III. Die Geschlossenheit der Plätze.

Das Einbauen der Kirchen und Paläste lenkt die Betrachtung wieder zu dem Typus des antiken Forums zurück mit seiner strengen Geschlossenheit gegen außen. Untersucht man die mittelalterlichen und Renaissance-Plätze, besonders in Italien, nunmehr auf diese besondere Eigenschaft, so gewahrt man bald, dass auch in diesem Punkte die Tradition sich lange erhielt und wie ungemein viel gerade dieser Umstand zur harmonischen Gesammtwirkung beiträgt. Schon nach dem bisher Geschilderten ist es einleuchtend, dass ein freier Raum im Innern einer Stadt hauptsächlich dadurch ja erst zum Platz wird. Heute wird freilich auch der blosse leere Raum so benannt, welcher entsteht, wenn eine von vier Strassen umsäumte Baustelle einfach unverbaut bleiben soll. In hygienischer und mancher anderen technischen Beziehung mag das allein schon genügen; in künstlerischer Beziehung ist ein blos unverbauter Fleck noch kein Stadtplatz. Streng genommen gehört von diesem Standpunkte aus sogar sehr viel noch dazu an Ausschmückung. Bedeutung, Charakter; aber so wie es möblirte Zimmer und auch leere gibt, so könnte man von eingerichteten und noch uneingerichteten Plätzen reden, die Hauptbedingung dazu ist aber beim Platz sowie beim Zimmer die Geschlossenheit des Raumes.

Auch diese wichtigste, greradezu unerlässliche Vorbedingung jeder künstlerischen Wirkung kennt der moderne Städtebau nicht. Bei den Alten dagegen findet man mancherlei Mittel angewendet, eine gewisse Geschlossenheit des Raumes unter den verschiedensten Bedingungen zu erzielen. Freilich waren sie in diesem Streben unterstützt durch die Tradition, begünstigt durch die herkömmliche Enge der Strassen, durch geringere Verkehrsbedürfnisse; aber gerade dort, wo diese Hilfe ihnen nicht förderlich zur Seite stand, bewährt sich ihr Talent, ihr natürliches Gefühl am glänzendsten. Die Betrachtung folgender Beispiele soll dies im Einzelnen darlegen. Der einfachste Fall ist der, dass gegenüber von einem monumentalen


Gebäude aus der Häusermasse ein Raum herausgeschnitten wird, der zugleich der Bedingung stetig fortlaufender Umschließung mit Gebäuden nach Thunlichkeit entspricht. Aus den zahlreichen Beispielen dieser Art sei der kleine Platz von S. Giovanni zu Brescia (Fig. 20) herausgegriffen. Häufig mündet noch eine zweite Gasse in diesen Platz, in welchem Falle jedoch dafür gesorgt ist, dass man wenigstens in den wichtigsten Richtungen des Blickes auf das Hauptgebäude etc. ein geschlossenes Bild bekommt. Dieses Zusammenhalten des Bildes, so zwar, dass man nicht aus dem Platz hinaussehen kann, wird auf so mannigfache Art erzielt, dass man dabei nicht blos von Zufall reden kann. Zufall mag es häufig gewesen sein, dass die Verhältnisse bereits günstig lagen, als der Platz zur endlichen Ausgestaltung kam. Dass eine solche Situation aber benützt und beibehalten wurde, war nicht mehr Zufall. Heute würde man im gleichen Falle mit diesen Zufälligkeiten gründlich aufräumen und gar schöne breite Breschen in die Platzwand schlagen, wie es ja thatsächlich überall geschieht, wo schön geschlossene alte Plätze erweitert und modernisirt werden. Zufall ist es gewiss auch nicht, dass man bei allen alten Plätzen ein dem modernen System schnurgerade entgegengesetztes in Bezug auf Einmündung der Strassen beobachten kann. Heute ist es Regel, an jeder Platzecke sich zwei Strassen senkrecht schneiden zu lassen, wahrscheinlich damit dort das Loch in der Platzwand noch grösser werde und jeder sogenannte „Häuserblock“ oder „Baublock“ möglichst vereinzelt für sich dastehe und ja keine geschlossene Gesammtwirkung aufkomme. Bei den Alten war gerade das Gegenteil Regel, nämlich an den Strassenecken womöglich nur je eine Strasse münden zu lassen, während die zweite Richtung erst tiefer in dieser Straße abzweigte, wo dies vom Platz aus nicht mehr gesehen werden kann. Aber noch mehr. Diese drei oder vier Eckstrassen münden jede nach einer anderen Richtung ein, und dieser merkwürdige Fall kommt so ungemein häufig vor, entweder rein und ganz durchgeführt oder wenigstens teilweise, dass auch das als einer der bewusst oder unbewusst herrschenden Grundsätze des alten Städtebaues angesehen werden muss. Bei näherer Ueberlegung findet man leicht, dass mit diesem Straßenansatz, nach Art von Turbinenarmen gerichtet, der günstigste Fall gewählt ist, bei welchem von jeder Stelle des Platzes aus gleichzeitig höchstens nur ein einziger Ausblick aus dem Platz hinaus vorhanden ist, also auch nur eine einzige Unterbrechung des Gesammtabschlusses; von den meisten Stellen des Platzes aus gesehen wird der gesammtc Rahmen desselben aber überhaupt nicht durchbrochen, weil die Gebäude an den Strassenmündungen sich perspectivisch überschneiden und durch diese gegenseitige Deckung keine unangenehm auffallende Lücke lassen. Das ganze Geheimniss besteht darin, dass die einmündenden Strassen winkelig zu den Visurrichtungen gelegt sind statt parallel mit ihnen, ein Kunstgriff, der auf anderem Gebiete von den Bauleuten, Zimmerleuten und Tischlern schon vom frühesten Mittelalter an oft in raffinirtester Weise geübt wurde, wenn es sich darum handelte, Stein- oder Holzfugen zu verbergen oder doch möglichst wenig auffallend zu gestalten. Die sogenannte Schlagleiste der Tischler verdankt nebst Anderem auch diesem Umstände ihre Entstehung und so häufige Verwendung.

Was die in den beigegebenen Figuren enthaltenen Beispiele betrifft, so zeigt den reinsten Typus dieser sinnreichen Anordnung der Domplatz von Ravenna (Fig. 22). Ebenso angelegt ist der Domplatz von Pistoja und viele andere. Zu Mantua zeigt die Piazza S. Pietro (Fig 23) diesen Typus gleichfalls in reiner Durchführung, während der Platz vor S. Filippo zu Siracus (Fig. 24) nur theilweise demselben entspricht. Etwas versteckter ist die geschilderte Regel enthalten in der Anlage der Piazza Signoria (Fig. 25) zu Florenz. Die breiten Hauptstraßen folgen der Regel, die bis gegen blos Meterbreite (neben Loggia Lanzi) verschmälerten Zwischengassen machen sich aber in Wirklichkeit nur sehr wenig bemerkbar, viel weniger als am Plan.

Wie trotz des Einmündens selbst breiter Strassen dennoch ein geschlossenes Bild entstehen kann, möge die Ansicht des Neuen Marktes in Wien (Fig. 26) zeigen. Auch dieser Platz ist (wenn auch nicht ganz streng) nach diesem System angeordnet; ebenso der große Rathhausplatz von St. Pölten und eine ungezählte Menge von anderen. Dass dieses System überraschend zahlreichen Plätzen wenigstens theilweise zu Grunde liegt, kann auch aus allen früher beigegebenen und noch folgenden Platzskizzen entnommen werden.

Hiermit sind aber die Hilfsmittel der Alten, eine Platzwand geschlossen zusammenzuhalten, noch nicht erschöpft. Ein häufig zu diesem Zweck angewendetes Motiv ist der überbaute weitgespannte Thorbogen, wodurch für den Anblick ein tadelloser Abschluss ermöglicht wird, während dem Verkehr je nach Zahl und Grösse der Oeffnungen beliebig Rechnung getragen werden kann.

Auch dieses herrliche Motiv kann heute als ausgestorben oder besser gesagt ausgetilgt betrachtet werden.

Unter den hauptsächlich hier anzuführenden Beispielen ragt wieder Florenz hervor mit seinem Ufficien-Porticus in nächster Nähe der Signoria (F'ig. 27) mit dem Durchblick auf den Arno. In Italien gibt es kaum eine grössere Stadt, welche nicht mehrfach Gebrauch davon gemacht hätte; nördlich der Alpen ist dieses Motiv ebenso zu Hause. Nur einige der prächtigeren Durchbildungen sollen hier genannt sein, wie das Langgasser-Thor zu Danzig mit drei Durchgängen und palastartigem Aufbau von feinster Gliederung und Proportion; der überbaute Thorweg zwischen dem Rathhaus und dem Kanzleigebäude zu Brügge; der originelle Kerkboog (sogenannte Kirchbogen) zu Nymwegen, 1542 von W. Nürnberger errichtet. Diesem ähnelt im Grundrisse etwas die mit einem Zinshaus überbaute Durchfahrt von der Bürgerwiese in die Porticusstrasse zu Dresden mit zwei Durchfahrten und zwei Gehöffnungen, so dass der Verkehr nicht im Geringsten behindert und doch die vollkommene Schliessung der Platzwand erzielt ist. Auch die kaum irgendwo übertroffene Schönheit des Josefsplatzes in Wien wurde nur durch Vermittlung zweier Thorbogen möglich, weil sonst bei Aufrechthaltung des nöthigen Verkehres, die wunderbar großartige Zusammenfassung der drei Hauptwände dieses Platzes nicht durchführbar gewesen wäre. Aehnlich wie hier sind einfache oder auch triumphbogenartige Thorwege für städtischen Wagen- und Fussgeherverkehr geradezu bei allen Residenzen zu finden. Würde man hierzu Schloss- und Rathhausportale größeren Umfanges nehmen, so ergäbe sich eine unübersehbare Fülle von Variationen, in welche gerade dieses fruchtbare Motiv schon gekleidet wurde. Das Alles kümmert aber den modernen Städteerbauer gar nicht.

Um auch hier den Vergleich mit der Antike nicht zu verlieren, sei noch an den Thorweg erinnert, durch welchen das Forum zu Pompeji (Fig. 28) beschritten werden konnte.

Die Hilfsmittel älterer Zeit zum Behufe des Abschließens von Plätzen sind noch nicht erschöpft. Es verbleiben noch zu nennen die Säulenhallen. Der größte Platz Roms, der Petersplatz (siehe die erste Tafel) wurde nur durch eine solche Colonnade gebildet, aber auch zur Füllung von Lücken wurde dieses Motiv häufig mit bestem Erfolg verwendet. Zuweilen gehen die Motive des überbauten Thorweges und der Colonnaden in einander über wie beim Domplatz zu Salzburg; zuweilen verwandeln sich die Colonnaden in architektonisch gegliederte Abschlusswände, wie bei S. M. Novella zu Florenz, oder gehen gänzlich in hohe Einfriedungsmauern über mit einfachen oder triumphbogenartigen Einfahrten, wie an der alten bischöflichen Residenz zu Bamberg (von 1591); am Rathhause zu Altenburg von Arch. N. Grohmann (1562 — 1564); an der alten Universität zu Freiburg i. B. und an zahlreichen anderen Orten.

Auch an einzelnen Monumentalbauten waren früher offene Loggien, theils in höheren Stockwerken, wie am Rathhause zu Halle von Architekt N. Hofmann 1548 oder am Rathhause zu Köln von Architekt W. Vernicke 1569, theils ebenerdig viel häufiger als jetzt. Von den zahlreichen Beispielen seien nur erwähnt: die Arkaden des Rathhauses zu Paderborn, des Rathhauses zu Ypern, das 1621 — 1622 von Architekt J. Sporemann erbaut wurde, ferner die Arkaden des alten Rathhauses zu Amsterdam, die Arkaden-Durchgänge des Rathhauses zu Lübeck, der Laubengang des Gewandhauses zu Braunschweig, das Rathhaus zu Brieg mit seiner oberen Loggia zwischen zwei Eckthürmen und von den vielen Marktplätzen mit Laubengängen der zu Münster und der zu Bologna, sowie der Portico dei servi zu Bologna. Ebendaselbst wäre auch an die schöne Halle des Pal. Podestà zu erinnern, ferner an den prächtigen Bogendurchgang von Monte vecchio in Brescia, an die schönen Loggien zu Udine und von S. Annunziata zu Florenz. Endlich findet sich das Motiv des offenen Säulenganges noch mannigfach ausgebildet in den Hofarchitekturen, Klosterkreuzgängen, Friedhöfen etc.

Alle die aufgezählten Anordnungen und Bauformen vereinigen sich ungezwungen zu einem ganzen System des Platzeinschließens in älterer Zeit. Im Gegensatze dazu erstrebt man in neuerer Zeit auch eine Freilegung der Plätze. Was das zu bedeuten hat, dürfte nach dem Bisherigen klar sein. Es kommt dies der Vernichtung der alten Plätze gleich. Wo immer ein solches Unglücksproject zur Durchführung kam, war die Raumwirkunst für immer verloren.