Rex und Czako waren so müde, daß sie sich, wenn nötig, über Spuk und Ratten weggeschlafen hätten.

Rex und Czako waren so müde, daß sie sich, wenn nötig, über Spuk und Ratten weggeschlafen hätten. Aber es war nicht nötig, nichts war da, was sie hätte stören können. Kurz vor acht erschien das alte Faktotum mit einem silbernen Deckelkrug, aus dem der Wrasen heißen Wassers aufstieg, einem der wenigen Renommierstücke, über die Schloss Stechlin verfügte. Dazu bot Engelke den Herren einen guten Morgen und stattete seinen Wetterbericht ab: Es gebe gewiss einen schönen Tag, und der junge Herr sei auch schon auf und gehe mit dem alten um das Rundell herum.

So war es denn auch. Woldemar war schon gleich nach sieben unten im Salon erschienen, um mit seinem Vater, von dem er wusste, daß er ein Frühauf war, ein Familiengespräch über allerhand diffizile Dinge zu führen. Aber er war entschlossen, seinerseits damit nicht anzufangen, sondern alles von der Neugier und dem guten Herzen des Vaters zu erwarten. Und darin sah er sich auch nicht getäuscht.


„Ah, Woldemar, das ist recht, daß du schon da bist. Nur nicht zu lang im Bett. Die meisten Langschläfer haben einen Knacks. Es können aber sonst ganz gute Leute sein. Ich wette, dein Freund Rex schläft bis neun.“

„Nein, Papa, der gerade nicht. Wer wie Rex ist, kann sich das nicht gönnen. Er hat nämlich einen Verein gegründet für Frühgottesdienste, abwechselnd in Schönhausen und Finkenkrug. Aber es ist noch nicht perfekt geworden.“

„Freut mich, daß es noch hapert. Ich mag so was nicht. Der alte Wilhelm hat zwar seinem Volke die Religion wiedergeben wollen, was ein schönes Wort von ihm war – alles, was er that und sagte, war gut – aber Religion und Landpartie, dagegen bin ich doch. Ich bin überhaupt gegen alle falschen Mischungen. Auch bei den Menschen. Die reine Rasse, das ist das eigentlich Legitime. Das andre, was sie nebenher noch Legitimität nennen, das ist schon alles mehr künstlich. Sage, wie steht es denn eigentlich damit? Du weißt schon, was ich meine.“

„Ja, Papa...“

„Nein, nicht so; nicht immer bloß ‚ja, Papa‘. So fängst du jedesmal an, wenn ich auf dies Thema komme. Da liegt schon ein halber Refus drin, oder ein Hinausschieben, ein Abwartenwollen. Und damit kann ich mich nicht befreunden. Du bist jetzt zweiunddreißig, oder doch beinah’, da muss der mit der Fackel kommen; aber du fackelst (verzeih den Kalauer; ich bin eigentlich gegen Kalauer, die sind so mehr für Handlungsreisende), also du fackelst, sag’ ich, und ist kein Ernst dahinter. Und so viel kann ich dir außerdem sagen, deine Tante Sanctissima drüben in Kloster Wutz, die wird auch schon ungeduldig. Und das sollte dir zu denken geben. Mich hat sie zeitlebens schlecht behandelt; wir stimmten eben nie zusammen und konnten auch nicht, denn so halb Königin Elisabeth, halb Kaffeeschwester, das ist ’ne Melange, mit der ich mich nie habe befreunden können. Ihr drittes Wort ist immer ihr Rentmeister Fix, und wäre sie nicht sechsundsiebzig, so erfänd’ ich mir eine Geschichte dazu.“

„Mach es gnädig, Papa. Sie meint es ja doch gut. Und mit mir nun schon ganz gewiss.“

„Gnädig machen? Ja, Woldemar, ich will es versuchen. Nur fürcht’ ich, es wird nicht viel dabei herauskommen. Da heißt es immer, man solle Familiengefühl haben, aber es wird einem doch auch zu blutsauer gemacht, und ich kann umgekehrt der Versuchung nicht widerstehen, eine richtige Familienkritik zu üben. Adelheid fordert sie geradezu heraus. Andrerseits freilich, in dich ist sie wie vernarrt, für dich hat sie Geld und Liebe. Was davon wichtiger ist, stehe dahin; aber so viel ist gewiss, ohne sie wär’ es überhaupt gar nicht gegangen, ich meine dein Leben in deinem Regiment. Also wir haben ihr zu danken, und weil sie das geradeso gut weiß wie wir, oder vielleicht noch ein bißchen besser, gerade deshalb wird sie ungeduldig; sie will Thaten sehen, was vom Weiberstandpunkt aus allemal so viel heißt wie Verheiratung. Und wenn man will, kann man es auch so nennen, ich meine Taten. Es ist und bleibt ein Heroismus. Wer Tante Adelheid geheiratet hätte, hätte sich die Tapferkeitsmedaille verdient, und wenn ich schändlich sein wollte, so sagte ich das Eiserne Kreuz.“

„Ja, Papa...“

„Schon wieder ‚ja, Papa‘. Nun, meinetwegen, ich will dich schließlich in deiner Lieblingswendung nicht stören. Aber bekenne mir nebenher – denn das ist doch schließlich das, um was sich’s handelt – liegst du mit was im Anschlag, hast du was auf dem Korn?“

„Papa, diese Wendungen erschrecken mich beinah’. Aber wenn denn schon so jägermäßig gesprochen werden soll, ja; meine Wünsche haben ein bestimmtes Ziel, und ich darf sagen, mich beschäftigen diese Dinge.“

„Mich beschäftigen diese Dinge... Nimm mir’s nicht übel, Woldemar, das ist ja gar nichts. Beschäftigen! Ich bin nicht fürs Poetische, das ist für Gouvernanten und arme Lehrer, die nach Görbersdorf müssen (bloß, daß sie meistens kein Geld dazu haben), aber diese Wendung ‚sich beschäftigen‘, das ist mir denn doch zu prosaisch. Wenn es sich um solche Dinge wie Liebe handelt (wiewohl ich über Liebe nicht viel günstiger denke wie über Poesie, bloß daß Liebe doch noch mehr Unheil anrichtet, weil sie noch allgemeiner auftritt) – wenn es sich um Dinge wie Liebe handelt, so darf man nicht sagen, ‚ich habe mich damit beschäftigt.‘ Liebe ist doch schließlich immer was Forsches, sonst kann sie sich ganz und gar begraben lassen, und da möcht’ ich denn doch etwas von dir hören, was ein bißchen wie Leidenschaft aussieht. Es braucht ja nicht gleich was Schreckliches zu sein. Aber so ganz ohne Stimulus, wie man, glaub’ ich, jetzt sagt, so ganz ohne so was geht es nicht; alle Menschheit ist darauf gestellt, und wo’s einschläft, ist so gut wie alles vorbei. Nun weiß ich zwar recht gut, es geht auch ohne uns, aber das ist doch alles bloß etwas, was einem von Verstandes wegen aufgezwungen wird; das egoistische Gefühl, das immer unrecht, aber auch immer recht hat, will von dem allem nichts wissen und besteht darauf, daß die Stechline weiterleben, wenn es sein kann, in aeternum. Ewig weiterleben; – ich räume ein, es hat ein bißchen was Komisches, aber es gibt wenig ernste Sachen, die nicht auch eine komische Seite hätten... Also dich ‚beschäftigen‘ diese Dinge. Kannst du Namen nennen? Auf wem haben Eurer Hoheit Augen zu ruhen geruht?“

„Papa, Namen darf ich noch nicht nennen. Ich bin meiner Sache noch nicht sicher genug, und das ist auch der Grund, warum ich Wendungen gebraucht habe, die dir nüchtern und prosaisch erschienen sind. Ich kann dir aber sagen, ich hätte mich lieber anders ausgedrückt; nur darf ich es noch nicht. Und dann weiß ich ja auch, daß du selber einen abergläubischen Zug hast und ganz aufrichtig davon ausgehst, daß man sich sein Glück verreden kann, wenn man zu früh oder zu viel davon spricht.“

„Brav, brav. Das gefällt mir. So ist es. Wir sind immer von neidischen und boshaften Wesen mit Fuchsschwänzen und Fledermausflügeln umstellt, und wenn wir renommieren oder sicher tun, dann lachen sie. Und wenn sie erst lachen, dann sind wir schon so gut wie verloren. Mit unsrer eignen Kraft ist nichts getan, ich habe nicht den Grashalm sicher, den ich hier ausreiße. Demut, Demut... Aber trotzdem komm’ ich dir mit der naiven Frage (denn man widerspricht sich in einem fort), ist es was Vornehmes, was Pikfeines?“

„Pikfein, Papa, will ich nicht sagen. Aber vornehm gewiss.“

„Na, das freut mich. Falsche Vornehmheit ist mir ein Greuel; aber richtige Vornehmheit – à la bonne heure. Sage mal, vielleicht was vom Hofe?“

„Nein, Papa.“

„Na, desto besser. Aber da kommen ja die Herren. Der Rex sieht wirklich verdeubelt gut aus, ganz das, was wir früher einen Garde-Assessor nannten. Und fromm, sagst du, – wird also wohl Karriere machen; fromm, ist wie ’ne untergelegte Hand.“




Während dieser Worte stiegen Rex und Czako die Stufen zum Garten hinunter und begrüßten den Alten. Er erkundigte sich nach ihren nächtlichen Schicksalen, freute sich, daß sie „durchgeschlafen“ hätten, und nahm dann Czakos Arm, um vom Garten her auf die Veranda, wo Engelke mittlerweile unter der großen Marquise den Frühstückstisch hergerichtet hatte, zurückzukehren. „Darf ich bitten, Herr von Rex.“ Und er wies auf einen Gartenstuhl, ihm gerade gegenüber, während Woldemar und Czako links und rechts neben ihm Platz nahmen. „Ich habe neuerdings den Tee eingeführt, das heißt nicht obligatorisch; im Gegenteil, ich persönlich bleibe lieber bei Kaffee, „schwarz wie der Teufel, süß wie die Sünde, heiß wie die Hölle“, wie bereits Talleyrand gesagt haben soll. Aber, Pardon, daß ich Sie mit so was überhaupt noch belästige. Schon mein Vater sagte mal: „Ja, wir auf dem Lande, wir haben immer noch die alten Wiener Kongresswitze.“ Und das ist nun schon wieder ein Menschenalter her.“

„Ach, diese alten Kongresswitze“, sagte Rex verbindlich, „ich möchte mir die Bemerkung erlauben, Herr Major, daß diese alten Witze besser sind als die neuen. Und kann auch kaum anders sein. Denn wer waren denn die Verfasser von damals? Talleyrand, den Sie schon genannt haben, und Wilhelm von Humboldt und Friedrich Gentz und ihresgleichen. Ich glaube, daß das Metier seitdem sehr herabgestiegen ist.“

„Ja, herabgestiegen ist alles, und es steigt immer weiter nach unten. Das ist, was man neue Zeit nennt, immer weiter runter. Und mein Pastor, den Sie ja gestern Abend kennen gelernt haben, der behauptet sogar, das sei das Wahre, das sei das, was man Kultur nenne, daß immer weiter nach unten gestiegen würde. Die aristokratische Welt habe abgewirtschaftet, und nun komme die demokratische...“

„Sonderbare Worte für einen Geistlichen,“ sagte Rex, „für einen Mann, der doch die durch Gott gegebenen Ordnungen kennen sollte.“

Dubslav lachte. „Ja, das bestreitet er Ihnen. Und ich muss bekennen, es hat manches für sich, trotzdem es mir nicht recht passt. Im übrigen, wir werden ihn, ich meine den Pastor, ja wohl noch beim zweiten Frühstück sehen, wo Sie dann Gelegenheit nehmen können, sich mit ihm persönlich darüber auseinanderzusetzen; er liebt solche Gespräche, wie Sie wohl schon gemerkt haben, und hat eine kleine Lutherneigung, sich immer auf das jetzt übliche: ‚Hier steh’ ich, ich kann nicht anders‘ auszuspielen. Mitunter sieht es wirklich so aus, als ob wieder eine gewisse Märtyrerlust in die Menschen gefahren wäre, bloß ich trau dem Frieden noch nicht so recht.“

„Ich auch nicht,“ bemerkte Rex, „meistens Renommisterei.“

„Na, na“, sagte Czako. „Da hab’ ich doch noch diese letzten Tage von einem armen russischen Lehrer gelesen, der unter die Soldaten gesteckt wurde (sie haben da jetzt auch so was wie allgemeine Dienstpflicht), und dieser Mensch, der Lehrer, hat sich geweigert, eine Flinte loszuschießen, weil das bloß Vorschule sei zu Mord und Totschlag, also ganz und gar gegen das fünfte Gebot. Und dieser Mensch ist sehr gequält worden, und zuletzt ist er gestorben. Wollen Sie das auch Renommisterei nennen?“

„Gewiss will ich das.“

„Herr von Rex,“ sagte Dubslav, „sollten Sie dabei nicht zu weit gehen? Wenn sich’s ums Sterben handelt, da hört das Renommieren auf. Aber diese Sache, von der ich übrigens auch gehört habe, hat einen ganz andern Schlüssel. Das liegt nicht an der allgemein gewordenen Renommisterei, das liegt am Lehrertum. Alle Lehrer sind nämlich verrückt. Ich habe hier auch einen, an dem ich meine Studien gemacht habe; heißt Krippenstapel, was allein schon was sagen will. Er ist grad um ein Jahr älter als ich, also runde siebenundsechzig, und eigentlich ein Prachtexemplar, jedenfalls ein vorzüglicher Lehrer. Aber verrückt ist er doch.“

„Das sind alle,“ sagte Rex. „Alle Lehrer sind ein Schrecknis. Wir im Kultusministerium können ein Lied davon singen. Diese Abc-Pauker wissen alles, und seitdem anno sechsundsechzig der unsinnige Satz in die Mode kam, ‚der preußische Schulmeister habe die Österreicher geschlagen‘ – ich meinerseits würde lieber dem Zündnadelgewehr oder dem alten Steinmetz, der alles, nur kein Schulmeister war, den Preis zuerkennen – seitdem ist es vollends mit diesen Leuten nicht mehr auszuhalten. Herr von Stechlin hat eben von einem der Humboldts gesprochen; nun, an Wilhelm von Humboldt trauen sie sich noch nicht recht heran, aber was Alexander von Humboldt konnte, das können sie nun schon lange.“

„Da treffen Sie’s, Herr von Rex,“ sagte Dubslav. „Genauso ist meiner auch. Ich kann nur wiederholen, ein vorzüglicher Mann; aber er hat den Prioritätswahnsinn. Wenn Koch das Heilserum erfindet oder Edison Ihnen auf fünfzig Meilen eine Oper vorspielt, mit Getrampel und Händeklatschen dazwischen, so weist Ihnen mein Krippenstapel nach, daß er das vor dreißig Jahren auch schon mit sich rumgetragen habe.“

„Ja, ja, so sind sie alle.“

„Übrigens... Aber darf ich Ihnen nicht noch von diesem gebackenen Schinken vorlegen?... Übrigens mahnt mich Krippenstapel daran, daß die Feststellung eines Vormittagsprogramms wohl an der Zeit sein dürfte; Krippenstapel ist nämlich der geborene Cicerone dieser Gegenden, und durch Woldemar weiß ich bereits, daß Sie uns die Freude machen wollen, sich um Stechlin und Umgegend ein klein wenig zu kümmern, Dorf, Kirche, Wald, See – um den See natürlich am meisten, denn der ist unsre pièce de résistance. Das andere giebt es woanders auch, aber der See... Lorenzen erklärt ihn außerdem noch für einen richtigen Revolutionär, der gleich mitrumort, wenn irgendwo was los ist. Und es ist auch wirklich so. Mein Pastor aber sollte, beiläufig bemerkt, so was lieber nicht sagen. Das sind so Geistreichigkeiten, die leicht übel vermerkt werden. Ich persönlich lass’ es laufen. Es giebt nichts, was mir so verhasst wäre wie Polizeimaßregeln, oder einem Menschen, der gern ein freies Wort spricht, die Kehle zuzuschnüren. Ich rede selber gern, wie mir der Schnabel gewachsen ist.“

„Und verplauderst dich dabei,“ sagte Woldemar, „und vergisst zunächst unser Programm. Um spätestens zwei müssen wir fort; wir haben also nur noch vier Stunden. Und Globsow, ohne das es nicht gehen wird, ist weit und kostet uns wenigstens die Hälfte davon.“

„Alles richtig. Also das Menü, meine Herren. Ich denke mir die Sache so. Erst (da gleich hinter dem Buchsbaumgange) Besteigung des Aussichtsturms – noch eine Anlage von meinem Vater her, die sich, nach Ansicht der Leute hier, vordem um vieles schöner ausnahm als jetzt. Damals waren nämlich noch lauter bunte Scheiben da oben, und alles, was man sah, sah rot oder blau oder orangefarben aus. Und alle Welt hier war unglücklich, als ich diese bunten Gläser wegnehmen ließ. Ich empfand es aber wie ’ne Naturbeleidigung. Grün ist grün und Wald ist Wald... Also Nummer eins der Aussichtsturm; Nummer zwei Krippenstapel und die Schule; Nummer drei die Kirche samt Kirchhof. Pfarre schenken wir uns. Dann Wald und See. Und dann Globsow, wo sich eine Glasindustrie befindet. Und dann wieder zurück und zum Abschluß ein zweites Frühstück, eine altmodische Bezeichnung, die mir aber trotzdem immer besser klingt als Lunch. ‚Zweites Frühstück‘ hat etwas ausgesprochen Behagliches und gibt zu verstehen, daß man ein erstes schon hinter sich hat... Woldemar, dies ist mein Programm, das ich dir, als einem Eingeweihten, hiermit unterbreite. Ja oder nein?“

„Natürlich ja, Papa. Du triffst dergleichen immer am besten. Ich meinerseits mache aber nur die erste Hälfte mit. Wenn wir in der Kirche fertig sind, muss ich zu Lorenzen. Krippenstapel kann mich ja mehr als ersetzen, und in Globsow weiß er all und jedes. Er spricht, als ob er Glasbläser gewesen wäre.“

„Darf dich nicht wundern. Dafür ist er Lehrer im allgemeinen und Krippenstapel im besonderen.“

So war denn also das Programm festgestellt, und nachdem Dubslav mit Engelkes Hilfe seinen noch ziemlich neuen weißen Filzhut, den er sehr schonte, mit einem wotanartigen schwarzen Filzhut vertauscht und einen schweren Eichenstock in die Hand genommen hatte, brach man auf, um zunächst auf den als erste Sehenswürdigkeit festgesetzten Aussichtsturm hinaufzusteigen. Der Weg dahin, keine hundert Schritte, führte durch einen sogenannten „Poetensteig“. „Ich weiß nicht,“ sagte Dubslav, „warum meine Mutter diesen etwas anspruchsvollen Namen hier einführte. So viel mir bekannt, hat sich hier niemals etwas betreffen lassen, was zu dieser Rangerhöhung einer ehemaligen Taxushecke hätte Veranlassung geben können. Und ist auch recht gut so.“

„Warum gut, Papa?“

„Nun, nimm es nicht übel,“ lachte Dubslav. „Du sprichst ja, wie wenn du selber einer wärst. Im übrigen räum’ ich dir ein, daß ich kein rechtes Urteil über derlei Dinge habe. Bei den Kürassieren war keiner, und ich habe überhaupt nur einmal einen gesehen, mit einem kleinen Verdruss und einer Goldbrille, die er beständig abnahm und putzte. Natürlich bloß ein Männchen, klein und eitel. Aber sehr elegant.“

„Elegant?“ fragte Czako. „Dann stimmt es nicht; dann haben Sie so gut wie keinen gesehen.“

Unter diesem Gespräche waren sie bis an den Turm gekommen, der in mehreren Etagen und zuletzt auf bloßen Leitern anstieg. Man mußte schwindelfrei sein, um gut hinaufzukommen. Oben aber war es wieder gefahrlos, weil eine feste Wandung das Podium umgab. Rex und Czako hielten Umschau. Nach Süden hin lag das Land frei, nach den drei andern Seiten hin aber war alles mit Waldmassen besetzt, zwischen denen gelegentlich die sich hier auf weite Meilen hinziehende Seenkette sichtbar wurde. Der nächste See war der Stechlin.

„Wo ist nun die Stelle?“ fragte Czako. „Natürlich die, wo’s sprudelt und strudelt.“

„Sehen Sie die kleine Buchtung da, mit der weißen Steinbank?“

„Jawohl; ganz deutlich.“

„Nun, von der Steinbank aus keine zwei Bootslängen in den See hinein, da haben Sie die Stelle, die, wenn’s sein muss, mit Java telephoniert.“

„Ich gäbe was drum,“ sagte Czako, „wenn jetzt der Hahn zu krähen anfinge.“

„Diese kleine Aufmerksamkeit muß ich Ihnen leider schuldig bleiben und hab’ überhaupt da nach rechts hin nichts andres mehr für Sie als die roten Ziegeldächer, die sich zwischen dem Waldrand und dem See wie auf einem Bollwerk hinziehen. Das ist Kolonie Globsow. Da wohnen die Glasbläser. Und dahinter liegt die Glashütte. Sie ist noch unter dem alten Fritzen entstanden und heißt die ‚grüne Glashütte‘.“

„Die grüne? Das klingt ja beinah’ wie aus ’nem Märchen.“

„Ist aber eher das Gegenteil davon. Sie heißt nämlich so, weil man da grünes Glas macht, allergewöhnlichstes Flaschenglas. An Rubinglas mit Goldrand dürfen Sie hier nicht denken. Das ist nichts für unsre Gegend.“

Und damit kletterten sie wieder hinunter und traten, nach Passierung des Schlossvorhofs, auf den quadratischen Dorfplatz hinaus, an dessen einer Ecke die Schule gelegen war. Es mußte die Schule sein, das sah man an den offenstehenden Fenstern und den Malven davor, und als die Herren bis an den grünen Staketenzaun heran waren, hörten sie auch schon den prompten Schulgang da drinnen, erst die scharfe, kurze Frage des Lehrers und dann die sofortige Massenantwort. Im nächsten Augenblick, unter Vorantritt Dubslavs, betraten alle den Flur, und weil ein kleiner weißer Kläffer sofort furchtbar zu bellen anfing, erschien Krippenstapel, um zu sehen, was los sei.

„Guten Morgen, Krippenstapel,“ sagte Dubslav. „Ich bring’ Ihnen Besuch.“

„Sehr schmeichelhaft, Herr Baron.“

„Ja, das sagen Sie; wenn’s nur wahr ist. Aber unter allen Umständen lassen Sie den Baron aus dem Spiel... Sehen Sie, meine Herren, mein Freund Krippenstapel is ein ganz eignes Haus. Alltags nennt er mich Herr von Stechlin (den Major unterschlägt er), und wenn er ärgerlich ist, nennt er mich ‚gnäd’ger Herr‘. Aber sowie ich mit Fremden komme, betitelt er mich Herr Baron. Er will was für mich thun.“

Krippenstapel, still vor sich hin schmunzelnd, hatte mittlerweile die Tür zu der seiner Schulklasse gegenüber gelegenen Wohnstube geöffnet und bat die Herren, eintreten zu wollen. Sie nahmen auch jeder einen Stuhl in die Hand, aber stützten sich nur auf die Lehne, während das Gespräch zwischen Dubslav und dem Lehrer seinen Fortgang nahm. „Sagen Sie, Krippenstapel, wird es denn überhaupt gehen? Sie sollen uns natürlich alles zeigen, und die Schule ist noch nicht aus.“

„Oh, gewiss geht es, Herr von Stechlin.“

„Ja, hören Sie, wenn der Hirt fehlt, rebelliert die Herde...“

„Nicht zu befürchten, Herr von Stechlin. Da war mal ein Bürgermeister, achtundvierziger Zeit, Namen will ich lieber nicht nennen, der sagte: ‚Wenn ich meinen Stiefel ans Fenster stelle, regier’ ich die ganze Stadt.‘ Das war mein Mann.“

„Richtig; den hab’ ich auch noch gekannt. Ja, der verstand es. Überhaupt immer in der Furcht des Herrn. Dann geht alles am besten. Der Hauptregente bleibt doch der Krückstock.“

„Der Krückstock“, bestätigte Krippenstapel. „Und dann freilich die Belohnungen.“

„Belohnungen?“ lachte Dubslav. „Aber Krippenstapel, wo nehmen Sie denn die her?“

„Oh, die hat’s schon, Herr von Stechlin. Aber immer mit Verschiedenheiten. Ist es was Kleines, so kriegt der Junge bloß ’nen Katzenkopp weniger, ist es aber was Großes, dann kriegt er ’ne Wabe.“

„’ne Wabe? Richtig. Davon haben wir schon heute früh beim Frühstück gesprochen, als Ihr Honig auf den Tisch kam. Ich habe den Herren dabei gesagt, Sie wären der beste Imker in der ganzen Grafschaft.“

„Zu viel Ehre, Herr von Stechlin. Aber das darf ich sagen, ich versteh’ es. Und wenn die Herren mir folgen wollen, um das Volk bei der Arbeit zu sehen – es ist jetzt gerade beste Zeit.“

Alle waren einverstanden, und so gingen sie denn durch den Flur bis in Hof und Garten hinaus und nahmen hier Stellung vor einem offenen Etagenschuppen, drin die Stöcke standen, nicht altmodische Bienenkörbe, sondern richtige Bienenhäuser, nach der Dzierzonschen Methode, wo man alles herausnehmen und jeden Augenblick in das Innere bequem hineingucken kann. Krippenstapel zeigte denn auch alles, und Rex und Czako waren ganz aufrichtig interessiert.

„Nun aber, Herr Lehrer Krippenstapel“, sagte Czako, „nun bitte, geben Sie uns auch einen Kommentar. Wie is das eigentlich mit den Bienen? Es soll ja was ganz Besondres damit sein.“

„Ist es auch, Herr Hauptmann. Das Bienenleben ist eigentlich feiner und vornehmer als das Menschenleben.“

„Feiner, das kann ich mir schon denken; aber auch vornehmer? Was Vornehmeres als den Menschen giebt es nicht. Indessen, wie’s damit auch sei, ‚ja‘ oder ‚nein‘, Sie machen einen nur immer neugieriger. Ich habe mal gehört, die Bienen sollen sich auf das Staatliche so gut verstehen; beinah’ vorbildlich.“

„So ist es auch, Herr Hauptmann. Und eines ist ja da, worüber sich als Thema vielleicht reden lässt. Da sind nämlich in jedem Stock drei Gruppen oder Klassen. In Klasse eins haben wir die Königin, in Klasse zwei haben wir die Arbeitsbienen (die, was für alles Arbeitsvolk wohl eigentlich immer das Beste ist, geschlechtslos sind), und in Klasse drei haben wir die Drohnen; die sind männlich, worin zugleich ihr eigentlicher Beruf besteht. Denn im übrigen thun sie gar nichts.“

„Interessanter Staat. Gefällt mir. Aber immer noch nicht vorbildlich genug.“

„Und nun bedenken Sie, Herr Hauptmann. Winterlang haben sie so dagesessen und gearbeitet oder auch geschlafen. Und nun kommt der Frühling, und das erwachende neue Leben ergreift auch die Bienen, am mächtigsten aber die Klasse eins, die Königin. Und sie beschließt nun, mit ihrem ganzen Volk einen Frühlingsausflug zu machen, der sich für sie persönlich sogar zu einer Art Hochzeitsreise gestaltet. So muss ich es nennen. Unter den vielen Drohnen nämlich, die ihr auf der Ferse sind, wählt sie sich einen Begleiter, man könnte sagen einen Tänzer, der denn auch berufen ist, alsbald in eine noch intimere Stellung zu ihr einzurücken. Etwa nach einer Stunde kehrt die Königin und ihr Hochzeitszug in die beengenden Schranken ihres Staates zurück. Ihr Dasein hat sich inzwischen erfüllt. Ein ganzes Geschlecht von Bienen wird geboren, aber weitere Beziehungen zu dem bewussten Tänzer sind ein für allemal ausgeschlossen. Es ist das gerade das, was ich vorhin als fein und vornehm bezeichnet habe. Bienenköniginnen lieben nur einmal. Die Bienenkönigin liebt und stirbt.“

„Und was wird aus der bevorzugten Drohne, aus dem Prinzessinnentänzer, dem Prince-Consort, wenn dieser Titel ausreicht?“

„Dieser Tänzer wird ermordet.“

„Nein, Herr Lehrer Krippenstapel, das geht nicht. Unter dieser letzten Mitteilung bricht meine Begeisterung wieder zusammen. Das ist ja schlimmer als der Heinesche Asra. Der stirbt doch bloß. Aber hier haben wir Ermordung. Sagen Sie, Rex, wie stehen Sie dazu?“

„Das monogamische Prinzip, woran doch schließlich unsre ganze Kultur hängt, kann nicht strenger und überzeugender demonstriert werden. Ich finde es großartig.“

Czako hätte gern geantwortet; aber er kam nicht dazu, weil in diesem Augenblick Dubslav darauf aufmerksam machte, daß man noch viel vor sich habe. Zunächst die Kirche. „Seine Hochwürden, der wohl eigentlich dabei sein müsste, wird es nicht übelnehmen, wenn wir auf ihn verzichten. Aber Sie, Krippenstapel, können Sie?“

Krippenstapel wiederholte, daß er Zeit vollauf habe. Zudem schlug die Schuluhr, und gleich beim ersten Schlage hörte man, wie’s drinnen in der Klasse lebendig wurde und die Jungens in ihren Holzpantinen über den Flur weg auf die Straße stürzten. Draußen aber stellten sie sich militärisch auf, weil sie mittlerweile gehört hatten, daß der gnädige Herr gekommen sei.

„Morgen, Jungens“, sagte Dubslav, an einen kleinen Schwarzhaarigen herantretend. „Bist von Globsow?“

„Nein, gnädiger Herr, von Dagow.“

„Na, lernst auch gut?“

Der Junge griente.

„Wann war denn Fehrbellin?“

„Achtzehnte Juni.“

„Und Leipzig?“

„Achtzehnter Oktober. Immer achtzehnter bei uns.“

„Das ist recht, Junge... Da.“

Und dabei griff er in seinen Rock und suchte nach einem Nickel. „Sehen Sie, Hauptmann, Sie sind ein bißchen ein Spötter, so viel hab’ ich schon gemerkt; aber so muss es gemacht werden. Der Junge weiß von Fehrbellin und von Leipzig und hat ein kluges Gesicht und steht Red’ und Antwort. Und rote Backen hat er auch. Sieht er aus, als ob er einen Kummer hätte oder einen Gram ums Vaterland? Unsinn. Ordnung und immer feste. Na, solange ich hier sitze, so lange hält es noch. Aber freilich, es kommen andre Tage.“

Woldemar lächelte.

„Na“, fuhr der Alte fort, „will mich trösten. Als der Alte Fritz zu sterben kam, dacht’ er auch, nu ginge die Welt unter. Und sie steht immer noch, und wir Deutsche sind wieder obenauf, ein bißchen zu sehr. Aber immer besser als zu wenig.“

Inzwischen hatte sich Krippenstapel in seiner Stube proper gemacht: schwarzer Rock mit dem Inhaberband des Adlers von Hohenzollern, den ihm sein gütiger Gutsherr verschafft hatte. Statt des Hutes, den er in der Eile nicht hatte finden können, trug er eine Mütze von sonderbarer Form. In der Rechten aber hielt er einen ausgehöhlten Kirchenschlüssel, der wie ’ne rostige Pistole aussah.

Der Weg bis zur Kirche war ganz nah. Und nun standen sie dem Portal gegenüber.

Rex, zu dessen Ressort auch Kirchenbauliches gehörte, setzte sein Pincenez auf und musterte. „Sehr interessant. Ich setze das Portal in die Zeit von Bischof Luger. Prämonstratenser-Bau. Wenn mich nicht alles täuscht, Anlehnung an die Brandenburger Krypte. Also sagen wir zwölfhundert. Wenn ich fragen darf, Herr von Stechlin, existieren Urkunden? Und war vielleicht Herr von Quast schon hier oder Geheimrat Adler, unser bester Kenner?“

Dubslav geriet in eine kleine Verlegenheit, weil er sich einer solchen Gründlichkeit nicht gewärtigt hatte. „Herr von Quast war einmal hier, aber in Wahlangelegenheiten. Und mit den Urkunden ist es gründlich vorbei, seit Wrangel hier alles niederbrannte. Wenn ich von Wrangel spreche, mein’ ich natürlich nicht unsern ‚Vater Wrangel‘, der übrigens auch keinen Spaß verstand, sondern den Schillerschen Wrangel... Und außerdem, Herr von Rex, ist es so schwer für einen Laien. Aber Sie, Krippenstapel, was meinen Sie?“

Rex, über den plötzlich etwas von Dienstlichkeit gekommen war, zuckte zusammen. Er hatte sich an Herrn von Stechlin gewandt, wenn nicht als an einen wissenden, so doch als an einen Ebenbürtigen, und daß jetzt Krippenstapel aufgefordert wurde, das entscheidende Wort in dieser Angelegenheit zu sprechen, wollte ihm nicht recht passend erscheinen. Überhaupt, was wollte diese Figur, die doch schon stark die Karikatur streifte. Schon der Bericht über die Bienen, und namentlich was er über die Haltung der Königin und den Prince-Consort gesagt hatte, hatte so merkwürdig anzüglich geklungen, und nun wurde dies Schulmeisteroriginal auch noch aufgefordert, über bauliche Fragen, und aus welchem Jahrhundert die Kirche stamme, sein Urteil abzugeben. Er hatte wohlweislich nach Quast und Adler gefragt, und nun kam Krippenstapel! Wenn man durchaus wollte, konnte man das alles patriarchalisch finden; aber es mißfiel ihm doch. Und leider war Krippenstapel – der zu seinen sonstigen Sonderbarkeiten auch noch den ganzen Trotz des Autodidakten gesellte – keineswegs angethan, die kleinen Unebenheiten, in die das Gespräch hineingeraten war, wieder glatt zu machen. Er nahm vielmehr die Frage: „Krippenstapel, was meinen Sie?“ ganz ernsthaft auf und sagte:

„Wollen verzeihen, Herr von Rex, wenn ich unter Anlehnung an eine neuerdings erschienene Broschüre des Oberlehrers Tucheband in Templin zu widersprechen wage. Dieser Grafschaftswinkel hier ist von mehr mecklenburgischem und uckermärkischem als brandenburgischem Charakter, und wenn wir für unsre Stechliner Kirche nach Vorbildern forschen wollen, so werden wir sie wahrscheinlich in Kloster Himmelpfort oder Gransee zu suchen haben, aber nicht in Dom Brandenburg. Ich möchte hinzusetzen dürfen, daß Oberlehrer Tuchebands Aufstellungen, so viel ich weiß, unwidersprochen geblieben sind.“

Czako, der diesem aufflackernden Kampfe zwischen einem Ministerialassessor und einem Dorfschulmeister mit größtem Vergnügen folgte, hätte gern noch weitere Scheite herzugetragen, Woldemar aber empfand, daß es höchste Zeit sei, zu intervenieren, und bemerkte: nichts sei schwerer, als auf diesem Gebiete Bestimmungen zu treffen – ein Satz, den übrigens sowohl Rex wie Krippenstapel ablehnen zu wollen schienen – und daß er vorschlagen möchte, lieber in die Kirche selbst einzutreten, als hier draußen über die Säulen und Kapitelle weiter zu debattieren.

Man fand sich in diesen Vorschlag, Krippenstapel öffnete die Kirche mit seinem Riesenschlüssel, und alle traten ein.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Stechlin.