Der Thronwechsel in Afghanistan 1902

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 6. 1902
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Afghanistan, England, Kolonialmacht, Kolonialkrieg, Russland
In Kabul, der Hauptstadt seines Landes, starb nach längerer schwerer Krankheit Abdur-Rahman-Chan, der Emir von Afghanistan, der seit dem Jahre 1880 die Herrschaft über diesen, durch seine geographische Lage für England wie für Russland gleich wichtigen asiatischen Staat geführt hatte. Sein Alter wird verschieden angegeben; denn nach englischen Quellen soll er um 1830 geboren sein, während das sonst sehr zuverlässige gothaische genealogische Jahrbuch das Jahr 1845 als sein Geburtsjahr bezeichnet. Er war ein Sohn des Afzal-Chan, der 1867 von der englischen Regierung als Emir von Afghanistan anerkannt wurde, aber noch im nämlichen Jahre starb. Schon damals galt Abdur-Rahman, der Kabul für seinen Vater erobert hatte, unter den Afghanen für einen tapferen Kriegshelden; aber als der rechtmäßige Emir Schir Ali wieder zur Herrschaft gelangte, musste er aus Afghanistan flüchten und ging nach Samarkand, wo ihm die russische Regierung einen Wohnsitz und eine jährliche Pension von 25.000 Rubeln anwies. Ein Ereignis, das lebhaft an den Pekinger Gesandtenmord erinnert, verhalf ihm auf den Thron.

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Am 3. September 1879 war nämlich das englische Gesandtschaftsgebäude in Kabul von den afghanischen Truppen angegriffen, und die ganze Gesandtschaft ermordet worden. Wenige Wochen später hatte ein englisches Corps unter General Roberts die Hauptstadt eingenommen. Der damalige Emir Jakub-Chan war nach Indien in die Verbannung geschickt, und Abdur-Rahman auf dem von Roberts einberufenen Durbar der afghanischen Fürsten statt seiner zum Herrscher ausgerufen worden. Später bemächtigte er sich auch der Herrschaft in Herat. Aber er hatte den beiden um die entscheidende Stellung in Asien rivalisierenden Großmächten gegenüber einen sehr schweren Stand.

Und während er sich einerseits die Sicherung seines Thrones von Russland durch die Abtretung ausgedehnter Grenzgebiete erkaufen musste, geriet er auf der anderen Seite mehr und mehr in eine vollständige Abhängigkeit von England, so dass man schließlich die Geschicklichkeit bewundern muss, mit der es ihm gelang, zwischen den beiden heimlichen Gegnern zu lavieren und weder der einen noch der anderen Macht Anlass zur offenkundigen Einmischung in die Angelegenheiten Afghanistans zu geben. Er hinterlässt fünf Söhne, von denen der erstgeborene, Habib-Ullah-Chan, der Thronerbe ist. Man weiß von diesem neuen Emir, dessen Thronbesteigung sich, entgegen den anfänglich gehegten Befürchtungen, in aller Ruhe vollzogen zu haben scheint, nichts weiter, als dass er neunundzwanzig Jahre alt ist, und dass seine Erziehung in englischen Händen gelegen hat. Da er aber zugleich der Lieblingssohn Abdur-Rahmans war, ist wohl anzunehmen, dass er nach Kräften bemüht sein wird, die kluge Politik seines Vaters unverändert fortzusetzen.

Das von ihm beherrschte Reich ist 558.000 Quadratkilometer groß und hat etwa vier Millionen Einwohner, von denen aber nur wenig mehr als die Hälfte aus Afghanen besteht. Nach der Überlieferung sind diese vor Zeiten aus Syrien eingewandert. Sie setzen sich aus zahlreichen Stämmen zusammen, von denen die Durani und die Ghilzas die herrschenden sind. Die Afghanen sind groß und schlank, von blasser, bisweilen schwärzlicher Hautfarbe. Das von der Stirn bis zum Scheitel geschorene Haar hängt in Locken an der Seite herunter. Sie sind ausdauernd und unerschrocken, geborene Krieger, tapfer im Angriff, aber durch Fehlschläge leicht entmutigt. Auch gelten sie für verräterisch, treulos und für unersättlich in der Befriedigung ihres Rachedurstes. Jeder achte Mann der Bevölkerung ist wehrpflichtig und das nach europäischem Muster ausgebildete Heer besteht aus etwa 40.000 Mann Infanterie, 7.000 Mann Kavallerie und 360 Geschützen. Die Kriegsstärke beträgt 100.000 Mann reguläres Militär und ebenso viel Irreguläre, wovon etwa 30.000 auf Reiterei entfallen.

Die Hauptstadt Kabul an dem gleichnamigen Fluss zählt ungefähr 60.000 Einwohner. Sie ist sehr alt und schon durch den Zug Alexanders des Großen bekannt geworden. In ihrer heutigen Gestalt besteht sie aus der Zitadelle, dem Bala Hissar mit dem befestigten Palast des Emir, der mit seinen Türmen und Kuppeln, seinen Regierungsgebäuden und ausgedehnten Gärten gleichsam eine Stadt für sich bildet, aus einem Bazar, der alten Stadt, die durch Mauern und Tore in verschiedene Quartiere geteilt ist, und aus weit verstreuten Vorstädten. Benachbarte Höhen beherrschen die an und für sich sehr starken Befestigungswerke, die alten Wälle aber sind längst gefallen.

Afghanen

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Afghanistan - Abdur-Rahman-Chan, Emir von Afghanistan

Afghanistan - Abdur-Rahman-Chan, Emir von Afghanistan

Afghanistan - Befestigungen des Palstes in Kabul

Afghanistan - Befestigungen des Palstes in Kabul

Afghanistan - Gesamtansicht von Kabul

Afghanistan - Gesamtansicht von Kabul

Afghanistan - Habib-Ullah-Chan, der neue Emir von Afghanistan

Afghanistan - Habib-Ullah-Chan, der neue Emir von Afghanistan