Abschnitt. 2

Heute – jetzt klopfte der Chevalier an, aber er winkte zugleich warnend und abwehrend nach rückwärts, und seine Begleiter blieben gern auf dem Gange zurück, mischten sich nicht in die Kapitulationsverhandlungen zwischen den beiden vortrefflichen Herrschaften und beneideten den Ritter gar nicht um den nun endlich erlangten Eintritt in das jungfräuliche Refugium.
Der Ritter trat ein, die Tür schloß sich hinter ihm; Jane Warwolf setzte sich matt auf eine Bank, die in der Fensternische der Tür des Fräuleins gegenüber stand; Hennig aber legte das Ohr an die Tür und horchte: auch er winkte dabei warnend und abwehrend rückwärts.
Sie lauschten beide, und beide sehr beklommen.
Die Türen auf dem Lauenhofe waren noch aus gutem, altem, schwerem Eichenholz gezimmert und taten ihre Pflicht, wie moderne Türen sie nicht mehr tun, aber dessenungeachtet vermochten sowohl der Junker wie auch die Frau Jane den Gang der Handlung drinnen ziemlich genau zu verfolgen.
Zuerst hörten sie natürlich die ziemlich klägliche und scharfe Stimme, die Familienstimme Jehans von Brienne, die vor so vielen Jahrhunderten schon die Einwohner von Konstantinopel mit Vergnügen vernahmen. Das gnädige Fräulein beklagte sich mit bitterer Höflichkeit über die Störung in so später und ungewöhnlicher Stunde. Doch ein dumpfes Gesumm gleich dem Getön einer an einer Fensterscheibe auf und ab summenden Brummfliege ließ sich vernehmen; der Chevalier von Glaubigern bat jedenfalls um Entschuldigung und versicherte, daß nur die dringende Not ihn zu solcher Ausschreitung, zu solcher Überschreitung der Grenzen der Sitte und Höflichkeit getrieben habe.
Wieder vernahm man des Fräuleins Organ. Adelaide nahm die Entschuldigungen des Ritters an, bat jedoch unbedingt um eine nähere Erklärung; – es wurde still hinter der Eichentür, das heißt, die Horcher draußen vernahmen nicht den atemlosen Bericht des Herrn von Glaubigern. Es blieb aber nicht still, und jetzt war nur eines schade, nämlich daß der Meister Dietrich Häußler nicht ebenfalls an der Tür des Fräuleins von Saint-Trouin horchte: jetzt hätte sich die Tugend an ihm gerächt, jetzt hätte er den Lohn für alle seine Sünden, Bosheiten und Lasterhaftigkeiten in Empfang nehmen können! Heller denn je klang die Stimme Adelaides auf, und Jane Warwolf legte sich auf ihrem Sitze zurück und seufzte mit einer gewissen Befriedigung:
„Na gottlob, jetzt ist die Katze auch da aus dem Sacke! Herr von Lauen, anjetzo haben wir wenigstens nicht mehr zu befürchten –“
Sie konnte ihren Satz nicht vollenden. Die Tür wurde aufgerissen, und das Frölen, échevelée, jede Rücksicht auf das, was es seiner Stellung schuldig war, beiseite lassend, erschien – stürzte hervor – stürzte sich (o wie schade, daß es sich nicht auf den Meister Dietrich stürzen konnte!), stürzte sich im flatternden feuergelben Nachtgewand auf die in ihrer Mattigkeit scheu sich duckende Jane, packte sie an beiden Schultern, zog sie in die Höhe, zog sie gegen die Zimmertür, zog sie in das Zimmer und schlug dem Junker Hennig von Lauen die Tür vor der Nase zu – „als ob man nicht das mindeste Interesse an der Sache gehabt hätte!“, wie sich der Junker später ausdrückte.
Einige Zeit wartete Hennig noch, ob man nicht auch ihn zur Beratung hereinrufen und -holen werde, allein man schien ihn drinnen durchaus nicht mehr nötig zu haben. Es blieb ihm nichts übrig, als zu seiner Mutter zu gehen, um bei dieser das zu suchen, was die andern nicht mehr von ihm zu wollen schienen, nämlich Hülfe und Trost. Noch warf er einen Blick durch das eben erwähnte Fenster des Korridors in den dunkeln, nebeligen Hof, wo es jetzt allgemach ruhiger geworden war, hinunter, und in demselben Augenblick schlüpfte Antonie Häußler drunten, ein Laternchen tragend, vorüber. Sie ging, mit einer weißen Schürze angetan, nach einem der Nebenwirtschaftsgebäude, lächelnd, schlank und leichtfüßig – allein licht und freundlich in dem schweren schwarzgrauen Dunst und der Nacht. Sie schien ihre Freude an den phantastischen Schatten, welche sie umgaben, zu haben; denn sie hielt ihre kleine Laterne hoch und blieb stehen und drehte sich und sah über die Schulter, wie ein Kind, das sich von einem Spielkameraden nicht fangen lassen will. Zierlich nahm sie einen Zipfel ihrer Schürze auf und verschwand um die Ecke eines Gebäudes; da mußte jemand sie anhalten und mit ihr reden, denn der rote Schein der Laterne zitterte noch eine Weile in dem Nebel, bis er endlich verschwand und Hennig von Lauen – seinen Mund schloß.
Er, der Junker, tat einen Sprung und einen Faustschlag in die Luft und rannte treppab, stolpernd und polternd, zu seiner Mutter, fiel ihr, wie sie behauptete, gleich einem Klotz auf den Leib und gebärdete sich nun mit einem Male schlimmer als irgendein anderer auf dem Lauenhofe um das, was die Rückkehr des Herrn Dietrich Häußler dem Hofe androhte und möglicherweise wirklich antun konnte.
Es war unmöglich, der Lauenhof konnte nicht von der Tonie lassen!
„Und das muß einem auch jetzt, wo man schon alle Hände voll zu tun hat, über den Hals kommen!“ war das erste, was die gnädige Frau sagte; aber trotz aller gegenwärtigen und aller in Aussicht stehenden Unruhe und Aufregung (der Erntetanz mußte unbedingt in den allernächsten Tagen gefeiert werden!) sagte sie doch noch mehr und schüttelte sich mit der gewohnten Energie in ihren Röcken.
„Das ist Schwindel, und wir lassen uns nicht darauf ein!“
„Was sollen wir aber anfangen, wenn sich alles wirklich so verhält, wie Jane Warwolf erzählt?“
„Zuerst glaube ich noch nicht daran. Seit die Alte vor die verschlossene Tür des Siechenhauses gekommen ist, sieht sie Funken, Flammen und Gespenster auf allen Wegen. Bah, wen mag sie in Alexisbad gesehen haben? Und dann, wenn wirklich ein Fetzen Wahrheit der Vogelscheuche aufgehängt sein sollte, so (und hier richtete sich die Gnädige zu ihrer ganzen Höhe auf) – so soll er mir nur kommen, der Hauptlump, der Jammerkerl! Er soll’s nur wagen, mir vor die Augen zu treten; er hat bereits früher das Pläsier gehabt, die Frau von Lauen kennenzulernen, und mit Vergnügen werde ich ihm die guten alten Zeiten ins Gedächtnis zurückrufen.“
„Das wird viel helfen!“ meinte Hennig kläglich.
„Halt den Mund, Junge. Herrgott, diese alten Zeiten! Man darf nichts anrühren, ohne daß es irgendwo klingt und klirrt und rauscht, daß einem die Tränen vor Rührung in die Augen kommen. Das ist wie eine Rumpelkammer oder wie ein alter dunkler, vergessener Kleiderschrank von der Großmutter her. Wie lang ist’s eigentlich her, daß ihn, ich meine den Häußler, mein Seliger zum erstenmal aus dem Hause warf? Da, halt mir einmal das Licht, Junge, das ist eine solche Ewigkeit, daß ich alle Finger gebrauche, um es herauszurechnen. Und wie alt war die schöne Marie, als sie uns zum Sterben hierher nach Krodebeck zurückgebracht wurde? Halt das Licht gerade, Junge; – sechzig Jahre ist heut der Bursch sicher alt; auch zwei oder drei Jahre drüber, darauf soll’s mir bei solch einem nichtsnutzigen Exempel und Exemplar nicht ankommen. Munter, jetzt hab ich’s, seit Anno 1838 haben wir nicht die Ehre gehabt, ihn bei uns zu sehen; ja, da kann er es freilich in der Zeit zu etwas Ordentlichem gebracht haben! Sie sagten immer, er sei ein Genie, und der eine sagte: ein verrücktes, und der andere sagte: ein heilloses; aber die meisten meinten kurzweg, er sei ein Halunk, und das war auch meine Meinung, und er natürlich hat behauptet, das sei eine alte biblische Geschichte, daß der Prophet in seinem Vaterland nichts gelte. Sieh, sieh, und nun kommt der wieder und ist ein großer Mensch, ein großer Herr geworden! Wir waren damals so froh, als wir ihn los waren. Herrje, erleben möcht ich wohl, daß die Jane richtig gesehen hätte! Da muß man die Menschen kennen! Das würde ein schönes Leben in Krodebeck abgeben.“
„Und Antonie wird er uns nehmen und wird sie ruinieren, wie er seine Tochter zugrunde gerichtet hat!“ rief Hennig. „Es wird mir immer klarer, was uns geschehen soll, und immer erbärmlicher wird mir auch. Ich gebe die Tonie nicht her! Ich tu’s nicht. Ich schieße ihn nieder wie einen Hund. Eben ging sie über den Hof. Vor einer Viertelstunde wußte ich noch nicht, was wir an der Tonie verlieren; aber jetzt weiß ich’s. Ich gebe sie nicht her; ich schieße jeden, der Hand an sie legt, nieder wie einen tollen Hund.“
Die Mutter nahm das Licht, welches der Sohn immer noch hielt, ihm aus den Händen und leuchtete ihm ins Gesicht. Mit einemmal war sie ganz kühl und ruhig geworden, und nach einer ziemlichen Pause sagte sie: „Junge, was fällt dir eigentlich ein? Und – wie ist mir denn? Jawohl, ja freilich, er könnte wohl ein Recht haben, seine Enkelin von uns zu fordern. Das ist doch eine Sache, über welche man ernstlich nachdenken muß, Hennig. Wenn er wohlhabend und irgendwie ein anständiger Mensch geworden ist, so sehe ich nicht ein, welch ein Recht wir aufzuweisen hätten, dem Kinde an seinem Glück hinderlich zu sein. Nur keine Sentimentalitäten! Herrje, da traue ich selbst dem Herrn von Glaubigern nicht. Wo ist die Jane? Ich muß sie auf der Stelle sprechen, jetzt muß ich mit eigenen Ohren hören, was sie von dem Herrn Häußler gesehen und über ihn gehört hat. Und wo ist die Tonie? Weiß sie es schon, was ihr bevorsteht?“
Hennig schüttelte den Kopf:
„Noch weiß sie es nicht. Sie ging soeben mit der Laterne über den Hof zur Mamsell Molkemeyer. Jane Warwolf ist mit dem Ritter in der Stube des Frölens; – sie haben mir die Tür vor der Nase zugeschlagen, als ob mich die ganze Geschichte nicht im geringsten zu kümmern brauche, und da hab ich das Kind mit der Laterne über den Hof gehen sehen; da ist mir klar geworden, wie sehr mich die Geschichte kümmert, und hier bin ich, Mutter, und du wirst uns helfen, daß wir die Tonie nicht verlieren und sie gar noch an einen solchen Schuft verlieren.“
„Ich werde jedenfalls meine fünf gesunden Sinne beieinanderbehalten, und das übrige wird sich finden“, sprach die Frau Adelheid von Lauen. „Auf Phantastereien laß ich mich nicht ein; – o Gott, da kann ich selbst den Herrn von Glaubigern nicht zu Rat und Trost gebrauchen; das seh ich schon, jetzt werde ich fürs erste die einzige verständige Seele auf dem Lauenhofe sein, und gerade jetzt in all dem Wirrwarr und Erntearbeiten! Das hat mir gerade noch gefehlt; und so ist es mir mein ganzes Leben durch gegangen! Aber das sage ich euch allen: hier behalte ich die Zügel in der Hand, und jetzt werde ich mit der Jane reden, an das Frölen und den Ritter mag ich gar nicht denken. O Himmel, da möcht ich lieber doch zum Pastor Buschmann um Hülfe und Beirat schicken!“ –
Hätte Herr Dietrich Häußler Edler von Haußenbleib geahnt, in welche Verwirrung er das Haus derer von Lauen durch sein Erscheinen nördlich am Harz stürze, so würde er sich in seinem schlechten Gemüte sicher trefflich darüber ergötzt haben. Wer sagt uns aber, daß er es nicht wußte?
Es entstand in dem obern Stockwerk des alten Rittersitzes eine große Bewegung. Unten im Hause vernahm man den Chevalier, das Fräulein von Saint-Trouin und Jane Warwolf auf der Treppe. Sie stiegen in aller Hast hinunter und redeten wirr durcheinander.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Schuedderump