Den Beweis von der ungeschwächten Fortdauer der ohne Frage furchtbarsten Wahnvorstellung

Dem Jahre 1872 blieb es vorbehalten, den Beweis von der ungeschwächten Fortdauer der ohne Frage furchtbarsten Wahnvorstellung , welche jemals die überreizte Phantasie eines kranken Gehirnes ausgesponnen hat, bis vor ein preußisches Obertribunal zu bringen. Denn furchtbar muss der Vampirglaube nicht bloß wegen seines selbst starke Nerven erschütternden Inhalts genannt werden, sondern noch mehr wegen der Lebensgefahr, in welche er, einer ansteckenden Seuche gleich, die von ihm Befallenen stürzt. Ich bitte im Voraus diejenigen meiner freundlichen Leser, die leicht von bösen Träumen heimgesucht werden, den nachfolgenden Bericht, welchen ich aus den zuverlässigsten Quellen schöpfen konnte, lieber Vormittags oder bei hellem Tage, als Abends oder Nachts zu lesen, da ich mich außer Stande sehe, das Grässliche des Gegenstandes zu mildern, obwohl ich mich natürlich bestreben werde, es nicht durch Übertreibungen zu verschlimmern.

Am 5. Februar 1870 war zu Kantrzyno (Kreis Neustadt in Westpreußen) der Antheilsbesitzer und Kirchenvorsteher Franz von Poblocki im Alter von dreiundsechzig Jahren an der Auszehrung verstorben und aus dem Friedhofe des jenseits der Provinzialgrenze belegenen Dorfes Roslasin (Kreis Lauenburg in Pommern) am 9. Februar beerdigt worden. Wenige Tage darauf erkrankte sein ältester, achtundzwanzig Jahre alter Sohn Anton und starb am 18. desselben Monats, nach Aussage des erst kurz vor dem Tode herbeigerufenen Arztes an der sogenannten galoppierenden Schwindsucht. Da fast gleichzeitig die Gattin des Erstgenannten und eine jüngere Tochter desselben erkranken, ein zweiter Sohn und ein Schwager (von Wittke) sich sehr unwohl fühlten und alle Genannten über unbeschreibliche Angst und Beklemmung klagten, so kam man aus den „in hiesiger Gegend weitverbreiteten Aberglauben“ – ich gebrauche die Worte des freundlichen Auskunftgebers, dem ich die meisten Einzelheiten verdanke –, daß der verstorbene Vater ein sogenannter Vampir sei, und daß sie Alle sterben müßten, wenn nicht schleunigste Hülfe geschafft werde. Ein Vampir ist der Überlieferung nach ein Leichnam, welcher im Grabe fortlebt, des Nachts aus demselben emporsteigt, um lebenden Menschen, zunächst seiner eigenen Blutsverwandtschaft, den kostbaren Lebenssaft auszusaugen, um sich damit zu ernähren und in gutem Zustande zu erhalten, statt, gleich anderen Leichen, zu verwesen. Die Angegriffenen, die sich zuweilen im Traume an der Gurgel gepackt und gewürgt fühlen, aber sich des furchtbaren Besuchers, der auf ihrer Brust liegt, nicht erwehren können, siechen schnell dahin und müssen nach ihrem Tode (gleichsam durch den Biss des Vampirs mit einer unter den Todten grassierenden Lebensseuche angesteckt) ebenfalls Vampire werden, und so weiter ohne Ende, bis man durch Gewaltmittel dem Schrecken der Gegend ein Ende macht. Die abergläubischen Mittel gegen den Vampirismus lassen sich in drei Klassen teilen: Vorbeugungsmittel gegen Leute, die Anlage haben, Vampire zu werden, Ermordung der Vampire und Heilmittel für die bereits angesteckten.


Nach den Anschauungen, die sich im Bereiche dieses Aberglaubens, der, wie wir später sehen werden, eigentlich in griechisch-katholischen Ländern zu Hause, jüngeren Ursprungs aber in Polen und Westpreußen ist, ausgebildet haben, bringt der Mensch die Anlage zum Vampirwerden mit der sogenannten Glückshaube, die sonst fast in allen Zeiten und bei allen Völkern, wie schon der Name sagt, als ein glückbringendes Zeichen betrachtet wurde, auf die Welt. Solche Vampirs-Candidaten sollen ferner stets ein wenig rechthaberisch und geizig sein. Die Hauptkennzeichen ergeben sich am Leichname. Das Gesicht bleibt rot, das Blut flüssig; die Totenstarre und der Verwesungsgeruch bleiben aus, gerade wie bei einem Scheintoten, als welcher der Vampir ja auch im Volke betrachtet wird. Wie weit diese Kennzeichen an der frischen Leiche des Gutsbesitzers Poblocki beobachtet worden sind, habe ich nicht ermitteln können, jedenfalls hatte man unterlassen, die wirksamen Vorkehrungen bei der Beerdigung zu treffen, welche so einem unruhigen Todten das Wiederkommen verleiden oder erschweren. Dieselben bestehen teils in Beschäftigungsspielen (Beutelchen mit Mohnkörnern zum Zählen oder ein Fischnetz zum Auftröseln), teils in Mitteln, das Aufstehen, Saugen oder Bewegen der Kinnladen zu erschweren (ein paar Ziegelsteine über die Füße, Sand auf Augen und Mund, einen Stein unters Kinn oder in den Mund), teils endlich in religiösen Vorkehrungen, wohin der Gebrauch, den verdächtigen Todten kleine Espenholzkreuze in die Hände zu drücken, gehören möchte. Die sicherste, aber, wie man sagt, für den Todten qualvollste Maßregel besteht darin, daß man ihn verkehrt, Mund und Gesicht nach unten, in den Sarg legt. Sind diese Mittel unterlassen worden und hat sich der Todte durch sein dem Leben Anderer nachstellendes Benehmen als Vampir entpuppt, so giebt es, von den schwächeren zu den stärkeren Mitteln aussteigend, verschiedene Wege, ihn unschädlich zu machen, die alle auf Ermordung des nur scheinbar todten Vampirs hinausgehen. Sie bestehen darin, daß man der ausgegrabenen Leiche, die sich dann durch blühendes Aussehen auszeichnet, einen zugespitzten Holzpfahl durch Brust und Herz treibt, den Kopf mit einem Grabscheite vom Rumpfe trennt, ihn aber nicht daselbst liegen lässt, weil er sonst wieder anwachsen würde, sondern ihn zwischen die Beine der Leiche, den Mund zu unterst, legt, oder endlich, wenn Alles nicht hilft, ihn zu Asche verbrennt. Bei dieser Operation vernimmt man, wie die düstere Sage weiter meldet, ein schweres Stöhnen, mitunter auch ein wildes Gelächter aus dem Munde des Vampirs, und das Lebenden abgesogene Blut fließt in reichlicher Menge aus der Wunde.

Für die Erkranken, die bereits den Besuch des Vampirs empfangen hatten, giebt es endlich einige wenige Mittel, sich zu retten: sie müssen Erde vom Grabe des Vampirs essen oder besser sich mit dem Blute desselben salben, oder am besten das letztere mit Branntwein oder mit Mehl zu Brod gebacken genießen. Nach der Ansicht der fanatischen Anhänger dieses Aberglaubens schützen aber auch diese Mittel nur vor dem jähen Tode, und der einmal Angesteckte bleibt dem Geheimbunde der lebendigen Tobten dennoch verfallen.

Nachdem der älteste Sohn des Hauses, Anton von Poblocki, seinem Vater so schnell gefolgt war, und mehrere seiner Geschwister sowie die Mutter erkrankt waren, bildete sich die vielleicht schon früher gehabte Vermutung, daß der Vater in den Vampirstand getreten sei, zu einer fixen Idee aus, man versammelte an den Betten der Erkranken einen Familienrat, in welchem einstimmig beschlossen wurde, das drohende Unheil durch die wirksamsten der eben erörterten Mittel zu bekämpfen. Die Ausführung wurde dem zweitältesten Sohne Joseph, der durch die beiden Sterbefälle so schnell zum Oberhaupte der Familie geworden war, übertragen. Da sein verstorbener Bruder nunmehr der Theorie dieses Aberglaubens zufolge ebenfalls aus einem Opfer des Vampirs ein Bundesgenosse geworden war, wurde damit begonnen, ihm in der beschriebenen Art das Haupt vor die Füße zu legen. An dem Leichname des Vaters sollte die nämliche Operation in der Nacht vor dem Begräbnisse des im Stillen enthaupteten Sohnes vorgenommen werden. Joseph von Poblocki traf am Tage vor der Beerdigung, die aus den 22. Februar festgesetzt war, in Begleitung zweier beherzter, mit Radhacke und Spaten bewaffneter Arbeitsleute aus Kantrzyno in Roslasin ein und setzte sich mit dem Todtengräber des Ortes in Verbindung, demselben ein gut Stück Geld anbietend, wenn er das Grab für seinen Bruder so nahe an das des Vaters machen wolle, daß man in der Nacht ohne sonderliche Mühe die Erdscheidewand durchbrechen könne, um den Sarg des vermeintlichen Vampyrs zu öffnen.

Der Totengräber sagte seine Mitwirkung zu diesem auf Rettung einer ganzen Familie gerichteten Unternehmen zu, und man stärke sich im Dorfkruge durch Bier und Spirituosen zu dem schaurigen Vorhaben. Inzwischen kamen dem Totengräber doch einige Bedenken gegen den heimlichen Charakter des nächtlichen Werkes; er entdeckte dem Ortspfarrer Block die ganze Angelegenheit, wahrscheinlich erst, um von ihm zu erfahren, ob etwas Unrechtes an der Sache sei. Der würdige Geistliche beschränkte sich nicht daraus, ihm jede Betheiligung an der beabsichtigten Friedhofs-Entweihung zu untersagen und ihm aufzutragen, das Grab für den Sohn in angemessener Entfernung von dem des Vaters aufzuwerfen, sondern er ließ auch die Fremden vor der Ausführung ihres straffälligen Vorhabens warnen und den Arbeitern das Betreten des Friedhofes untersagen. Außerdem beauftragte er seinen Organisten und den Dorfnachtwächter, den Friedhof während der Nacht zu beobachten, um die in Aussicht genommene Grabschändung zu abergläubischen Zwecken zu verhüten. Der Organist wachte bis ein Uhr Nachts, ohne etwas Auffälliges zu bemerken; der Nachtwächter hat dann auch später – aus welchen Gründen, ist nicht erörtert worden – nichts wahrgenommen. Dagegen erwachte der Besitzer des nahe beim Friedhof gelegenen Dorfkruges und vernahm ein dumpfes Gepolter, welches von dem Aufschlagen der hartgefrorenen Erdschollen auf den Sarg hervorgebracht wurde, den man eben im Begriff war, wieder mit Erde zu bedecken. Er rief den auf dem Friedhofe beschäftigten Leuten zu, was sie da machten, erhielt aber keine Antwort und jagte sie endlich durch seine Annäherung in die Flucht. Aus diese Weise wurde die Arbeit unterbrochen und der Sarg erschien am andern Morgen nur zur Hälfte von Erde bedeckt.

Der Pfarrer Block, dem am andern Morgen sogleich Anzeige von dem trotz seiner Vorsichtsmaßregeln ausgeführten Werke des Aberglaubens gemacht wurde, begab sich früh an Ort und Stelle, und ließ den Sarg vollends bloßlegen und öffnen. Der Anblick war der zu erwartende. Der Kopf der Leiche lag am Fußende des Sarges, mit dem Gesichte nach unten gekehrt. Das letztere zeigte einen ruhigen Ausdruck, etwas gerötete Wangen und aufgeworfene Lippen, wie sie der Verstorbene bei Lebzeiten nicht besessen haben soll. Auch zeigte sich kein auffälliger Verwesungsgeruch, der indessen bei einer seit vierzehn Tagen beerdigten Leiche in der kalten Jahreszeit auch kaum zu erwarten gewesen wäre. Blut war im Sarge nicht wahrzunehmen; die Trennungsfläche am Rumpfe erschien natürlich blutrot. Der Pfarrer ließ den Sarg schließen und das Grab zuwerfen, nahm die bei der Flucht zurückgelassene Radhacke, welche sogleich von dem Totengräber als das Eigentum eines der Arbeiter erkannt wurde, mit denen er am Tage vorher verkehrt, als Beweismittel an sich, und erhob, nachdem er bei der Beerdigungsfeierlichkeit des Anton von Poblocki Gelegenheit genommen, den Leidtragenden wie den herbeigeeilten Dorfbewohnern das Sinnlose des Vampyr-Aberglaubens darzustellen, gegen Joseph von Poblocki und seine beiden Hülfsarbeiter bei der Staatsanwaltschaft Anklage wegen Entweihung eines Grabes zu abergläubischen Zwecken. Der hiermit eingeleitete Vampyr-Prozess hat länger als zwei Jahre bis zu seiner endgültigen Entscheidung gespielt und verdient wegen der darin hervorgetretenen Meinungsverschiedenheiten der Juristen über eine anscheinend einfache Gesetzesübertretung eine eingehendere Betrachtung.

Das Kreisgericht zu Lauenburg hielt die Rechtswidrigkeit der Handlung für zweifellos und verurteilte im Oktober 1870 den Gutsbesitzer Joseph von Poblocki und den Arbeitsmann Johann Dzigcielski, welcher an beiden Leichen die von dem Aberglauben geforderte Operation der Köpfung vermittelst eines Spatens vorgenommen hatte, zu je vier Monaten Gefängnis; den andern Arbeiter, welcher nur in weniger wesentlichen Dingen Beistand geleistet, zu sechs Wochen Gefängnis. Die Verurteilten appellierten gegen dieses Erkenntnis mit dem Hinweise darauf, daß sie sich im Zustande der Notwehr befunden und ohne jede bösliche Absicht Dasjenige begangen hätten, was man ihnen als Verbrechen auslege. Rettung des eigenen Lebens durch ein Mittel, welches keinem Mitlebenden Schaden verursache, welches aber auf öffentlichem Wege nicht zu erreichen gewesen, der Umstand, daß dieses Mittel das einzige sei, was helfen könne, gegen Todesgefahren, die kein Arzt abzuwenden im Stande wäre, seien die Motive der dadurch gewiss hinreichend entschuldigten Handlung. Das Appellationsgericht zu Cöslin schloss sich im Allgemeinen diesen Ausführungen an und sprach die Angeklagten demgemäß von aller Strafe frei, da der Nachweis einer schlechten Absicht, – des dolus, wie die Aktensprache sich ausdrückt, – vollkommen mangele. Indessen wollte der Oberstaatsanwalt eine derartige Auffassung, welche die Straflosigkeit jeder durch den Aberglauben veranlagten Gesetzesübertretung, sofern daraus ein direkter Schaden für Niemand erwächst, proclamieren würde, denn doch nicht gelten lassen und wies die Angelegenheit zu einer neuen Beweisaufnahme, insbesondere hinsichtlich der Dolus-Frage, vor das Kreisgericht zu Lauenburg zurück. Hier ergab sich nun allerdings bis zur Zweifellosigkeit, daß die Angeklagten, wie man zu sagen pflegt, im besten Glauben – im schlechtesten, wäre wohl richtiger – gehandelt, daß die gesamte Familie noch jetzt fest der Überzeugung sei, der verstorbene Vater sei ein Vampyr gewesen, daß man ohne Schwanken beschlossen habe, das einzige Schutzmittel, so schrecklich es auch sei, anzuwenden. Eine der Töchter, Antonie, die sich seitdem an einen Edelmann in Westpreußen verheiratet hat, erklärte freiwillig vor dem Kreisgericht in Neustadt, daß sie es gewesen, welche den Arbeitsmann Dzigcielski überredet habe, dem verstorbenen Bruder den Kopf abzuhacken. Alle Erkrankten der Familie hatten von dem hierbei gewonnenen Vampyrblute – oder von dem des Vaters, genau kann ich diesen Umstand nicht angeben, – genossen und Alle waren darnach gesund geworden, mit Ausnahme der Mutter des Hauptangeklagten, Josephine von Poblocki, die es nicht über sich gewinnen konnte, den schrecklichen Trank zu genießen, die aber auch dafür, wie ihr Sohn Joseph den Gerichten gegenüber behauptete, am 28. Februar 1870, also in demselben Monat, ihrem Gatten und Sohne ins Grab folgen mußte. Was half es, daß der Arzt ihre Krankheit als ein bei der vorhergegangenen Aufregung sehr erklärliches Nervenfieber bezeichnete: die Familienglieder waren überzeugt, die eigentliche Todesursache besser zu kennen. Ob man auch an dem Leichname der Mutter die mehrerwähnten Vorsichtsmaßregeln getroffen, ist mir nicht bekannt geworden; vielleicht schützte sie dagegen der Aberglaube selber, welcher in der Regel nur von männlichen Vampyren zu erzählen weiß.

Das Kreisgericht beharrte bei seiner Ansicht, daß, wenn auch das große Unglück, welches die Familie heimgesucht hatte, als Milderungsgrund anzusehen sei, man doch in dem Aberglauben, der gewiss das Unglück selbst beförderte, eine gänzliche Entschuldigung ihres Thuns nicht finden könne, und hielt deshalb an der Verurteilung fest. Natürlich appellierten die Verurteilten von Neuem, und das Appellationsgericht von Cöslin wiederholte sein freisprechendes Erkenntnis, da der Mangel des dolus klar sei, der Hauptangeklagte sich entschieden im Zustande einer relativen (!) Notwehr befunden habe und, im Vampyr-Aberglauben befangen, gar nicht anders hätte handeln können, als er gehandelt habe. Der Oberstaatsanwalt wiederholte nochmals seine Nichtigkeitsbeschwerde, indem er, wie mich dünkt, sehr richtig ausführte, daß von einem gänzlichen Mangel des dolus um so weniger die Rede sein könne, als eine besondere Warnung des Geistlichen vorausgegangen war; der Angeklagte wusste also bei Vornahme seiner Tat ganz genau, daß er gegen die Staatsgesetze verstoße; er konnte sich also, selbst in seinem Wahne befangen, nicht verhehlen, daß er dem Strafgesetze mit einer gegen das erwartete Gut (die Rettung seiner Familie) freilich gering anzuschlagenden Strafe verfalle. Wenn außerdem das Strafgesetz den Notstand als einen strafausschließenden Fall betrachte, so könne dieser Paragraph hier keine Anwendung finden, da der Gesetzgeber gewiss keinen durch Aberglauben erzeugten Notstand im Sinne gehabt habe, den sich der Handelnde in seiner Geisteskrankheit erst selbst schafft, und dessen blinde, erträumte Gefahren er mit grauenhaften Zauberkünsten zu verscheuchen gedenkt. Wenn man erwägt, daß selbst derjenige, der durch Unkenntniss, Unvorsichtigkeit und Leichtsinn die Gesetze übertritt, gestraft wird, so sollte wohl Aberglaube nicht als gänzliche Entschuldigung dienen können, am wenigsten bei einer Familie, die die Mittel besaß, ihren Angehörigen einige Schulbildung anzueignen. Und wie stand es endlich mit der Straflosigkeit der beiden Arbeiter, die sich doch gewiss in keinem direkten Notstande befunden haben, wenn man nicht so weit gehen will, das ganze Dorf Kantrzyno durch das Umsichgreifen der Vampyrseuche für gefährdet zu halten?

Es liegt mir natürlich fern, den Urteilsspruch des Ober-Tribunals der Provinz, welches sich dem freisprechenden Erkenntnisse des Appellationsgerichtes anschloss, hier kritisieren zu wollen; wir können den Beklagten in diesem Prozesse die endlich im Frühjahre vorigen Jahres erfolgte endgültige Freisprechung von ganzem Herzen um so lieber gönnen, da sie im Grunde nur sich selber geschadet haben, und den Todten die Operation nicht weh getan haben wird. Eine andere Frage ist es freilich, ob dieser Urteilsspruch nicht einen verhängnisvollen Präzedenzfall geschaffen, der den relativen Notwehrstand der Anhänger dieses Glaubens rechtfertigt, und damit dem Aberglauben Vorschub leisten könne. Die Gerichte haben gleichsam eine Berechtigung dieses Aberglaubens noch für das neunzehnte Jahrhundert anerkannt. Da drängt sich die Frage auf: wie steht es mit dieser düstern Form des Aberglaubens, hat sie noch Wurzeln im Volke oder gar unter den Gebildeten? Wir können leider nicht mit Nein antworten. Denn vor wenigen Wochen (Juli 1873) kam vor dem Kreisgerichte zu Schwetz (Westpreußen) die Anklage einer neuen Grabschändung aus gleichen Motiven zur Verhandlung. Der Ziegler M. aus Neu-Klunkwitz hatte mit Hülfe zweier seiner Schwäger und einer dritten Person das Grab seiner verstorbenen Frau geöffnet und ihr den Kopf mit der Axt abgehauen, weil ihre Schwester ihr schnell im Tode gefolgt war. Auch hier war die Stärkung durch Schnaps vorausgegangen, und es hatte den Beteiligten geschienen, als ob sich bei dem erst versuchten Spatenhiebe, der so ungeschickt geführt wurde, daß der Spaten zerbrach, die Leiche erhebe. Das Gericht sprach die Angeklagten wiederum wegen des vermeintlichen Notwehrstandes von der Leichenschändung frei, verurteilte sie aber wegen Grabschändung zu acht Tagen Gefängnis. Eine andere Vampyr-Geschichte, gleichfalls aus der neuesten Zeit, die aber größere Dimensionen annahm und ebenfalls ganz ungebildete Leute betraf, werden wir im nächsten Aufsatze zu erwähnen haben.

Was die Bildung der, wie es scheint, dem polnischen Adel entstammenden Familie der Poblocki’s anbetrifft, so dürfte sie, so weit dies in dem Prozesse hervortrat, diejenigen der Landbewohner (unter denen, wie erwähnt, in Polen und Westpreußen der Vampyr-Aberglaube ebenso verbreitet ist, wie in den außerdeutschen Ländern slavischen Stammes) nicht wesentlich überragen. Obwohl dem begüterten Stande angehörend, konnten die Angehörigen der Familie nur notdürftig lesen, wohl kaum durchweg schreiben. Indessen wie wenig in Aberglaubensgegenständen auf formelle Bildung Werth zu legen ist, wie sehr zu entschuldigen bei wenig gebildeten, vom Unglück heimgesuchten Leuten der Vampyr-Glaube war, wird uns klar werden, wenn wir demselben Glauben in seinen letzten Konsequenzen bei gelehrten Leuten unserer Zeit begegnen, ohne daß sie durch persönliches Unglück zu solchen Schlüssen getrieben wurden. Ich will nicht von Görres reden, der im dritten 1840 erschienenen Bande seiner christlichen Mystik den Vampyr-Aberglauben in seiner vollen Schrecklichkeit heraufbeschwört, sondern von dem gelehrten Professor einer schweizer Universität, Maximilian Perty, der mit seinen aufklärungsfeindlichen Schriften den Büchermarkt überschwemmt, durch das wissenschaftliche Mäntelchen, welches er seinen mittelalterlichen Deduktionen umhängt, überall Anerkennung zu finden weiß und dadurch doppelten Schaden in den Geistern anrichtet. Im ersten Bande seines Werkes über die mystischen Erscheinungen der menschlichen Natur (Seite 384 der zweiten 1872 erschienenen Auflage) findet der Professor die natürliche Erklärung des Vampyrismus sehr einfach darin, daß die Seele des im Grabe ruhenden, nicht sterben könnenden Vampyrs jahrelang traumartig umherirre, die bekannten Häuser ihrer Familie aufsuche, dort Hunger und Durst des im Grabe zurückbleibenden inzwischen seelenlosen Leibes stille, indem sie den Verwandten das Blut aussauge, welches sich dabei in einen geistigen ätherischen Körper umsetze und erst wieder nach der Rückkehr zu dem begrabenen Körper dort zu wirklichem nährendem Blut werde!! Wenn man bedenkt, daß derartige Lehren von einem Doktor der Philosophie und Medizin, Professor an der Universität Bern, heutiges Tages öffentlich vorgetragen werden, so wäre es gewiss unrecht, die Poblocki’s wegen ihres Wahnes zu strafen, und doch, wo bleibt die Grenze? Ich denke, es wird nach dem Vorausgeschickten nicht unzeitig erscheinen, der historischen Entwickelung eines Aberglaubens nachzugehen, der in unserer Zeit so herrliche Blüten treibt, um so mehr, als ich dabei etwas Anderes versprechen kann, als die ohne Sinn und Kritik zusammengeschriebenen Beispielsammlungen, wie sie Calmet, Görres, Perty und ähnliche Denker geleistet haben.

Einem Vampyr selber vergleichbar, der im Grabe der Jahrhunderte ruht, um bei passender Gelegenheit noch in unseren Tagen mit allen Schrecknissen seiner Natur hervorzusteigen, haben wir den Vampyr-Aberglauben in dem Vorhergehenden kennen gelernt. Er hat seine Wurzeln, wie die meisten Aberglaubensformen, in der Kindheitsperiode der Menschheit und breitet sich, wenn nicht über die ganze Erde, so doch wenigstens über die gesamte arische Völkerfamilie aus. In der ältesten Sanskritliteratur begegnet man bereits der Erwähnung feindseliger Dämonen, die nach Menschenblut lüstern sind und namentlich Frauen im Zustande des Schlafes oder der Trunkenheit übermannen. Sie führen die unser Ohr sehr anheimelnden Namen Pisâchas und Vantasias, obendrein sehr bezeichnend, wenn man dabei ans „Pisacken“ der Lebendigen durch Phantasie- oder Traumgebilde denkt. Noch harmloser gestaltet sich diese Sage in ihrer Ursprungsform, wenn man in Manu’s Gesetzbuche liest, daß Spinnen, Wanzen, Flöhe und ähnliche blutdürstige Thiere als die sichtbaren Verkörperungen der blutdürstigen Pisâchas gelten. Wenn man in Indien die blutsaugenden Fledermäuse Südamerikas – die sogenannten Vampyre der Zoologie – gekannt hätte, würden diese wohl obenan in jener Reihe gestanden haben. Die Seele eines Menschen, der einem Priester Geld stiehlt, ist nach Manu verdammt, vor ihrer endlichen Erlösung tausendmal in den Körper dieser gehassten Thiere einzugehen. Wer weiß, ob diese mythologische Vorstellung nicht völlig zur Sache gehört und ob heftige nächtliche Insektenplagen nicht die häufigsten Ursachen schwerer Vampyrträume werden! Der Umstand, daß in Europa wenigstens die Heimath der Flöhe und Vampyre dieselbe ist, könnte einen Naturforscher stutzig machen.

Im klassischen Altertume verquickte sich der Vampyrglaube mit der mythischen Vorstellung, daß warmes Menschen- oder Tierblut die Lieblingsnahrung der Götter, Dämonen und Manen sei, weshalb man auch die Letzteren bei der Nekromantie mit dem Dampfe warmen Blutes anlocken zu können glaubte. Daneben treten aber auch Dämonen auf, die lebendigen Menschen das Blut aussaugen, sie dadurch langsam entkräften und dem Tode weihen; der Unterschied des Heidentums vom Christentume zeigt sich auch hier darin, daß diese Dämonen in reizender Gestalt dem Menschen nahen. Es sind insbesondere die Lamien, weniger die Strygen und Empusen, welche hierher gehören.

Philostratns in seiner Lebensbeschreibung des Apollonius von Tyana, die einige Kritiker für eine heidnische Konkurrenzschrift der Evangelien gehalten haben, erzählt, daß dieser Heilige einst in Corinth seinen jungen und schönen Freund Menippus aus den Klauen einer Lamia, welche die Gestalt eines reizenden jungen Weibes angenommen hatte und sich nur den jungen Männern näherte, befreit habe. Aus diesen echtgriechischen Phantomen entwickelten sich später die sogenannten Incuben und Succuben, männliche und weibliche Dämonen höllischer Natur, die viele Analogie mit den Vampyren bieten, da sie bei ihren wiederholten nächtlichen Besuchen gleichfalls ihre Opfer entkräften und töten. Ihre Dämonennatur unterscheidet sie von den echten Vampyren, die höchstens Teufelsbesessene sind.

Zum ersten Male tritt uns in der Literatur ein echter Vampyr in einem griechischen Märchenbuche aus dem zweiten Jahrhundert unserer Zeitrechnung entgegen, in den „Wunderbaren Geschichten“ des Phlegon aus Tralles. Es ist hier, wo Altmeister Goethe den Stoff zu seiner „Braut von Corinth“ geschöpft hat. In welchem Grade dann gerade dieser düstere Gegenstand die dichtende Phantasie des Menschen angezogen hat, ergibt sich aus den zahlreichen Meisterwerken der Poesie, die demselben Gegenstande gewidmet sind. Ich begnüge mich, an Byron’s „Vampyr“ und an Balzac’s ergreifende Erzählung „Der Succubus“ zu erinnern. Vampyr-Opern haben unter Anderen Marschner und Lindpaintner componirt; ja selbst in den Werken der Tanzkunst übt die schaurige Idee eines Verkehrs der Todten mit den Lebenden ihren dämonischen Zauber, wie z. B. die hier in Berlin beliebten Ballete Morgano und die Willi’s – denn diese todten Tänzerinnen sind offenbar die weiblichen Gegenstücke der männlichen Vampyre – beweisen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Vampir - Schrecken im 19. Jahrhundert