Abschnitt. 2

Gehörten die Leute auf dem Lauenhofe nicht zu unseren allerbesten Freunden, wir könnten über alle lachen. Sie hätten es nun bald für eine Gnade genommen, wenn der Meister Häußler endlich angelangt wäre; aber der Meister Häußler kam fürs erste noch nicht. Das Wetter blieb feucht, die Tage wurden immer trostloser, und zu allem andern Elend hatte der geängstete und geärgerte Kreis auf dem Hofe jetzt auch noch in der Phantasie den Pastorenfranz auf seinen Pfaden zu verfolgen: Ist er wirklich gegangen, um ihn zu treffen? Wie wird er ihn treffen? Wo wird er ihn treffen? Hat er ihn in diesem Augenblick bereits getroffen? Und: was für einen Eindruck hat er auf den Buschmann gemacht?
Fast hätte die gnädige Frau einen Besuch im Pastorenhause abgestattet, und sie hätte in der Tat gar nicht übel daran getan, denn das Pastorenhaus wußte auch diesmal, d. h. unter der neuen Lage der Dinge, wirklich bald besser Bescheid als der Lauenhof und war ruhig.
Im Alexisbad hielt sich Herr Dietrich Häußler nicht mehr auf; aber in Wernigerode auf dem Marktplatz, dem alten, herrlichen Rathaus gegenüber, liegt der Gasthof zum Hirsch, und hier fand Franz Buschmann, ganz zufällig das Fremdenbuch durchblätternd, was er nicht suchte, nämlich ein ihm doch interessantes Autogramm:
„D. H. Edler von Haußenbleib, mit Bedienung.“
Am folgenden Tage schon langte im Krodebecker Pfarrhause ein Brief an, in welchem der gute Sohn den zärtlichen, besorgten Eltern einen kurzen Bericht von seiner Reise, seiner Gesundheit und einer höchst interessanten Bekanntschaft, welche er ganz zufällig gemacht hatte, gab; und umgehend schrieb der Herr Pastor an den guten Sohn im Hirsch zu Wernigerode zurück und freute sich sehr der Fügungen des Himmels und sah einen augenfälligen Fingerzeig Gottes da, wo andere Leute vielleicht etwas anderes gesehen haben würden.
Kein Diplomat hätte sich der Wendungen zu schämen brauchen, in welchen der geistliche Herr seinen Gefühlen in einer bestimmten Richtung Ausdruck gab und den augenblicklichen Stimmungen und Verhältnissen von Krodebeck Rechnung trug. Wer den Mann nur nach seinem all- und sonntäglichen Auftreten kannte, hätte gewiß nicht geahnt, wie zart und feinfühlig er unter Umständen sein konnte und in diesem Briefe war. Daß er am Schluß dieses Schreibens sich und sein Haus dem Edlen von Haußenbleib zur vollkommenen Verfügung stellte und ihn einlud, während seines voraussichtlichen Aufenthalts in Krodebeck sein Absteigequartier unter seinem bescheidenen Dache zu nehmen, war freilich für den überraschend, welcher den Mann und sein Haus nur aus dem Alltagsverkehr kannte.
Es erfolgte keine schriftliche Antwort auf diesen Brief; allein der liebe Franz hatte gefunden, daß das Wetter in den Bergen noch viel schlechter sei, als das Wetter vor den Bergen. Seine rheumatischen Beschwerden nahmen zu; er nahm Vernunft an, kehrte verdrießlich-ergeben das Gesicht wieder gen Norden und kehrte heim zum väterlichen Herde; der Edle von Haußenbleib ließ herzlichst grüßen und nahm mit aufrichtiger Dankbarkeit die wohlgemeinte, gütige Einladung freundlich an; jedoch auch er litt leider am Rheumatismus und hielt es für eine Pflicht sowohl gegen sich selber als gegen – seine Enkelin, seine Gesundheit nicht mutwillig zu vernachlässigen. Der Edle von Haußenbleib ließ sagen, er werde erscheinen, sobald das Wetter sich nur ein wenig aufgehellt habe, und sein sehnlichster Wunsch sei, daß dieses recht bald geschehen möge.
„Wir haben nunmehr unsere christliche Schuldigkeit getan und können jetzt das Weitere ohne Unruhe und Ungeduld erwarten“, sprach der Herr Pastor zu seiner Gattin; aber kummervoll müssen wir gestehen, daß wir nicht die christliche Geduld besaßen, um zu zählen, wie oft er von jetzt an nach dem Hahn auf seinem Kirchturm und nach dem Wetterglas sah und wie oft er melancholisch vor seine Haustür trat und die Hand prüfend in den Landregen hineinhielt.
Diesmal erfuhr der Lauenhof zuletzt das Gute, was der Herr Kandidat von seiner Fahrt heimgebracht hatte. Und er erfuhr es auf Umwegen, denn der Pastorenfranz, durch einen Schnupfen ins Zimmer gebannt, zeigte sich fürs erste nicht auf dem Hofe. An einem Sonnabend war der Kandidat heimgekehrt, und am folgenden Tage bereits hielt es der Herr Pastor für seine Pflicht, seine Gemeinde von einem erhöhten Standpunkte aus auf das bevorstehende Ereignis recht salbungsvoll vorzubereiten. Was er sagte und wie er es sagte, machte denn auch den gewünschten Eindruck: die Bauernschaft von Krodebeck lauschte mit aufgesperrtem Maul, Antonie Häußler war in Schrecken und Verwirrung einer Ohnmacht nahe, und die gnädige Frau war nahe daran, ihr Gesangbuch gegen die Kanzel zu schleudern und im Sturmschritt die Kirche zu verlassen. Daß sie sich bezwang, war eine Merkwürdigkeit, aber eine Merkwürdigkeit war’s auch, daß die fromme Gemeinde nicht auf der Stelle aus der Kirche fortstürzte, um vor dem südlichen Ausgange des Dorfes eine Ehrenpforte für den heimkehrenden Helden, der merkwürdigerweise diesmal wirklich als ein Ritter heimkehrte, zu errichten. Besprochen wurde das Ding wirklich am Nachmittag im Kruge, und wer weiß, ob nicht die Tat dem Rate gefolgt wäre, wenn nicht die Frau Adelheid ihren Gefühlen bereits an der Kirchentür mit Nachdruck Luft gemacht hätte. Auch die Frage, was der andere Herr Ritter zu der Sache sagen werde, fiel ins Gewicht, und so begnügte sich das Dorf damit, gleichfalls nach den Regenwolken zu sehen und mit Spannung zu erwarten, daß der Himmel sich aufkläre.
Seien wir nun kurz. Der Edle Häußler von Haußenbleib ist endlich lang genug ausgeblieben; und wie es bei allen mit Sehnsucht oder Furcht erwarteten großen oder kleinen Dingen zu gehen pflegt, so war auf einmal das Ereignis in die Welt getreten, ohne daß die Welt dadurch über den Haufen geworfen worden wäre: der Edle Häußler von Haußenbleib war in Krodebeck eingetroffen. Am Mittwoch schon und wirklich bei recht heiterem Himmel war der große Mann angelangt und hatte sogar das Pfarrhaus durch seine Ankunft überrascht; denn ganz einfach, wie der Einfachste der Sterblichen, zu Fuß kam er an, wandelte langsam und behaglich an den Stockrosen und Stachelbeerbüschen des Pfarrgartens vorüber, schlug tändelnd im Vorbeischreiten mit dem eleganten Stöckchen einer frühen Dahlie den Kopf ab, besah das geistliche und gastliche Haus eine kurze Weile durch sein Augenglas und trat ein. Der geistliche Herr fuhr verstört und ein wenig blödsinnig stierend aus dem Nachmittagsschlummer empor, die Gattin endigte mit einem leisen Schrei einen heftigen und sehr lauten Streit mit der Magd des bescheidenen Daches, und nur Franz war imstande, sich rasch zu fassen und die notwendige gegenseitige Vorstellung zu besorgen. Im nächsten Augenblick zeigte es sich denn freilich, daß über einen reuig heimkehrenden Sünder mehr Freude ist als über neunundneunzig Gerechte. Der Edle von Haußenbleib konnte mit dem ersten Empfang in Krodebeck wohl zufrieden sein.
Er war nicht nur zufrieden, er war sogar gerührt, und sein Wagen, oder vielmehr der Wagen des Wirts zum Hirsch in Wernigerode, hielt vor dem Dorfkruge, wo der vornehme Wiener Bediente mit Herablassung das scheue Staunen hinnahm, welchem sich der Herr so bescheiden entzogen hatte. Es zeigte sich bald, daß der Edle durchaus nicht deshalb nach Krodebeck gekommen sei, um Aufsehen zu erregen, und daß die Familie Buschmann in mehrfacher Beziehung über den Mann, welchen sie so gastfreundlich unter ihr Dach einlud, sich getäuscht habe. Von einer schönen, milden und etwas wehmütigen Vertraulichkeit war gar nicht die Rede. Unbefangen genug trat der erfahrene, weltgewandte Mann auf; aber diese helle lächelnde Unbefangenheit blieb seltsamerweise gänzlich auf der Seite des Herrn von Haußenbleib, und bereits während der ersten gern und höflich angenommenen Erfrischung merkte der Herr Pastor mit wachsendem Unbehagen, daß nicht er, sondern ganz und gar der verehrte Gast die Sachlage beherrsche und die Verhältnisse von Krodebeck nach seinem Gefallen zurechtrücken werde.
Der Pastor Buschmann hatte sich den Meister Dietrich Häußler ganz anders vorgestellt, und selbst die Frau Pastorin fühlte zum erstenmal in ihrem Leben sich einer Macht gegenüber, die über ihre Krodebecker Erfahrungen weit herausging und gegen die sie keine Waffe besaß. Der behagliche Fremdling in dem eleganten grauen Herbstkostüm, welches aussah, als ob jedermann es tragen und wie ein Gentleman drin aussehen könne, lächelte sie aus allen ihren Verschanzungen. Es war rein unmöglich, mit diesem Mann von Dingen zu reden, welche er nicht hören wollte. Eine leichte Handbewegung genügte, um ganze Jahresreihen voll der interessantesten Data und Fakta abzutun und sie für immer aus dem Gespräch zu verbannen. Das war ein Mann, der jede Krodebecker Weltanschauung wie von einem hohen Berge übersah und der den Vorhang seiner Welt, der Welt, aus welcher er jetzt zum Besuch erschien, nur mit größtmöglichster Vorsicht lüften durfte, wenn das dreimal glühende Licht nicht seine volle blendende Wirkung auf diese einfachen Bewohner des nördlichen Abhanges des Harzgebirges ausüben sollte.
Nach eingenommener Erfrischung bat der große Zauberer den verschüchterten, schwindelnden Pfarrer um eine vertraulichere Unterhaltung und – führte ihn gemütlich die Treppe hinauf in das Studierstübchen desselben. Er führte den Pastor in das Studierstübchen und litt es als feiner Kavalier durchaus nicht, daß die Dame des Hauses sich jetzt noch länger durch ihn in ihren Haushaltsgeschäften stören ließ. Als nach einer halben Stunde peinlich prickelnder Aufregung die geistliche Hirtin es nicht länger aushielt und leise ebenfalls die Treppe hinaufging und die Hand auf den Türgriff legte, fand es sich, daß der Edle die Delikatesse fast etwas zu weit getrieben hatte: er hatte den Riegel vorgeschoben!
„Wir kommen sogleich, meine Liebe!“ klang von drinnen die Stimme des Gatten, eigentümlich gehalten und gedrückt. Kopfschüttelnd stieg die geärgerte Frau wieder hinab und fand sich – dem überwältigenden Wiener Lakaien gegenüber, welcher eben das Gepäck vom Dorfkrug hatte herbeischaffen lassen und dessen großartiger Unterwürfigkeit gegenüber sie fast in Schwachheit, Angst und Ratlosigkeit verging.
Und die beiden Herren kamen noch lange nicht, und als sie endlich kamen, lächelte der Herr von Haußenbleib mehr denn je, und der Pfarrer sah sehr erschöpft aus, trocknete sich die Stirn mit dem Sacktuch und flüsterte, als er die Gelegenheit fand, einen kurzen Augenblick die Gattin allein beiseite zu nehmen:
„Er weiß nun alles, und ich weiß nichts, als daß er nicht seinen Aufenthalt in Krodebeck nehmen und nicht friedlich fürderhin unter uns wohnen wird; o mein Gott! O meine Gute, meine Beste!“
„Wer hat dir geraten, daß du dich in nichts mengen und mischen solltest?“ fragte die Beste scharf, schneidend und kurz und hätte noch mehr gesagt, wenn der Gast nicht in diesem Augenblick wieder eingetreten wäre. Der Ritter von Haußenbleib hatte den imposanten Bedienten mit einer Karte nach dem Lauenhof geschickt und ließ anfragen, wann es den gnädigen Herrschaften gefällig und angenehm sein werde, den gnädigen Herrn zu empfangen. Der gute Franz hatte dem Menschen den Weg zu zeigen und tat’s mit einem schrillen Gefühl des Unbehagens.
Es war jetzt gegen vier Uhr am Nachmittag. Der Pastorenfranz hatte dem Diener das Tor des Lauenhofes von ferne gezeigt und war wieder zurückgekehrt; der Diener trat ein in das Tor und traf zuerst auf die Frau Jane Warwolf, die nach ihrer Gewohnheit auf dem Prellsteine saß und jetzt aufsah und seufzte:
„Da ist der erste von der Bande! Glück auf, jetzt bricht das Unglück herein!“
Der Fremde, welcher natürlich die Meinung der Alten nicht verstand, grüßte höflich, schritt weiter dem alten Herrenhause zu und wurde mit seiner Botschaft von Hennig in Empfang genommen und zur Mutter weiterbefördert. Die Frau Adelheid nahm die Karte und die Bestellung hin, betrachtete den Boten aus einer besseren Welt geraume Zeit mit großer Aufmerksamkeit und ließ zurücksagen:
„Der Herr – Edle – von Haußenbleib – mag kommen, wann er will. Sagen Sie ihm das, mein lieber Mann, und sagen Sie ihm zugleich, es habe der Umstände gar nicht bedurft, denn der Herr Häußler werde sich noch erinnern, daß er ein ganz guter alter Bekannter von mir sei und daß ich mich weder vor ihm noch sonst jemand in meinem Leben im geringsten geniert habe.“
Auch diese Rede verstand der Bote nur zur Hälfte, aber er verstand doch genug davon, um mit einer tiefen Verbeugung seinen Rücktritt nehmen zu können. Er schritt wieder fort, wie es schien gar nicht erbaut von dem Ton, welcher auf diesem nordischen Bauernhofe herrschte, und gegen fünf Uhr kam an seiner Stelle der Edle Häußler von Haußenbleib in Begleitung, wenn auch nicht des Genius loci, so doch des Pastor loci. Und wenn die Frau Adelheid von Lauen sich, ihrem Wort zufolge, vor keinem Menschen in der Welt genierte, so hatte sie sich doch auf den Besuch keines Menschen innerlich und äußerlich so sehr vorbereitet wie auf den dieses Mannes.
Den anderen schwamm, sang und klang es vor Auge und Ohr in einer Weise, die sie fürs erste vollständig unfähig machte, die nötige Klarheit der bedenklichen Stunde gegenüber festzuhalten.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Schuedderump