Der Sieg über das Heufieber

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1929
Autor: Dr. med. Gerhard Venzmer, Erscheinungsjahr: 1929

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Heufieber, Heuschnupfen, Überempfindlichkeit, Allergie, Pollen, Gräserblüte, Frühling, Schleimhäute, Krankheit, Leiden, Immunisieren,
Ein lachender Frühlingsmorgen. Die Vögel jubilieren, die Wiesen sind bunt von Blumen und blühenden Gräsern, Falter gaukeln von Blüte zu Blüte, Insekten füllen mit ihrem Gesumm und Gebrumm die Luft. Einer jener Tage, an denen es dem Wanderfrohen daheim zu eng wird. Also, das Ranzel geschnürt und zum Hause des Freundes geeilt, um mit ihm hinauszustürmen in diesen herrlichen Frühlingstag! Aber was ist das? Der verlässliche Wanderkamerad hat heute auf die Frage, ob er nicht mit hinauswolle, nur ein trauriges Kopfschütteln. „Es geht nicht, mein Lieber. Die Gräserblüte hat eben angefangen, und wenn ich auch nur einen Schritt aus dem Zimmer wage, so habe ich mit tödlicher Sicherheit meinen Heufieberanfall.“ Der Ärmste muss fröhliche Wanderung durch den Frühling mit freudlosem Aufenthalt im Halbdunkeln Zimmer vertauschen. Die winzigen Pollenkörner, die in diesen Tagen der Gräserblüte jeder noch so gelinde Windhauch zu Millionen durch die Luft wirbelt, würden auf seinen empfindlichen Schleimhäuten alsbald alle jene quälenden Erscheinungen hervorrufen, wie man sie unter dem Begriff des Heufiebers oder Heuschnupfens zusammenfasst: verschwollene Nase, Jucken, Kitzeln und Niesreiz, Lichtscheu, Rötung der Augen und Tränenträufeln, Hitzegefühl und Empfinden der Völle und Benommenheit im Kopfe, Rauigkeit im Halse und Heiserkeit, Schweißausbrüche, Mattigkeit, Brustbeklemmung und Atemnot, die sich bis zu richtigem „Heuasthma“ steigern kann.

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Es ist noch nicht lange her, dass man die wahre Ursache aller dieser die Kranken meist außerordentlich behindernden Symptome erkannte. Der englische Arzt John Bostock war es, der vor 110 Jahren zum ersten Male die damals wohl nur sehr vereinzelt auftretende Krankheit als „Sommerkatarrh“ beschrieb. Als Ursache des Leidens, das hinfort nach seinem Entdecker vielfach auch „Bostockscher Katarrh“ genannt wurde, beschuldigte er die Sommerhitze. In den folgenden Jahrzehnten wurde viel über die Ursachen der Krankheit herumgeraten und die verschiedensten Theorien aufgestellt. So glaubte der große Physiker Helmholtz, der selbst am Bostockschen Katarrh litt, in gewissen Bakterien des Nasenschleimes die Erreger des Sommerkatarrhs gefunden zu haben. Erst in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts kam man der Lösung des Problems näher. Die merkwürdige Tatsache, dass alle Erscheinungen des Bostockschen Katarrhs durchaus an eine bestimmte Jahreszeit geknüpft waren und restlos verschwanden, wenn diese „Saison" vorüber war, legte doch die Vermutung nahe, dass die wahre Ursache in einer jahreszeitlich bedingten Schädlichkeit zu suchen sei. Mehrfach wurden Stimmen laut, die die Pollen besonders der Wiesengräser als Erreger des Sommerkatarrhs beschuldigten, aber erst zu Beginn des neuen Jahrhunderts gelang es in einwandfreien wissenschaftlichen Versuchen, einen den Stärkekörnchen verschiedenster Blütenpollen anhaftenden Stoff als das Heufiebergift zu entlarven. Durchaus nicht nur den Blütenpollen der Wiesengräser haftet dieses Gift an; man würde daher auch folgerichtiger, wie in neuerer Zeit vorgeschlagen wurde, das Heufieber ganz allgemein als „Pollenkrankheit“ bezeichnen.

Wie ist es nun möglich, dass so geringe Mengen eines Stoffes, wie des Pollengiftes, so schwerwiegende Krankheitserscheinungen am menschlichen Körper hervorrufen? Man bedenke: beim Mais kommen etwa 7 Millionen, beim Roggen etwa 20 Millionen, bei anderen Heufieberpflanzen gar 80 bis 160 Millionen Pollenkörner auf ein Gramm; und dabei genügen schon einige wenige Pollenstäubchen, um bei dem Empfindlichen die Krankheitserscheinungen auszulösen! Wirklich haben denn auch genaue Versuche den Beweis erbracht, dass 1/40000 Milligramm oder 0,000000025 Gramm des Pollengiftes ausreichen, um bei dem zur Pollenkrankheit Neigenden alle Symptome der Krankheit hervorzurufen! Das sind so minimale Mengen, dass wir uns von ihrer Wirksamkeit im menschlichen Körper keine Vorstellung mehr machen können. Aber fast noch rätselhafter ist die Tatsache, dass den einen Menschen diese Pollenstoffe nicht die geringsten Unannehmlichkeiten verursachen, während sie bei anderen zu den quälendsten Beschwerden führen. Wir haben da eine Erscheinung vor uns, die wir nicht nur von den Pollen, sondern auch von anderen Stoffen her kennen: das seltsame Phänomen, dass einzelne Menschen winzigste Mengen bestimmter Stoffe nicht „vertragen“ können, während die gleichen Stoffe für die Mehrzahl der Menschen völlig unschädlich sind. Worauf im besonderen diese Verschiedenheit des Verhaltens beruht, vermag die Wissenschaft bis heute nicht anzugeben. Sie muss sich damit begnügen, festzustellen, dass dieser oder jener Mensch gegen diesen oder jenen Stoff „überempfindlich“ ist; und die Krankheitserscheinungen, die solche Stoffe bei den betreffenden Menschen auslösen, nennt sie „Überempfindlichkeitskrankheiten“. Stoffe verschiedenster Herkunft: Fische, Krebse, Fleisch bestimmter Tiere, bestimmtes Obst (Erdbeeren), Pollen, Haare und Hautschuppen von Tieren, Pilzteilchen, Milben und so weiter, können Überempfindlichkeitskrankheiten Hervorrufen; und genau so, wie Bronchialasthma und Nesselfieber in weitaus der Mehrzahl der Fälle auf Überempfindlichkeit des Kranken gegen einen der genannten Stoffe beruht, hat das Heufieber in der Überempfindlichkeit gegen das Pollengift der Blüten seine Ursache.

Wir können uns nun auch erklären, warum der zu Heufieber Neigende zur Blütezeit der Heufieberpflanzen so außerordentlich gefährdet ist: da wir, wie gesagt, wissen, dass schon einige wenige der zu Millionen in jeder Blüte enthaltenen Pollenkörner ausreichen, um die Erscheinungen auszulösen. Wenn man ferner bedenkt, dass der federleichte Blütenstaub auf weite Strecken hin vom Winde durch die Luft getragen wird, so begreift man, dass für den Überempfindlichen die Aussichten schlecht genug sind. Der zum Heufieber Neigende pflegt dementsprechend genau zu wissen, welcher Monat für ihn am gefährlichsten ist; und diese scharfe zeitliche Begrenzung der Heufieberanfälle hängt damit zusammen, dass der Heufieberpatient nicht etwa gegen die Pollen jeder Heufieberpflanze überempfindlich ist, sondern dass nur eine ganz bestimmte Pflanzenart beziehungsweise Pflanzengruppe ihm gefährlich wird. Für ihn ist es daher von größter praktischer Wichtigkeit, „seine“ Heufieberpflanze genau zu kennen, damit er sich während ihrer Blütezeit besonders in Acht nehmen kann. Diese Feststellung ist freilich nicht so ganz einfach, da die Zahl der als Heufiebererreger in Frage kommenden Pflanzen sehr groß ist. Pollenkrankheit können verursachen: fast alle Wiesengräser, besonders Schwingelarten, Ruchgras, Fioringras, Rispengras, Lolch, Timotheusgras, Fuchsschwanz, Quecke und Kammgras; von Getreidearten besonders Roggen, Weizen, Gerste, Hafer und Mais, von sonstigen Pflanzen Seggen, Beifuß, Nachtkerze, Tulpen, Hyazinthen, Maiglöckchen, Kornblumen, Flieder, Jasmin, Holunder; von Bäumen Linde, Falsche Akazie, Ahorn, Kastanie und allem Anschein nach auch die Obstblüte. — Einen gewissen Anhaltspunkt gibt schon die Zeit des Auftretens, die vom April bis in den Oktober variieren kann, in der Mehrzahl der Fälle aber in die Monate Mai, Juni und Juli fällt, weil in diesen Monaten die meisten Heufieberpflanzen blühen. Der zu Heufieber Neigende wird sich also zum Beispiel sagen, ich bekomme meine Pollenkrankheit alljährlich Mitte Mai. Um diese Zeit beginnen die und die Pflanzen zu blühen. Eine von ihnen muss also der Übeltäter sein. Aber welche? Heute hat die Wissenschaft ein Mittel, um auf verhältnismäßig einfache Weise die heufiebererregende Pflanzenart genau festzustellen. Impft man nämlich einem zur Pollenkrankheit Neigenden winzigste Mengen desjenigen Polenstoffes in die Haut ein, gegen den er überempfindlich ist, so bildet sich an der Impfstelle ein kleines Bläschen, während ungefährlicher Pollenstoff keinerlei Erscheinungen hervorruft. Man hat also nur nötig, mit denjenigen Pollenextrakten, die nach dem zeitlichen Auftreten des Heufiebers in Frage kommen, durchzuimpfen, um alsbald die schuldige Pflanzenart zu erkennen. Auf dieser Erkenntnis baut sich dann weiterhin auch die moderne Behandlung des Heufiebers auf. Wenn diese Krankheit in einer Überempfindlichkeit gegen bestimmte Pollen besteht, so wird sich eine rationelle Behandlungsweise die Aufgabe zu stellen haben, diese Überempfindlichkeit aufzuheben, mithin überhaupt die Neigung (Disposition) zum Heufieber zu beseitigen. Man erreicht das, indem man den zur Pollenkrankheit Neigenden ganz allmählich an das Pollengift gewöhnt, ihn dagegen abstumpft. Zu diesem Zweck spritzt man ihm vorsichtig allergeringste Mengen einer ganz schwachen Pollenverdünnung unter die Haut ein und steigert ganz langsam Stärke und Menge des Pollenextraktes. Der Körper bildet dann in seinen Säften Gegenstoffe gegen das Pollengift heran, die sich in ihrer Wirksamkeit im gleichen Maße steigern, wie die Menge des eingespritzten Pollenstoffes vermehrt wird. Am Ende einer solchen Abstumpfungskur sind dann die Abwehrkräfte des Körpers gegen das Pollengift meist so sehr gesteigert, dass es in dieser Jahreszeit nicht mehr zu Heufieberanfällen kommt. Vor Beginn der nächstjährigen Blütezeit muss freilich die Abstumpfungskur wiederholt werden; doch scheint es, dass sich dann allmählich dauernde Unempfindlichkeit gegen die Pollenwirkung herausbildet. Das neue Verfahren der Heufieberbehandlung bedeutet zweifellos einen wesentlichen Fortschritt in den Bestrebungen zur Bekämpfung der Pollenkrankheit. Es hat schon zahllosen Heufieberkranken geholfen und vielen Menschen, die sonst während der Blütezeit „ihrer“ Heufieberpflanze völlig arbeitsunfähig waren, ermöglicht, ungestört ihrem Beruf nachzugehen; ein umso beachtlicherer Erfolg, als doch nur die wenigsten Menschen während der Blütezeit heufieberfreie Orte wie Davos oder Helgoland aufsuchen können. Der Sieg über das Heufieber ist umso begrüßenswerter, als es im letzten Jahrzehnt sehr zugenommen hat — fast 1 vom Hundert der Bevölkerung leidet heute daran! — und noch Neigung zu weiterer Ausbreitung zeigt.

Die linden Lüfte sind erwacht / Nach einer Radierung von Ruckdeschel.

Der Sieg über das Heufieber

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Medizin, Heuschnupfen, Die linden Lüfte sind erwacht

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