dem tobenden Gewitter mit seinem Gussregen unter dichtes Blätterwerk duckt, flüchtete er sich hinter theoretische Bedenken und Silbenstechereien, zitterte und schwankte er zwischen dem internationalen revolutionären Einerseits und dem nationalen bürgerlichen Andrerseits vor der blutbefleckten Fahne der „Landesverteidigung“ hin und her, statt als Führender und Wegweiser die verwirrten Massen zum roten Banner des internationalen Sozialismus zurückzurufen. War es nicht Kautsky, der als Schlafpulver für rebellierende sozialistische Gewissen die famose Theorie der Zweideutigkeit und Feigheit erfand, dass die sozialistische Internationale ein Werkzeug nur im Frieden und nicht im Kriege sei? Anschwellende proletarische Massen begannen sich trotz alledem gegen die imperialistische Politik der Scheidemänner aufzulehnen. Kautsky betäubte und benebelte ihre noch grundsatzunsichere und flügellahme Opposition durch die Weihrauchdüfte, die er vor Wilson, dessen 14 Punkten und dem Völkerbunde steigen ließ, dieser imperialistischen gegenrevolutionären Karikatur der proletarischen Internationale. Er wirkte auf die Entmannung der mächtig emporsprossenden Friedenssehnsucht, der sich regenden Energie der Arbeiter hin, indem er predigte, das Ende des entsetzlichen Völkermordens als Frucht einer Verständigung zwischen den Regierungen der kapitalistischen Weltmachts- und Weltbeutejäger zu erharren und nicht durch die Tat des internationalen Proletariats zu erzwingen. Der militärische Zusammenbruch des deutschen Imperialismus nötigte schließlich dem Reich die Friedensbereitschaft auf. Die Revolution hatte begonnen, Deutschland umzuwälzen, und eine proletarische, eine sozialistische Regierung stand Aug in Auge mit der Aufgabe, die Liquidation des imperialistischen Eroberungskrieges einzuleiten. Kautsky bot damals seinen ganzen Einfluss auf, damit Deutschland diese Liquidation beginne nicht etwa durch ein Schutz- und Trutzbündnis mit dem revolutionären Sowjetrussland, sondern durch demütiges Bitten und Flehen um gnädige Strafe bei den Regierungen des Ententeimperialismus.

Wie hätte auch „der große Theoretiker“ der U.S.P. einen Bruderbund mit dem Staat freier Arbeiter und Bauern befürworten können, der dreist, nein frech genug war, im Widerspruch zu Karl Kautskys Auffassung von den Vorbedingungen eines sozialen Umsturzes zu entstehen und sich zu behaupten? Diesem Staat die stachlichsten Federn einer mit Galle und Hass schreibenden Kritik! Im Gegensatz zu der schweigenden, kritiklosen Toleranz für die Periode der Kerenski-Regierung, des Bundes zwischen Menschewiki, Sozialrevolutionären und der bürgerlichen Demokratie. Ein Bund das, der sowohl in seiner Unfruchtbarkeit, wie durch seine blutige Niederwerfung des revolutionären Proletariats den Traum der „Sozialisierung“ der Ebert-Scheidemann wie die furchtbare Wirklichkeit der Maschinengewehre Noskes vorbildete. Gewiss! Es war Kautskys gutes Recht, die rassische Novemberrevolution, den sogenannten „Bolschewismus“, seine Grundsätze und Methoden geschichtlich, wissenschaftlich zu wägen. Aber das Wie seiner Kritik bleibt ein untilgbares Schandmal auf seinem Werk und seinem Namen. Denn in ihr spricht nicht der wissenschaftliche Forscher, der um Erkenntnis ringt, sondern der voreingenommene Dogmengläubige, der unter allen Umständen zu einer Verurteilung gelangen will. Kautsky hat seine Kritik ohne wirklich tragende Grundlage aufgebaut, ohne genauestes, reichhaltiges, zuverlässiges Tatsachenmaterial. Als solches ist ihm alles, alles recht. Tatsachen sind ihm die Jeremiaden der Emigranten, die Tratsch- und Klatschgeschichten des Fraktionshaders, ja, sogar die ekelhaften Kerichthaufen der kapitalistischen Lügen und Verleumdungen von den „Greueln der Bolschewistenherrschaft“.

Die Novemberrevolution und ihre Auswirkungen betrachtet und wertet Kautsky nicht in ihrer unlösbaren Verknüpfung mit den gegebenen geschichtlichen Umständen. Er will das neue kraftvolle geschichtliche Leben, das unter dem glühenden Odem der Revolution erwacht ist, in die kleine Form seiner Theorien über die Bedingungen der politischen Machtergreifung durch das Proletariat pressen. Doch siehe, es ist zu groß, zu gewaltig, zu eigengeartet für diese Form. Ergo verwirft er es als Verwirrung, ja, Verbrechen. Von dieser Verurteilung der Räteordnung kommt er mit zwangsläufiger Logik zur Preisgabe der proletarischen Demokratie, zur Anbetung der formalen bürgerlichen Demokratie, zum Glauben an den befreienden Parlamentarismus, zur Verfehmung der Diktatur des Proletariats. Die Verdammung der russischen Revolution wird schließlich ebenso zwangsläufig zur Abschwörung der proletarischen Revolution überhaupt. Und das alles in der Zeit, wo das russische Proletariat seine Revolution, seinen Staat, seine Freiheit in einem Kampf auf Leben und Tod unter unerhörten Gefahren und den opferreichen Anstrengungen gegen die internationale und nationale Konterrevolution verteidigen muss; in einer Zeit, wo es den Besitzenden und Ausbeutenden der ganzen Welt ersehntes Ziel ist, mit Räterussland die proletarische Revolution zu erdrosseln. Kautsky, über den die rechtsgerichteten Führer der U.S.P. liebevoll schützend ihre Hände breiten, ist heute der geschätzteste Kronzeuge aller, die den Befreiungskampf des Proletariats, die die soziale Revolution fürchten und hassen.

Kautsky selbst hat einen unüberbrückbaren Abgrund der prinzipiellen Auffassung zwischen sich und der Kommunistischen Internationale aufgerissen. Er selbst hat konsequenter als seine Gönner die Schlussfolgerung daraus gezogen mit seiner Erklärung, dass der Beitritt der U.S.P. zur Dritten Internationale seinen Austritt aus der Partei herbeiführen werde. Und angesichts dieser Tatsache wagen die Genossen Crispien, Breitscheid und andere, die Exekutive der Dritten Internationale so ungefähr als perverse Salome an die Wand zu malen, die vor der U.S.P. um das Haupt Kautskys des Täufers tanzt, der den revolutionären Proletariern predigt: Tuet Buße! Das Himmelreich eines Kapitalismus ist nahe herbeigekommen, der durch eure Ausbeutung und Knechtschaft wieder zu befestigen und zu neuer Blüte zu bringen ist; das Himmelreich eines Kapitalismus, der langsam und gegen gute Entschädigung der Ausbeuter dank der bürgerlichen Demokratie, des Parlamentarismus und der Arbeitsgemeinschaft von Studienkommissionen der Kapitalisten und Proletarier „sozialisiert“ werden wird. Und angesichts dieser Tatsachen leiten die Genossen Breitscheid, Crispien und andere aus der Stellung der Kommunistischen Internationale zu Kautsky und seinesgleichen die Unmöglichkeit des Anschlusses der U.S.P. an Moskau her!

Ist es denn etwas Ungeheuerliches, was die Aufnahmebedingungen in dieser Hinsicht fordern? Keineswegs! Sie sprechen nur eine schlichte Selbstverständlichkeit aus. Wer ein grundsätzlicher Gegner der Kommunistischen Internationale ist, wer ihre Ziele, ihre Kampfmethoden, ihre Aktionen grundsätzlich bekämpft und schmäht, ja, ihre Existenzberechtigung bestreitet: der kann nicht einer nationalen Sektion dieser Internationale angehören. Die rechtsgerichteten Führer der U.S.P. aber heben auf ihren Schild ausgerechnet einen Mann, für den das alles zutrifft und erklären: Nur mit ihm, nicht ohne ihn nach Moskau, es sei denn, dass er uns selbst unterwegs davonläuft. Dabei gibt es kaum eine Stellungnahme zu einem konkreten Fall, zu einer bestimmten Streitfrage der Theorie und Praxis der Revolution, von der die nämlichen Führer nicht, offensichtlich sich bekreuzigend, weit abrücken. „Wie kann man die U.S.P., wie kann man ihre Führer mit Kautskys Ansichten und Forderungen solidarisieren, jene für sie verantwortlich machen! Sie sind etwas rein Persönliches, niemand in der Partei billigt sie oder lässt sich gar von ihnen beeinflussen.“ Das ist die Antwort, die man fast stets erhält, wenn man in Versammlungen oder in Gesprächen die Frage erhebt: Wie steht die U.S.P. zu Kautskys Theorie und Praxis? Wenn die gang und gäbe Antwort zutrifft, wozu dann „Viel Lärm um nichts?“ Wenn in Wahrheit und Tat keine inneren Beziehungen, keine politische Seelenverwandtschaft zwischen Kautsky und der U.S.P. besteht, darf dann, kann dann die äußere organisatorische Zusammengehörigkeit mit diesem Einen höher geschätzt werden, als der Zusammenschluss mit Millionen, die mit den Massen der U.S.P. einig sind über Ziel und Weg, über Grundsätze und Taktik des revolutionären Klassenkampfes? Diese Frage stellen, heißt für den voreingenommenen Menschenverstand, sie beantworten

.... Also

„Erkläret mir, Graf Oerindur,
diesen Zwiespalt der Natur!“

Und dieser „Zwiespalt der Natur“ erklärt sich auch ohne den seligen Grafen Oerindur. Es ist der Zwiespalt in der Natur der rechtsgerichteten Führer der U.S.P. selbst. Sie sind wie die Fledermaus, nicht Vogel, nicht Maus. Der betreffende Paragraph der Aufnahmebedingungen zwingt die Genossen Hilferding, Breitscheid, Crispien etc., öffentlich in aller Form diesen Zwiespalt aufzudecken und die Konsequenzen daraus zu ziehen. Er holt sie heraus aus dem gemütlichen politischen Dämmerlicht einer „vermittelnden und versöhnenden Auffassung und Stellungnahme“ zu den heißumstrittenen Tagesfragen der Revolution. Er stellt sie vor die erbarmungslose Notwendigkeit, sich ohne Wenn und Aber zu entscheiden zwischen rechts und links, zwischen opportunistischem Reformismus und revolutionärem Sozialismus, Kommunismus, zwischen Marx und Wilson, zwischen Scheidemann-Legien und Lenin. Es handelt sich für das gewaltige Heer der Kommunistischen Internationale und ihre einzelnen nationalen Armeekorps wahrhaftig um mehr, als um die Kennzeichnung, den Ausschluss bestimmter Persönlichkeiten, die bewiesen haben, dass sie die befreiungssehnsüchtigen Proletarier nicht in das Land des Sozialismus und Kommunismus führen, sondern sie in der Wüste des Imperialismus irreführen und verführen. Es handelt sich um die Überwindung, die Ausmerzung des Einflusses, den diese Persönlichkeiten noch immer innerhalb der Arbeiterbewegung ausüben, um die Überwindung der Richtungen, die, von diesem Einfluss beherrscht, die erwachenden proletarischen Geister verseuchen und die sich aufreckenden proletarischen Willen lähmen.

Die organisatorische Ausstoßung der Kautsky, Hilferding und ihresgleichen soll ein Symbol sein des entschlossenen Willens der U.S.P. zur restlosen ideologischen Lossagung von der Theorie und Praxis dieser Genossen. Sie ist aufzufassen als das Unterpfand ernsten Ringens, die Partei geistig-politisch von jedem Einfluss der Kautsky, Hilferding zu säubern. Sie ist eine schallende Kriegserklärung an diese Richtung. In der Tat! Was wäre für die Entwicklung, das Leben, die Aktion der U.S.P. gewonnen, wenn Kautsky aus ihr geht oder gegangen wird, wenn aber die Unter-Kautsky im Geiste ihres „Meisters“ ruhig weiter die Partei verwüsten und verderben? Die organisatorische Maßnahme gegen Kautsky u. Co. ist lediglich Ausgangspunkt und Unterstützung des unerbittlichen energischen Kampfes zur vollständigen geistigen Überwindung der Richtung.

Allein das ist es gerade, was den Ausschlussparagraphen den rechtsgerichteten Führern der U.S.P. so verhasst, so unannehmbar macht. In ihrem Innersten fühlen sie sich, fühlen sie ihren Opportunismus durch ihn verurteilt, gerichtet. Auf öffentlichem Markt mögen sie ihren „Meister“ Kautsky verleugnen, aber in den Tiefen ihres Wesens sind sie seines Geistes voll. Zwar hat das revolutionäre Reifen proletarischer Massen sie gezwungen, der Räteordnung, der Diktatur des Proletariats, dem Generalstreik und bewaffneten Aufstand, der russischen Novemberrevolution und der Kommunistischen Räterepublik, der Dritten Internationale freundliche Blicke und Kusshändchen zuzuwerfen. Jedoch mit beiden Füßen stecken die Genossen Crispien, Breitscheid, Hilferding und andere noch tief in dem schwammigen Boden der Theorie und Praxis der verhältnismäßig friedlichen Vorkriegszeit. Deshalb jener Widerspruch zwischen ihrem grundsätzlichen Bekenntnis und ihrem praktischen Handeln, ein Widerspruch, der in dem grundsatzunsicheren Hin und Her der U.S.P. seinen Ausdruck findet; in ihrer Aktionsschwäche und Aktionsunfähigkeit trotz des ausgedehnten wohlausgebauten Organisationsapparates, über den sie verfügt; in dem Versagen, ja dem Verrat von einzelnen Führern und Gruppen der Partei in entscheidenden Fragen und Augenblicken. Dafür einige Beispiele.

Nach dem tollen Fastnachtsspuk einer Verankerung der Räte in der Gesetzgebung hat sich die U.S.P. grundsätzlich und programmatisch zur Räteidee bekannt. Alles in allem hat sie aber bis jetzt mehr getan, diese Idee zu sabotieren, als zu verwirklichen. Das Paktieren mit der Gewerkschaftspolitik alten Stils und ihren bürokratischen Vertretern ist dafür ebenso maßgebend, wie eine falsche Einschätzung, des Parlamentarismus und der gegebenen geschichtlichen Situation. Als der Kapp-Putsch die Arbeiter aus den Fabriksälen und Gruben zu den Waffen rief, deckte die U.S.P. unter Crispiens Führung das schandbare Verhalten der Legiene und Scheidemänner. Sie ließ es geschehen, dass diese Herren die Ziele der Erhebung fälschten, dass der Kampf für die Entwaffnung des Bürgertums und die Bewaffnung des Proletariats zu einer Rettungsaktion für die schwarz-rot-goldene Koalitionsregierung der Sozialpatrioten und bürgerlichen Demokraten herabsank; dass an Stelle des Handelns für die revolutionären Losungen der Stunde der Handel mit der Regierung um Konzessiönchen trat; dass der Generalstreik in Berlin abgeblasen wurde, ehe er noch seine volle Wirkung zur Unterstützung der Streiter im Ruhrrevier ausgeübt hatte.

Die Berliner „Freiheit“ begrüßte das Abkommen zu Spaa als „einen Schritt zur Völkerverständigung“. Eine Auffassung das, die eines politischen Säuglings würdig ist, und die seither glänzend „bestätigt“ wurde durch die gesteigerte und betätigte Ausbeutungsmacht der Ententeimperialisten dem deutschen Proletariat gegenüber und durch die kriegsschwangere Weltlage, insbesondere durch den Kreuzzug der internationalen Gegenrevolution wider Sowjetrussland. Das nämliche Blatt erblickte hoffnungsselig jubilierend in den Festsetzungen des Abkommens über die Entwaffnung den Anfang zur Überwindung des Militarismus in Deutschland. Das Entwaffnungsgesetz mit dem Entwaffnungskommissar, dem „Militärdiktator im Gehrock“, die schamlose Begönnerung der Orgesch, das planmäßige Rüsten der Gegenrevolution haben ebenso glänzend diese Einschätzung „bestätigt“. Die „Freiheit“ — man vergesse es nicht ~ ist das Zentralorgan, das führende Organ der U.S.P., die die angezogenen bürgerlichen Auffassungen nicht abgeschüttelt hat. Die Reichstagsfraktion der Partei hat denn auch das Abkommen zu Spaa wohl kritisiert, jedoch nicht grundsätzlich und in aller Form abgelehnt, wie die Kommunisten dies taten. Die „Freiheit“ schlug Purzelbäume der Begeisterung vor dem Außenminister Dr. Simons, den sie wegen einiger freundlicher Sätze für Sowjetrussland als „weißen Raben“ und Staatsmann pries. Den nämlichen Minister, der in Spaa Lloyd George gelobt hatte, die Regierung des Kapp-Ersatzes werde die Revolution in Deutschland niederschlagen, wie Thiers' Versailler Ordnungsbanditen die Pariser Kommune niedergeschlagen haben, wenn nur dabei der Ententeimperialismus nach dem Muster des deutsch-preußischen Militarismus freund-nachbarliche Hilfe leiste.

Alle Widersprüche zwischen radikaler Theorie und opportunistischer Praxis der rechtsgerichteten U.S.P.-Führer erscheinen zusammengefasst, fest kristallisiert in ihrem unsagbar schimpflichen Versagen angesichts der jetzt notwendigen Solidaritätsaktion des deutschen Proletariats mit Sowjetrussland. Wie denn liegen die Dinge? Sowjetrussland wird von der Gegenrevolution der ganzen Welt berannt; von ihr unterstützt, ausgerüstet, bezahlt, soll das weißgardistische Polen den Staat freier Arbeiter und Bauern zerschmettern. Sowjetrussland kämpft nicht bloß für seine eigene Existenz, es kämpft für die Weltrevolution, es ist der Preisfechter der Ausgesogenen und Versklavten aller Länder. Das Proletariat der ganzen Welt muss ihm in seinem Verteidigungskrieg zur Seite stehen. Eine besondere Bedeutung kommt dabei dem Handeln, dem Kampf der deutschen Arbeiter zu. Sie dürfen ihre russischen Brüder, die Revolution, nicht abermals verraten, sie haben alte und große Schuld zu sühnen. Es ist ihre heiligste Ehrenpflicht, tatkräftige Solidarität mit Sowjetrussland zu üben und mit ihm ihre eigene Revolution zu schützen. Die Solidaritätsaktion für den einzigen Proletarierstaat der ganzen Welt ist“ eine wichtige, ja entscheidende Etappe im Entscheidungskampf der deutschen Arbeiter. Die Verhältnisse fordern, dass sie die vollständige Blockade des Polens der Junker- und Kapitalistenherrschaft mit höchster Energie durchführen und sich die dafür nötigen Kampforgane schaffen: politische Arbeiterräte.

Was jedoch tun die rechtsgerichteten Führer der U.S.P.? Wir sehen davon ab, dass die Partei in ihrer Gesamtheit vor der Lösung zurückschreckt: Wahl politischer Arbeiterräte. Führer der Partei sitzen in der Reichskontrollkommission für den Verkehr mit den Vertretern des Transport- und des Eisenbahnerverbandes, des Gewerkschaftsbundes und der Mehrheitssozialdemokratie zusammen — die Delegierten der Kommunistischen Partei sind unter einem nichtigen Vorwand ausgeschlossen worden. In der Kommission haben vom ersten Tage an die Schwäche und Halbheit, der schleichende Verrat der Gewerkschaftsbürokraten und Sozialpatrioten ihr Haupt erhoben. Statt tapfer den Kampf dawider aufzunehmen oder aber die lauernde Kapitulation vor der Gegenrevolution den breitesten Massen zu demaskieren, sind die Helden der U.S.P. Schritt für Schritt zurückgewichen. Es lag auf der Hand, dass die Kontrolle des Verkehrs, die Verhinderung von Zufuhr für Polen nur durchgesetzt werden konnte, aber auch durchgesetzt werden musste als ein Teil des Kampfes der deutschen Arbeiter um die politische Macht. Die Führer der U.S.P. in der Kommission verzichten darauf, um die Macht der unbeschränkten, wirksamen Kontrolle des Verkehrs zu kämpfen. Als Bundesbrüder der Legien und Hermann Müller schacherten und feilschten sie mit dem Reichsverkehrsminister, dem Reichswehrminister, dem Außenminister — kurz mit allen möglichen und unmöglichen Regierungsmännern um einen Brosamen Erlaubnis für die Arbeiter, unter bestimmten Bedingungen und Kautelen bei der Kontrolle der Eisenbahnzüge, Schiffe usw. durch die „berufenen und befugten amtlichen Dienststellen“ bescheidentlich mitwirken zu dürfen. Eine Scheinkontrolle das, bei der Massen von Heeresbedarf nach Polen gelangen. Wie die Macht zur Kontrolle des Verkehrs, so gaben die rechtsgerichteten Führer der U.S.P. das eigentliche Ziel der proletarischen Aktion preis. Sie sagen Ja und Amen dazu, dass unter Berufung auf den Versailler Vertrag Züge und Transporte unbehindert nach Polen gehen sollen, die statt der erlaubten Friedensgüter Mord Werkzeuge, Munition usw. führen. So haben sie eine revolutionäre Solidaritätsaktion der deutschen Arbeiter für Sowjetrussland herabgedrückt zum Handlangerdienst für die schwindsüchtige verlogene Neutralität, die die deutsche Regierung mit Worten gelobt, um sie in der Tat durch die skrupelloseste Begünstigung militärischer Ententetransporte für Polen mit Füßen zu treten. Die rechtsgerichteten Führer der U.S.P. sind aus aufrechten Kämpfern für die Revolution zu dienstbeflissenen Lakaien der deutschen Regierung geworden. Die revolutionäre Phrase hat der gegenrevolutionären Tat Platz gemacht. Auch an den Händen rechtsgerichteter Führer der U.S.P. klebt das Blut russischer Rotarmisten, die in Polen von Ententegeschossen verstümmelt und gemordet wurden.

Mit voller Absicht spreche ich in diesem Zusammenhang von den rechtsgerichteten Führern der U.S.P. und nicht bloß von den Vertretern der Partei in der Reichskontrollkommission. Denn diese handeln im Geiste und mit der stillen oder auch lauten Zustimmung jener, die dem ,,klugen Rechnen mit dem gegebenen Machtverhältnis“ der Legien und Gesinnungsgenossen Beifall klatschen, aber entsetzt und verwünschend die Hände ringen ob der ruhmvollen Tat Erfurter Eisenbahner, die die fälschlich als Lebensmittel angegebene große Munitionsladung eines Poloniazuges vernichteten. Solche wirkliche Solidarität mit Sowjetrussland widerspricht der Neutralität, „wie die Regierung sie auffasst“, so klagen die Genossen der U.S.P., denen jeder Buchstabe des Versailler Schwertfriedens ein Rühr-mich-nicht-an und jede verlogene Auslegung seiner Bestimmungen durch die Ententeimperialisten ein Gottesgebot ist. „Wollt Ihr verantwortungslosen Kommunisten das unglückliche schwache Deutschland in einen neuen Krieg mit der übermächtigen Entente treiben, die Arbeiter in die Schützengräben?“ Worauf zu erwidern ist, dass die Neutralität nicht gebrochen, sondern nur erfüllt und vor freventlicher Verletzung durch die Entente geschützt wird, wenn .die Arbeiter es vereiteln, dass statt der vertragsmäßig festgelegten Transporte Kriegsbedarf für das weißgardistische Polen durch Deutschland geführt wird. Weiter, dass angesichts der wirtschaftlichen und politischen Weltlage auch der siegesgeschwollene Ententeimperialismus sich zweimal überlegen muss, ob es ratsam ist, wegen der Verhinderung friedensbrecherischer Transporte das entwaffnete Deutschland zu überfallen. Man denke an die Aufstände und Rebellionen gegen die englische Ausbeutungsherrschaft in Irland, Indien, Ägypten, Mesopotamien; an den Aktionsausschuss der organisierten englischen Arbeiter zur Erhaltung des Friedens; an die drohenden gewaltigen Streiks und all die inneren Schwierigkeiten des englischen Imperiums. An Frankreichs steigende Finanz- und Wirtschaftsnöte, an den wachsenden Abscheu und die Angst breiter bäuerlicher, proletarischer und kleinbürgerlicher Kreise vor den Blutopfern eines neuen Krieges; an die überhand nehmende revolutionäre Gährung in der Arbeiterklasse. An Italiens zerrüttete Wirtschaft und verzweifelte, Finanzlage; an die immer wieder ausbrechenden Bewegungen und Streiks der Industrie- und Landarbeiter, die den Staat elementar erschüttern. Schließlich und vor allem! Nicht bloß rechtsgerichtete Führer der U.S.P. haben im Kampf um Organisationssatzungen eine Ehre zu wahren. Das deutsche Proletariat muss seine Ehre vor der Weltgeschichte rein halten. Es kommt um eine Entscheidung nicht herum, wenn es vor die Frage gestellt wird: Mit Sowjetrussland für die Weltrevolution, oder aber mit der deutschen Bourgeoisie und dem Ententeimperialismus zusammen gegen Sowjetrussland und für die Konterrevolution.

Es war unangenehm, jedoch unumgänglich notwendig, einige Tat- und Unterlassungssünden der rechtsgerichteten Führer der U.S.P. kurz zu streifen. Denn diese Tat- und Unterlassungssünden sind kennzeichnend für die gesamte Politik der Partei. Die Führer des rechten Flügels bestimmen eine Politik, die ihrem Wesen nach kleinbürgerlich-demokratisch, reformlerisch-sozialpazifistisch ist und eine Brücke nach rechts baut zu den Sozialpatrioten und Gewerkschaftsbürokraten. Die Führer des linken Flügels dürfen zu dieser Politik die radikale Resolutionsmusik machen, die als „kleines Frühlingslied“ revolutionärer Grundsätze bis zu dem Haus der Kommunisten hinausklingen soll. Die Einheitsfront nach rechts mit der vollgewichtigen Tat, die Einheitsfront nach links mit dem verklingenden Wort, das war bis jetzt die Politik der U.S.P. als „Zentrum“ der deutschen Arbeiterbewegung. Es ist aber diese Politik keineswegs die Fassung, geschweige denn der Sinn der vom Weltkongress beschlossenen organisatorischen Aufnahmebedingungen, der der U.S.P. den Weg zur Kommunistischen Internationale verlegt.

Alles Drehen und Deuteln, Pressen und Strecken, Auslegen und Unterlegen der Paragraphen durch die rechtsgerichteten Führer dieser Partei soll nur die Aufmerksamkeit der proletarischen Massen davon ablenken, welches der letzte und tiefste Grund des Kampfes gegen Moskau ist. Die Träger und Gläubigen der rechtszielenden Politik der U.S.P. wollen den Anschluss an die Kommunistische Internationale nicht. Sie können ihn nicht wollen. Er hätte die Abschwörung ihrer Vergangenheit, den Bruch mit ihrer grundsätzlichen und taktischen Haltung zur Voraussetzung. Es ist nicht wahr, dass für ein gesundes starkes Eigenleben der U.S.P. in der Kommunistischen Internationale kein Raum sei, hingegen aber schlage diese mit Fug und Recht das Eintrittstor vor der wackelnden und fackelnden Politik der Führer des rechten Flügels zu. Allein diesen steht das Festhalten an ihrer Politik über der Einreihung der Partei in die Dritte Internationale. Ihr Sichwehren und -sträuben gegen die Aufnahmebedingungen ist in Wirklichkeit ein Kampf gegen den neuen Weltbund des Proletariats und die ihn leitenden Grundsätze.

Dadurch erklärt es sich auch, dass die Genossen Dittmann, Crispien und ihre Richtungsfreunde wider das „brutale“ Moskau noch andere Kräfte mobilisieren, als bloße Rabulistereien um Organisationsparagraphen. Sie haben die „Wahrheit“ und die „Wissenschaft“ dagegen aufgeboten. Die „Wahrheit“ in der Person des Genossen Dittmann, der in Artikeln der „Freiheit“, wie in Versammlungs- und Konferenzreden auf Grund „persönlicher Erlebnisse“ den deutschen Arbeitern mit brennendem Seelenschmerz und leidenschaftlicher Entrüstung enthüllte, welche entsetzlichen Zustände in Russland herrschen, und zwar seiner Meinung nach offenbar zum mindesten nicht ohne sehr schwere Mitschuld des „Bolschewismus“, „seiner irrigen Grundsätze“ und „verhängnisvollen Methoden“ herrschen. Die „Wissenschaft“ in der Person des Professor Ballod, der in einer Konferenz der Berliner Parteifunktionäre der U.S.P. auf Grund seiner statistischen Erhebungen in der Räterepublik ebenfalls schaurige Bilder von der Zerrüttung der russischen Wirtschaft und ihrer Auswirkung auf die gesellschaftlichen Verhältnisse zeichnete. Aus seinem Zahlenmaterial leitete er ähnliche politische Verdammungsurteile über die Räteordnung ab, wie Genosse Dittmann.

Allerdings! Herr Professor Ballod und Genosse Dittmann hätten sich die Unkosten der Reise, die mühereichen wissenschaftlichen Untersuchungen und die schmerzhaften persönlichen Erfahrungen sparen können, um das Tatsachenmaterial zu erlangen, auf das sie ihre persönlichen Werturteile stützen. Tatsachenmaterial über den tiefen Stand der russischen Wirtschaft sammelt und veröffentlicht nämlich die Sowjetregierung in reichster Fülle. Die in der Räterepublik erscheinenden Tageszeitungen und Fachzeitschriften usw., die Verhandlungen der Sowjetkörperschaften, der Partei-, Gewerkschafts- und Arbeiterkongresse, die Reden und Schriften der führenden Bolschewiki sind voll von solchem Material. Sie decken rücksichtslos, ja, mit brutalem Wahrheitsmut die Wunden und Schäden des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens auf, das sich unter dem latenten Druck ungeheuerlichster Schwierigkeiten auf einer sich umwälzenden Grundlage zu erneuern beginnt. Sie zeigen, untersuchen ohne Scheu die Schwächen, Fehler, Irrtümer, das Suchen und Tasten bei Überwindung der alten und beim Aufbau der neuen Ordnung. Sie verhehlen nichts, beschönigen nichts, entschuldigen nichts. Sie sprechen aus, was ist, sprechen es in sachlicher Ehrlichkeit aus, damit alle mit Hand und Hirn Schaffenden, damit die Sowjetmächte zu bessern, aufzurichten vermögen. Die „Russische Korrespondenz“, zahlreiche Broschüren und Artikel vermitteln dem Ausland das einschlägige Tatsachenmaterial.

Allein diese Veröffentlichungen zeigen auch ein anderes. Sie erweisen die Riesenwiderstände, unter denen Sowjetrussland die kommunistische Kelle handhabt, weil es das Schwert der Verteidigung gegen Feinde ringsum führen muss. Der Kampf gegen Hunger, Blöße, Frost, Seuchen, aber auch gegen Trägheit, Arbeitsscheu, Unredlichkeit, Selbstsucht und andere Überlebsel der alten Ordnung der Dinge in Arbeits- und Lebensgewohnheiten wird tausendfach gehemmt und erschwert durch das Ringen mit der Gegenrevolution im Innern und an den Grenzen, durch die eiserne Blockade des Landes. Und trotz alledem und alledem kräftige, gesunde Keime und Schösslinge neuen höheren gesellschaftlichen Werdens. Die Wirtschaft beginnt sich langsam zu heben. Die Organisation der gesellschaftlichen Einrichtungen wird eine bessere. „Die große Initiative“ der kommunistischen Samstage und Sonntage, an denen im allgemeinen Interesse freiwillige und unentgeltliche Arbeit geleistet wird, ist Vorbote und Bürgschaft dafür, dass „neue Menschen“ mit starkem Willen und größter Hingabe eine „neue Welt“ schaffen. Auf dem Gebiete des Bildungswesens, der Fürsorge für Mutter und Kind, für Kranke und Alte entsteht Großzügiges, Mustergültiges. Die mächtig emporwachsende Neuschöpfung zwingt den französischen Hauptmann Sadoul, der als Vertreter seiner Regierung und als Gegner des „Bolschewismus“ nach Russland kam, zu dem bewundernden Urteil: „Titanenwerk, von Titanen verrichtet!“ Und über den dunklen Tiefen der Not, des Zerfalls, erhebt sich leuchtend fortreißend der heiße Wille von Millionen zur Freiheit, ein Wille, der wagemutigstes Heldentum und selbstverleugnendes Martyrium zeugt. Revolution, weltgeschichtlicher Schöpfungstag!

Die personifizierte „Wahrheit“ und „Wissenschaft“ hatten offenbar kein Auge und Ohr, kein Herz für das aus Not und Nacht hervordrängende Leben. Herr Prof. Ballod ist ein angesehener Statistiker und niemand wird unterschätzen, was die Statistik als Hilfswissenschaft bei der Überwindung des Kapitalismus und bei der Verwirklichung einer sozialistischen, einer kommunistischen Ordnung zu leisten vermag, jedoch Herrn Prof. Ballods Schriften — so namentlich auch sein letztes bekanntes Buch über die Produktion im sozialistischen Staat — beweisen seine Schwächen als Theoretiker, als sozialer Forscher. Für ihn erschöpft sich das gesellschaftliche Vergehen und Werden in Additionen, Subtraktionen, Multiplikationen und Divisionen von Rohstoffen, Gebrauchswerten, Arbeitsmitteln, menschlichen und dinglichen Produktivkräften, andererseits von den Bedürfnissen alles, was da lebt, kreucht und fleucht. Nun lassen sich wohl die Bedürfnisse der Menschen an Speise und Trank, an Wohnung und Kleidung statistisch berechnen, jedoch nicht so die vielgestaltigen, unmessbaren und unwägbaren Ausstrahlungen und Bedürfnisse ihres geistigen Lebens. In der Gesellschaft und ihrer geschichtlichen Entwicklung ist der Mensch in der Folge kein Kügelchen, das sich auf der Rechenmaschine mit unbedingt richtigem Ergebnis hin- und herschieben lässt. Herr Professor Ballod konnte mithin wohl mehr oder weniger zutreffend herausrechnen, wie groß der Mangel Sowjetrusslands am nötigsten Lebensbedarf ist, wie unmöglich es ihm dünkt, dass das Land bei seiner Armut Getreide usw. ausführen könne. Es ist jedoch ausgeschlossen, dass er schwarz auf weiß die Summe höchstgespannter Energie, des grenzenlosen Opfermuts, der kühnen Kampfesbegeisterung feststellen kann, die der „Bolschewismus“ aus den Massen herauszuschlagen vermag — wie die Funken aus dem Feuerstein — um der beispiellosen Schwierigkeiten des Aufbaus Herr zu werden. Herr Prof. Ballod soll übrigens als Vertreter der bürgerlichen lettischen Regierung in Russland gewesen sein, die eine geschworene Feindin der Räteordnung ist.

Und Genosse Dittmann? Er hat im Nebenbei und Zwischendrin eines internationalen Kongresses mit seinen Sitzungen und Besprechungen, mit seiner Unruhe und Aufregung seine Eindrücke und Erfahrungen gesammelt. Er hat sich in einer Versammlung die schweren Klagen und Anklagen enttäuschter deutscher. Einwanderer vortragen lassen, die in Sowjetrussland allem Anscheine nach ein gelobtes Land kleinbürgerlicher Behaglichkeit zu finden hofften, da Milch und Honig fließt. Er hat das Leben in Moskau flüchtig kennen gelernt, hat eine einzige Fabrik in dem Städtchen Kolomna besucht und vernommen, was ihm Menschewiki, Sozialrevolutionäre und andere Antibolschewisten über die Unfähigkeit und den Terror der kommunistischen „Oberbonzen“ zuflüsterten. Einem gewissenhaften Führer ist das, alles zusammengenommen, doch eine sehr schmale und wacklige Grundlage für allgemeine politische und soziale Schlussfolgerungen. Allein dem Aufklärungsbedürftigen Heil! Genosse Dittmann hat Otto Bauer gelesen und verstanden, den österreichischen Marxisten, der sogar als „radikal“ gilt, wie ja auch Genosse Dittmann „radikal“ ist.

Genosse Bauer hat frei nach Kautsky nachweisen wollen — nur nicht so plump, gehässig und langweilig wie dieser — , dass die Sowjetordnung letzten Endes ein untauglicher Versuch mit untauglichen Mitteln am untauglichen Objekt ist, um den Sozialismus zu verwirklichen. Was die Unreife der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse in Russland versagt, das wollen die Bolschewiki angeblich mit Gewalt erzwingen. Nämlich die Umformung des überwiegend bäuerlichen Staates mit schwacher kapitalistischer Industrie in eine kommunistische Gesellschaft. Der „Bolschewismus“ mit seinem Terror ist eine Fortentwicklung des zaristischen Despotismus. Die Formen und Methoden seines Kampfes und seiner Herrschaft sind nur möglich bei politisch „stumpfsinnigen Volksmassen“, die sich in gläubigem Fatalismus von der eisernen Faust einer kleinen entschlossenen, fanatischen Minderheit lenken und kneten lassen. Es ist unmöglich, im Rahmen dieser Ausführungen das Unrichtige der Bauerschen Auffassung zurückzuweisen, die echtester Vulgärmarxismus ist. Es genügt hier, festzustellen, dass Genosse Dittmann Otto Bauers. Werturteile entzückt nachbetet. Er spielt sie für ein Unannehmbar gegen die Aufnahmebedingungen der Kommunistischen Internationale aus.

Diese Aufnahmebedingungen sind nach ihm Fleisch vom Fleisch und Geist vom Geist des im „Bolschewismus“ modernisierten Zarismus, sind Vergewaltigung, Terror, Diktatur einer Minderheit. Ihnen können sich nur Parteien unterwerfen, die kulturell tiefstehende, gedankenlose Massen in ihrer Gefolgschaft schleifen. Sie sind unannehmbar für eine Partei deutscher Arbeiter mit ihrem hochentwickelten „Persönlichkeits- und Selbstbewusstsein“. Vergessen wir nicht, was Genosse Dittmann selbst vergessen zu haben scheint: dass es ein Bekenner des internationalen Sozialismus ist, ein Führer, der für seine Partei an das Tor der Kommunistischen Internationale klopft, der so wegwerfend, so verächtlich von den russischen Proletariermassen redet, die ihre politische Reife erhärtet haben im Feuer der Revolution, die im zähen Kampfe, Brust an Brust, mit der Gegenrevolution Hunderttausende von Leben und Jahre des Hungers, des Elends für ihre Freiheit, für die Freiheit ihrer Brüder und Schwestern in der ganzen Welt einsetzten. Aus Genossen Dittmanns Äußerung spricht der unverfälschte Hochmut des westeuropäischen Bildungsphilisters auf eine Handvoll armseligen Schulwissens, auf die „Kultur“ des Zimmers mit „stilvollen“ Möbeln, Kunstwart-Holzschnitten und modernen Steinzeichnungen, auf die tadellos gebundene Krawatte und den gepflegten Bart, zugleich aber die vollständige Unfähigkeit, Menschen einer anderen als der heimischen Kultur unbefangen zu werten, sie nach ihrer eigenen Welt zu messen und nicht nach der westeuropäischen Umwelt mit ihren Maßstäben. Wie ganz anders als Genosse Dittman urteilte seinerzeit im „Berliner Tageblatt“ Dr. Hans Vorst über die „stumpfsinnigen Russen“. Er hob als einen der bemerkenswertesten Züge hervor, dass die Revolution in Russland die breitesten Volksmassen „politisiert“ habe. Industriearbeiter, Hausknecht, Bauer, ob sie Analphabeten sind oder nicht, alle denken und suchen auf ihre Weise sich mit den politischen Tagesfragen auseinander zusetzen. Herr Dr. Vorst ist ein eingefleischter Antibolschewist, allein im Gegensatz zum Genossen Dittmann flitzte er nicht bloß im Fluge durch Sowjetrussland und spricht auch Russisch.

Ein Wort über das hochentwickelte „Persönlichkeits- und Selbstbewusstsein“, das nach dem Führer der U. S. P. den deutschen Arbeitern verbietet, ihren stolzen Nacken unter dem Moskauer Tyrannenfuß zu beugen. Das hohe „Persönlichkeits- und Selbstbewusstsein“ der deutschen Arbeiter hat die entsetzlichsten Militärmisshandlungen ertragen lassen, die jedes Menschentum schändeten und auslöschten, Militärmisshandlungen, wie sie kein anders Volk der Welt je erduldete. Es hat nicht dagegen rebelliert, dass Millionen im Dienste des Imperialismus mordeten und gemordet wurden. Es fand sich damit ab, dass gewerkschaftlich und politisch organisierte Männer mit dem Erfurter Programm im Herzen und dem sozialdemokratischen Parteiblatt im Tornister ihre Bajonette in die Brust von Arbeitern und Bauern stießen, die in Russland, in den Ostseeländern, in Polen und in der Ukraine sich gegen ihre Ausbeuter und Herren erhoben hatten. Das feine „Persönlichkeits- und Selbstbewusstsein“ der Kieler Mehrheitssozialdemokraten bäumte sich nicht empört auf, als ihr Parteigenosse Noske 15.000 revolutionär kämpfender Brüder und Schwestern erschlagen ließ; dafür geriet es allerdings in heftigste Wallung und forderte Noskes Ausstoßung aus der Partei, als dieser Arbeitermörder sie durch eine Äußerung seines Buches beleidigt haben sollte. Es äußerte sich in den hässlichsten, ekelerregendsten Streitigkeiten um die Unterstützungsfrage bei der internationalen Maifeier, während die „stumpfsinnigen“ russischen Arbeiter bei dieser zu Hunderten in die Kerker, in Sibiriens Eiswüsten, in den Tod gingen. Ich hüte mich, den Spuren von Genossen Dittmanns geschichtlichem Sinn zu folgen und allgemeine Schlussfolgerungen aus diesen Feststellungen zu ziehen. Jedoch legen diese die Frage nahe: Warum zum Teufel sollte sich das gesteigerte „Persönlichkeits- und Selbstbewusstsein“ der deutschen Arbeiter mit jedem Druck, jeder Vergewaltigung, jeder Schmach, jeder Infamie vertragen, aber ausgerechnet einzig und allein nicht mit den Moskauer Aufnahmebedingungen, mit der freigewollten und freigewährten straffen Zentralisation und Disziplin der Kommunistischen Internationale?

Genossen Dittmanns Behauptung ist nichts als eine weitere Möchtegern-Abschreckung der Arbeiter in der U. S. P. vor dem Wege nach Moskau. Die Erklärung für die Behauptung ist die scharfe innere Ablehnung der Grundsätze und Taktik der Kommunistischen Internationale durch die rechtsgerichteten Parteiführer. Die Kennzeichnung dürfte stimmen, die der Mehrheitssozialdemokrat Dr. Nestriepke in einer Versammlung seiner Partei nach dem „Vorwärts“ gegeben hat. Er sagte: „Nun kämpfen ja jetzt die Dittmann, Hilferding und andere gegen den Bolschewismus öffentlich an. Wie ich weiß, waren sie schon früher Gegner des bolschewistischen Systems, aber in der Öffentlichkeit traten sie nicht als solche auf. In der privaten Unterhaltung dagegen machte man sich lustig über das russische Rätesystem. Es ist bezeichnend, dass das Buch Kautskys der Chefredakteur Hilferding, Kautskys persönlicher Freund, nicht mal in der „Freiheit“ anzupreisen wagte. Und es ist bezeichnend, dass Dittmann jetzt die Broschüre Otto Bauers zum größten Teil ausschreibt. Die „Freiheit“ wagte aber die Kritik Otto Bauers gegenüber dem bolschewistischen Experiment ihren Lesern nicht vorzusetzen.“ Dr. Nestriepke war bis vor kurzem Redakteur der „Freiheit“. Er ist also nicht ununterrichtet über die Meinungen und Gepflogenheiten in den Führerkreisen des rechten Flügels der U. S. P. Die Genossen Dittmann, Crispien usw. donnern gegen den Bolschewismus, aber die Kommunistische Internationale meinen sie. Denn es ist klar, dass die Kommunistische Partei Rußlands in ihr die führende Partei ist. Nicht infolge terroristischer Praktiken der Lenin und Sinowjew, sondern entsprechend den praktischen Erfahrungen und theoretischen Einsichten, die ihnen ihr Kampf für die Revolution, ihr Wirken in der Revolution verliehen hat.

Im Lichte dieser geschichtlichen Zusammenhänge sind auch die Zugehörigkeitsbedingungen zur Kommunistischen Internationale zu würdigen und die Wesenszüge, die das Gepräge russischen Ursprungs tragen. Die Bedingungen sind der organisatorische Niederschlag der theoretischen Erkenntnisse, der praktischen Erfahrungen, die Weitkrieg und Revolution den Kommunisten vermittelt haben. Sie sind der konsequente organisatorische Ausdruck der Ziele, die die Kommunistische Internationale erstrebt, der Wege, die sie zu diesem Ziel beschreiten muss, der Methoden, deren sie sich im Kampfe zu bedienen hat. Dem Weltkrieg folgt als Weltgericht die Weltrevolution zur Befreiung der Ausgebeuteten und Enterbten; die durch den Völkermord zerrüttete kapitalistische Wirtschaft der bürgerlichen Gesellschaft kann je länger je weniger die dünne Oberschicht der Proletarier mit Reformen abspeisen, kann den breitesten Massen der Schaffenden nicht mehr die nackte Existenz sichern, es sei denn, diese Massen ducken sich feig, mit Verzicht auf ihr Menschentum, unter stärkere Auswucherung und härtere Knechtschaft.

In allen Ländern wird der Klassenkampf zwischen Proletariern und Kapitalisten mehr und mehr aus einer Auseinandersetzung um Reformen in der bürgerlichen Gesellschaft zum Bürgerkrieg für die Beseitigung des Kapitalismus. Unzweideutig offenbart sich der Charakter des bürgerlichen Staates als eines ausbeuterischen, versklavenden Klassenstaates, die Hohlheit der bürgerlichen Demokratie, des Parlamentarismus, für das Proletariat. Die Bourgeoisie zertrümmert in steigendem Maße die Gesetzlichkeit ihrer eigenen Ordnung. Generalstreik und bewaffneter Aufstand werden die entscheidenden Kampfesmittel des Proletariats. Der sich zum Bürgerkrieg verschärfende Klassenkampf zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten zwingt die breitesten Massen ins Gefecht. Diese müssen national zusammengefasst und geleitet werden durch eine kommunistische Partei, die ihnen zielsetzend und wegweisend entschlossen voranschreitet, in jeder Schlacht — mag sie mit Sieg oder Niederlage enden — den nächsten Kampf auf höherer Stufenleiter vorbereitend, bis zur Eroberung der politischen Macht und der Aufrichtung der Räterepublik. Je nach den geschichtlichen Umständen wirkt und kämpft die Kommunistische Partei mit legalen oder illegalen Mitteln oder auch mit beiden zusammen. Der sich international sammelnden und vorstürmenden Gegenrevolution müssen die Proletarier aller Länder eine kommunistische Weltpartei entgegenstellen, die, eins in Ziel und Weg, zur unbezwinglichen Kampfesmacht wird.

Die Grundlage der Kommunistischen Partei jedes einzelnen Landes und der sie zusammenfassenden Kommunistischen Internationale ist die fest abgegrenzte, einheitliche ideologische Auffassung des geschichtlichen Entwicklungsganges und der Aufgabe des Proletariats darin, ist das Bekenntnis zur Räteordnung, zur Eroberung der politischen Macht und zur Diktatur des Proletariats. Das Mittel zur Auswirkung der kommunistischen Parteien in der Kommunistischen Internationale ist die Organisation. Diese muss derart gestaltet sein, dass sie sich allen Möglichkeiten und Aufgaben des Kampfes anpasst. Sie muss fest genug sein, um beim Untertauchen der Parteien in die Tiefen illegaler Betätigung nicht auseinander zu fallen, und elastisch genug, um alle Gebiete legalen Wirkens erfassen zu können. Die für sie gebotene Form ist daher die der straffsten Zentralisation, und ihr Hauptgebot lautet: eiserne Disziplin. Straffste Zentralisation der kommunistischen Parteien und der Kommunistischen Internationale ist durchaus nicht gleichbedeutend mit despotischer Befehlsgewalt der Führer. Die Zentralisation, so heißt es ausdrücklich, ist eine demokratische. Die Autorität der Führung steigt von unten nach oben empor. Die Führenden können sich nur solange an der Spitze halten, als sie, kühn voranschreitend, treueste Vollstrecker des Willens der Gefolgschaft sind.

Die Zentralisation und Disziplin der Kommunistischen Internationale verneinen keineswegs die Berücksichtigung der vorhandenen geschichtlichen nationalen Besonderheiten. Die Aufnahmebedingungen anerkennen die Notwendigkeit, ihnen Rechnung zu tragen. Unsere russischen Freunde sind viel zu gute Marxisten, um nicht zu wissen, dass nach Engels die Menschen Geschichte machen, wie sie sie machen müssen, d. h. nach den gegebenen Umständen. Sie selbst haben sich in dieser Hinsicht als so großzügige, überlegene, revolutionäre Realpolitiker erwiesen, dass sie keiner Sektion der Kommunistischen Internationale als billig vorenthalten würden, was sie sich selbst als ihr Recht genommen haben. Allein trotz der nationalen Besonderheiten und über sie hinweg muss die Kommunistische Internationale fest mit eiserner Disziplin zusammengeschweißt werden. Die Dritte Internationale muss eine Internationale muss eine Internationale der Tat, kraftvoller Aktionen sein. Es darf sich daher nicht wiederholen, was wir bei der Zweiten Internationale erlebt haben; nämlich, dass ungeachtet aller feierlichen Resolutionen und Eidschwüre in entscheidenden Augenblicken für internationales Handeln und Kämpfen die nationalen Armeekorps „autonom“ zusammenhanglos und kopflos auseinanderlaufen. Die Kommunistische Internationale muss einheitlich und geschlossen marschieren und schlagen. Vorschriften, die die Genossen Crispien und Dittmann als unerträgliche, unwürdige Fesseln verketzern, legen nur praktische Notwendigkeiten des Kampfes fest. Diese beiden Führer der U. S. P. haben denn auch in Moskau zwar einzelne Aufnahmebedingungen bekämpft, jedoch der Forderung straffster Zentralisation und Disziplin grundsätzlich zugestimmt und nicht mit jenem leidenschaftlichen Zorn und jener überquellenden Erbitterung abgelehnt, mit der sie sich heute gegen sie wenden. Selbst ihr Richtungsfreund Hilferding stellte das auf der Konferenz der U. S. P. Sachsens fest. Sollten sich erst nachträglich in deutscher Luft die Bedingungen zu „unannehmbaren“, „unerhörten“ verschlechtert haben? Oder? ...

Es ist offensichtlich. Die rechtsgerichteten Führer der U. S. P. wollen nicht in die Kommunistische Internationale eintreten, und ihr Wille ist vor allem darauf gerichtet, die proletarischen Massen innerhalb und außerhalb der Partei vom Weg nach Moskau abzuhalten. Ihre Kritik der Aufnahmebedingungen, die sich missbräuchlich in Worte und Formeln verbeißt, ist dichtes Dornengestrüpp, das die Massen von der Kommunistischen Internationale absperren soll. Ihre Jeremiaden von Elend und Misswirtschaft in Russland, ihre Verdammungsurteile über das Wesen und die Methoden des Bolschewismus sind als Barrikaden gegen das Drängen der Massen nach Moskau gedacht. Zu Nutz und Frommen der wohlanständig gewaschenen und frisierten Politik der goldenen Mitte der U. S. P. !! Tatsachen beweisen, wem die Kampfeskniffe des „sanftlebenden Fleisches“ in der Partei zustatten kommen. Die Antibolschewistische Liga hat Genossen Dittmanns Artikel sofort nach dem Erscheinen als Broschüre in Massenauflage verbreitet. An den Mauern und Anschlagsäulen Berlins prangten große Plakate, schwarz-rot umrändert, die Buchstaben U. S. P. am Kopf. Ausschließlich mit Ausführungen der Genossen Crispien, Dittmann und der „Freiheit“ wurden darin die Arbeiter gegen Moskau gehetzt. Die Steine, die die rechtsgerichteten Führer der U. S. P. den deutschen Arbeitern auf ihrem Weg nach Moskau entgegengeworfen haben, werdet von den Gegenrevolutionären eifrig zum Bau von Dämmen zusammengeschleppt, an denen sich die heranbrausende Hochflut der Revolution brechen soll. Der gesunde Klasseninstinkt der deutschen Proletarier wird den Erfolg dieses Beginnens verstehen; darüber hinaus aber wird er sich mit flammendem Protest gegen die gedankenlosen Handlanger der Konterrevolution kehren. „Nun erst recht nach Moskau!“ Das muss die Antwort der Massen auf das Verhalten der Führer in der U. S. P. sein.

Die Situation ist klar. Aug' in Auge mit den Moskauer Beschlüssen haben die rechtsgerichteten Führer der U. S. P. zu scheinen gewagt, was sie sind: bittere und kleinliche Gegner der Kommunistischen Internationale. Die Spaltung in der Partei ist unvermeidlich. Schon öffnen führende Mehrheitssozialdemokraten liebevoll die Arme, um die Genossen Dittmann, Crispien, Hilferding usw. tröstend an ihr verständnisinniges Herz zu drücken. Die Führer des linken Flügels werden von einer verantwortungsvollen Aufgabe und einem heißen Kampf erwartet. Gegen sie arbeitet die Macht eines festgefügten Organisationsapparates, dessen Wirkung die Genossen Dittmann usw. so verderblich für das Leben einer Partei erachten. Sei's drum! Die linksgerichteten Führer der U.S.P. müssen lernen, die Frage des Anschlusses an die Kommunistische Internationale — wie alle umstrittenen Fragen revolutionärer Theorie und Praxis — vor die breitesten Massen zu tragen. Um die Haut, um die Seele dieser Massen geht es im Kampfe für die Dritte Internationale; es ist mithin ihr Recht und ihre Pflicht, in helläugiger Erkenntnis und mit festem Willen zu entscheiden. Deshalb ist es notwendig, dass die Anhänger von Moskau in der U. S. P. ihre Gegner von dem richtigen Kampffeld nicht entwischen lassen. Sie müssen die kleinlichen Organisationstüfteleien und Paragraphenängste beiseiteschieben und die großen Fragen vorrücken, um die bei der Auseinandersetzung gekämpft wird. Das bedeutet erbarmungslose Abrechnung mit der Politik der U. S. P., mit ihren schwankenden Grundsätzen, ihrer unsicheren Taktik, all ihren Sünden und Fehlern. Abrechnung auch um den Preis tapferen Eingestehens eigenen Irrens. Wie doch singt Mirza Schaffy?

„Das sind die Weisen,
Die vom Irrtum zur Wahrheit reisen;
Das sind die Narren,
Die im Irrtum verharren.“

Doch noch ein anderes tut bitter not. In dieser geschichtlichen Stunde genügt es nicht, dass der linke Flügel der U. S. P. sich mit Worten freudig zu Moskau bekennt. Sein Bekenntnis muss Tat werden. Aktivste Solidarität mit Sowjetrussland, deshalb vollständige Blockade Polens. Mit der Zustimmung und im Bunde mit der einstweilen noch existierenden Gesamtpartei der U.S.P., ohne diese Zustimmung und Bundesgenossenschaft, wenn es nicht anders sein kann, und gegen ihren Widerstand, wenn es sein muss. Zur Durchführung einer kraftvollen proletarischen Massenaktion der Solidarität mit der russischen Räterepublik, eifrigste Propaganda für die Wahl, das Wirken politischer Arbeiterräte. Wird das Bekenntnis der Kommunistischen Internationale nicht Hingebung und Tatwille im Kampfe für Sowjetrussland, für die Revolution, so dürfen die revolutionär gesinnten proletarischen Massen mit Recht die Frage an die linken Führer der U. S. P. richten: Warum wäret ihr in Moskau, warum seid ihr für Moskau? Sollen wir in tatenlosem Spaziergang oder in gebetreichem Pilgerzug nach Moskau wandern?

In der U. S. P. Deutschlands drängt die Auseinandersetzung um Moskau, um die Kommunistische Internationale zuerst von allen großen westeuropäischen Parteien zur Entscheidung. Hier hat sie die fortschreitende Revolution auf die Tagesordnung gestellt. Aber diese wird unaufhaltsam auch durch die übrigen kapitalistischen Staaten Westeuropas, ja, der ganzen Welt schreiten. Für alle sozialistischen Parteien und Organisationen, die den Weg zu einer Internationale der Tat suchen, löst sich daher aus den Vorgängen und Entscheidungen in der U.S.P. die alte klassische Mahnung: „Auch für euch gilt diese Fabel!“ Auch sie müssen sich entscheiden, und je eher, bestimmter und klarer, um so besser. Unsere glutbebende Zeit duldet kein Zaudern, keine Halbheit. Sie will eine neue Welt gebären. Sie muss Taten sehen!

September 1920.

Zetkin, Clara (1857-1933) deutsche Frauenrechtlerin und Politikerin

Zetkin, Clara (1857-1933) deutsche Frauenrechtlerin und Politikerin

Zetkin, Klara 1897

Zetkin, Klara 1897

Alexander Fjodorowitsch Kerenski (1881-1970) vor Frontsoldaten im Jahre 1917

Alexander Fjodorowitsch Kerenski (1881-1970) vor Frontsoldaten im Jahre 1917

Abgeordnete der Soldatenräte auf dem ersten Sowjetkongress in Moskau, 16. Juni 1917

Abgeordnete der Soldatenräte auf dem ersten Sowjetkongress in Moskau, 16. Juni 1917

Kalinin, Lenin, Trotzki

Kalinin, Lenin, Trotzki

Wladimir Iljitsch Uljanow 1870-1924

Wladimir Iljitsch Uljanow 1870-1924

Lenin, am Rande einer Veranstaltung 1921

Lenin, am Rande einer Veranstaltung 1921

Maxim Gorki 1868-1936

Maxim Gorki 1868-1936

Moskauer Börse 1920

Moskauer Börse 1920

Moskau Roter Platz, 1921

Moskau Roter Platz, 1921