Abschnitt. 1

Auf den Höhenrauch fiel sogleich eine sehr nasse Witterung ein. Man hatte eine alte Bauernregel in dieser Beziehung, und unter andern Umständen würde der Ritter von Glaubigern jedenfalls seinen Theorien über den ungemütlichen Dampf mancherlei Zweckdienliches angefügt haben; allein weder er noch das Dorf Krodebeck hatten jetzt Zeit und Stimmung, sich um das Wetter zu kümmern. Mit Blitzesschnelle hatte sich natürlich das Gerücht von dem glorreichen Nahen des einst so verachteten Meister Dietrich verbreitet, und war die Verwirrung darob groß auf dem Lauenhofe, so war sie fast nicht geringer im Dorf. Die älteren Generationen, welche den Mann noch persönlich kannten, schüttelten die harten Köpfe, kraueten sich in den cheruskischen Haarwülsten, schnarrten, brummten, knurrten und meinten, das gehe freilich weit über alles hinaus, was der Mensch sonst wohl auf Erden erleben möge. Die jüngeren Geschlechter, welche den Meister nicht mehr von Person kannten, sperrten die Mäuler auf, vernahmen mit Staunen und Verwunderung die Erzählungen der weisen Alten, und da sie sich kaum einen klaren Begriff von „dem Österreich“, aus welchem der einstige Dorfgenosse vierspännig anfuhr, machen konnten, so hielten sich ihre Phantasien ganz naturgemäß mehr westwärts auf der bekanntern germanischen Flugbahn, und verschiedene dumpfe, undeutliche Auswanderungspläne nahmen rasch eine bestimmte klare Form an. Schon im nächsten Frühjahr verdankten die Vereinigten Staaten von Amerika dem „unverschämten und nichtswürdigen Glück“ des klugen Meister Dietrich Häußler die Landung einiger gar nicht unbrauchbaren neuen Bürger, teilweise mit Familie.
Gleich einem Smyrnafahrer, auf welchem nicht ein Fläschchen, sondern ein ganzes Faß voll Rosenöl platzte, verbreitete der Meister Dietrich weither einen sehr süßen Wohlgeruch, wie auch sonst das Piratengesindel, welches das Fahrzeug bemannen mochte, beschaffen war. Und das Pastorenhaus roch die Süßigkeit von ferne wie das übrige Dorf, nur vielleicht mit noch feinerer Nase und richtigerem Verständnis, und es hatte sie, wie sich zeigen wird, weit früher als sonst jemand im Dorfe und auf dem Hofe gerochen. Die Kunde, wie sie von der Frau Jane Warwolf gebracht wurde, gelangte freilich am ersten Abend leider zu spät zu dem geistlichen Herd, als daß der Herr Pastor noch in derselben Nacht den pflichtmäßigen Besuch auf dem Lauenhofe hätte abstatten können; allein am folgenden Morgen, und zwar so früh als möglich, erschien und vernahm er mit großem Interesse alle näheren Umstände genauer. Nachdem er sehr höflich und zärtlich gegen Fräulein Antonie Häußler gewesen war, empfahl er sich würdig nachdenklich, das heißt, er wurde von seiner Gattin abgelöst und zu seinen sonstigen Pflichten heimgeschickt, während die ehrwürdige Frau nunmehr selber recht fest Posto faßte und allmählich allen melancholischen Bewohnern des Hofes den Wunsch nach einem Kaminbrande im Pfarrhaus innig ans Herz legte.
„Wir haben zuerst unsern Ohren nicht getraut und darauf jedenfalls eine ungemein unruhige Nacht gehabt, Fräulein Antonie“, sprach die Gute. „Ja, Fräulein Antonie, liebes Fräulein, der liebe Gott weiß die Seinen wohl zu finden und ihnen das Ihrige zur rechten Zeit zu geben. Wir haben uns herzlich über das große Glück, welches Ihnen zuteil werden soll, liebes Fräulein, gefreut. Bis zum grauen Morgen hat uns die Unruhe umhergetrieben, und mein Mann wachte mit einem recht argen Kopfweh auf, aber im Hause litt es ihn doch nicht; er mußte und mußte nach dem Lauenhof, um zu erfahren, ob das Ganze nicht auch auf einer Täuschung beruhe, und als er viel länger ausblieb, als er sollte, da litt es auch mich nicht länger daheim, und da bin ich nun, und da sitze ich nun und kann nur immer von neuem Glück wünschen, mein liebes, liebes Fräulein.“
„Aber sehen Sie sich doch nur um, meine verehrte Frau Pastorin: wir sind gar nicht so sehr glücklich!... durchaus nicht!“ rief die Gnädige mit ziemlich saurem Gesicht.
„Und darauf wollte ich eben kommen, meine Liebe“, erwiderte die geistliche Dame. „Es freut mich, daß Sie selbst davon anfangen, Beste. Ach, Fräulein Tonie, Sie sind noch so jung und sollen erst nach und nach erfahren, was das Leben ist. Nicht wahr, Herr von Glaubigern und gnädiges Fräulein, wir Alten wissen und haben längst erfahren, wie es sich damit verhält und daß der Tropfen Wermut in jeden Freudenbecher fällt, wie mein Mann sagt. Wir haben auch in diesem besonderen Falle lange genug in Krodebeck gelebt, meine Besten, um zu wissen, woher hier der sehr, wirklich sehr bittere Tropfen –“
„Frau Pastorin, ich halte es für angemessener, wenn wir augenblicklich“ – – hierüber schweigen! wollte der Chevalier sagen.
„Hierüber schweigen“, sagte die Frau Pastorin Buschmann, und der Herr Ritter gab mit einem tiefen Seufzer seinen Kampf auf.
„Jawohl, hierüber schweigen!“ wiederholte die Seelenhirtin. „Ganz dasselbe sagte ich auch zu meinem Mann, und er gab mir vollständig recht. Er muß mir, beiläufig gesagt, sehr häufig recht geben. Freilich, liebe Tonie, wir haben recht viel in der vergangenen Nacht von dem Herrn Großvater gesprochen. Wir mußten es, Fräulein von Saint-Trouin! Es war unsere Pflicht, Frau von Lauen! Leider war es unsere Schuldigkeit, Herr von Glaubigern, denn wir sind zu alt in Krodebeck geworden. Der Herr Großvater gehört zu unseren Jugenderinnerungen, Tonie.“
„Man muß mit seinen Jugenderinnerungen abschließen können, meine Gute“, meinte Adelaide Klotilde Paula von Byzanz mit einem Gesicht, welches jeglichen byzantinischen Heiligenmaler in Verzückungen hingerafft haben würde.
„Und das haben wir unter Gebet und Tränen getan!“ rief die Frau Pastorin Buschmann, welche unter dieser Erinnerung fast von neuem in Tränen und allgemeiner und ganz spezieller Menschenliebe unterging. „Wir haben vollkommen, vollständig und ganz und gar abgeschlossen – der Herr ist unser Zeuge! O ja, mein liebes Fräulein Häußler, wenn sich alles wirklich und wahrhaftig so verhält, wie Jane Warwolf behauptet, so soll es dem Herrn Großvater an einem offenen, freudigen, herzlichen Willkommen in Krodebeck und im Krodebecker Pfarrhause nicht mangeln. Sie sollten meinen Mann in dieser Hinsicht gehört haben, das Herz würde Ihnen aufgegangen sein; und wie mein Mann, so hat sich auch mein Sohn geäußert: wir werden es sämtlich für eine große Ehre ansehen, alte wohlmeinende, freundschaftliche Beziehungen in einfacher ländlicher Befangenheit erneuern zu dürfen, mein armes, sü–ßes Kind. Nicht wahr, ich darf hoffen, daß wir hierin alle einer Meinung sind?“
Mit glänzenden Augen blickte die Rednerin im Kreise umher, ohne innezuwerden, daß auch sie in einer Wüste predige. So trug sie denn ihr Jauchzen über den heimkehrenden Sünder zur großen Erleichterung des Lauenhofes wieder nach Haus, und die gnädige Frau sprach mit einem tiefen Atemzug:
„Gottlob, daß sie fort ist! Beinahe wäre ich ausfallend geworden.“
Fräulein Adelaide von Saint-Trouin aber meinte sehr fein:
„Meine Teure, gegen ein so gutes Gewissen richtet man kaum durch Impertinenz irgend etwas aus.“
Auf dem Wege nach Haus nahm die geistliche Hirtin noch einen anderen Korb mit. Sie lud die alte Jane Warwolf, die sonst durchaus nicht in der Gunst des Pfarrhauses stand, mit dringender Freundlichkeit ein, am Nachmittag eine Tasse Kaffee bei ihr zu trinken, und Jane lehnte die Einladung schnöde ab.
Das war ein trostloser Tag! Die Witterung wurde immer feuchter, die Wolken zogen immer niedriger und wurden immer grauer. Niemand fand irgendwo Ruhe, und selbst die Frau Adelheid wurde der Vorstellung, daß der letzte Erntewagen so glücklich noch ins trockene gebracht worden war, kaum froh. Der Chevalier wanderte ununterbrochen im Hause umher, er stieg die Treppen hinauf und kam im nächsten Augenblick wieder herunter; er sah aus allen Fenstern, öffnete alle Türen und blickte in Schränke und Schubladen, in welchen er nicht das mindeste zu suchen hatte und zu finden hoffen konnte. Er verbrauchte sehr viel Schnupftabak, und die Haute-Justicière folgte in allem seinem Exempel; wahrhaft ahnfrauenhaft, stumm und Arme und Busen voll eiserner Messer, stieg sie jedesmal, wenn er die Treppe hinaufstieg, eben dieselbe hinab und umgekehrt. Hennig vermied das Haus und die Gemeinschaft der Leute drin nach Tunlichkeit. Er trieb sich in den Ställen, Scheunen und auf dem Hofe umher, und die Leute draußen hatten alle Gründe, sich über seine üble Laune zu beklagen. Die gnädige Frau fand ihren besten Trost an ihrer Mamsell Molkemeyer, und Tonie – Fräulein Antonie Häußler hatte ihr Spinnrädchen hervorgeholt, saß in einem Winkel dahinter, bleich, müde, mit zuckenden Lippen, und der Faden brach ihr recht oft, und das surrende Rad brachte den Tumult in ihrer Seele nicht zur Ruhe. Wahrhaft lächerlich in ihrer Unruhe erschien aber unsere wackere Freundin Jane Warwolf. Sie, die überhaupt so selten an irgendeinem Orte Ruhe fand, wußte unter den bewandten Umständen gar nichts mit sich anzufangen und trieb sich umher wie ein herrenloser Hund – wir wissen leider keinen anständigern Vergleich. Daß sie mit den andern die Ankunft des Meister Dietrich in Krodebeck zu erwarten hatte, verstand sich von selber, „aber“, sagte sie später, „der Mensch kann mancherlei erleben, was er nicht zum zweiten Male erleben möchte, und sollte ich die Tage noch einmal durchmachen müssen, so könnte es der liebe Gott selbst einer Kreatur wie mir nicht verübeln, wenn sie mit einem Strick in den Wald ginge und nicht eher wieder zum Vorschein käme, als bis man sie gefunden hätte – brrr!“
So lief sie im Dorfe hin und wider, wurde hier angerufen und dort angerufen, saß auf der Bank und auf jener, lief ein Stück Weges auf jeder Landstraße und auf allen Feldwegen hinaus und kehrte grimmig um und kam regennaß zurück und betrug sich sehr unfreundlich in der Gesindestube des Lauenhofes – „und das war kein Wunder“, sprach sie ebenfalls später, „denn so viel Gift, als andere Leute in sich lassen können, ohne die Miene zu verziehen, kann ich auch in mir lassen, doch nicht mehr. Und ich sage Ihnen, Herr von Glaubigern, kein Engel im Himmel hat jemals mehr stille Wut in sich hineingeschluckt, als ich in den Tagen, und was herausmuß, das muß heraus, sonsten gäbe es gar keine Engel – Sie immer, mit Erlaubnis zu sagen, ausgenommen, Herr von Glaubigern.“
Es war ein trostloser Tag, und die Tage, welche ihm folgten, waren noch schlimmer; denn wenn es schon arg ist, auf etwas Gutes, Angenehmes und Erfreuliches warten zu müssen, so ist eine Geduldsprobe, wie sie jetzt die Bewohner des Lauenhofes zu bestehen hatten, kaum zu ertragen. Der einzige lichte Schein ging am zweiten Tage nach der Ankunft Janes auf dem Hofe von dem Pastorenfranz aus, der gleichfalls dort einen Besuch abstattete und sein möglichstes tat, die düstere Gesellschaft durch sonderbar unbefangene Liebenswürdigkeit zu erheitern. Er zeigte sich ungemein höflich gegen Tonie Häußler, und als sie unglücklicherweise ihr Taschentuch fallen ließ, sprang er mit einer Gelenkigkeit zu, welche selbst den Herren von Bock und von Kalb auf der Jagd nach dem klassischen Strumpfband der Prinzeß Amalie hätte beneidenswert erscheinen müssen. Er hätte etwas anderes verdient als die bloße Verwunderung der Anwesenden, und es war ihm unter solchen Umständen nicht zu verdenken, daß er die Gesellschaft wenigstens in noch größere Verwunderung versetzte, indem er zu ihrer Kenntnis brachte, er werde morgen eine kleine Vergnügungsreise in die Berge unternehmen.
Sie sahen ihn alle an, und mürrisch fragte Hennig:
„Bei diesem Wetter?“
„Ja, mein Junge! Das Wetter ist freilich nicht verlockend, allein vielleicht habe ich die letzte Zeit hindurch zu still über den törichten Büchern gesessen. Leider ist meine Körper- und Seelenstimmung noch schlechter als das Wetter, und meine Mutter hat sich schon längst über meine Nerven beklagt. Ich fühle es, die Berge werden mir guttun, und es wäre eine große Freundlichkeit, wenn du mich auf der Fahrt begleiten wolltest, Hennig.“
Der Ritter von Glaubigern räusperte sich sehr ausdrucksvoll, die übrigen schwiegen bis auf die Frau Adelheid, welche der Meinung sämtlicher Anwesenden in den einfachen Worten Ausdruck gab:
„Machen Sie sich nicht lächerlich, Franz.“
Daß der hoffnungsvolle Kandidat der Gottesgelehrtheit hierdurch ein wenig aus dem Konzept gebracht wurde, kann nicht geleugnet werden; aber er faßte sich schnell, redete noch einiges über das Wetter und seine Gesundheit und nahm sodann Abschied mit der Versicherung, daß ihn sein Reiseglück noch nie verlassen habe und daß auch diesmal die Sonne auf seinen Pfad herablächeln werde, sobald er Krodebeck im Rücken habe.
„Man schickt ihn dem – Mann entgegen!“ flüsterte Adelaide dem Chevalier ins Ohr, als sich die Tür hinter dem jungen Leidenden geschlossen hatte. Der Chevalier sah auf die gnädige Frau, diese zuckte die Achseln und warf einen Seitenblick auf ihren Sohn, und dieser trommelte verdrossen an der Fensterscheibe und sprach:
„Da geht er hin mit seinem Regenschirm und Gummigaloschen! Weiß denn niemand, was der Bursche bei solchem Wetter im Harz zu suchen hat?“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Schuedderump