Abschnitt. 1

War dieses noch der stille, unschuldige Erdenwinkel, der von der Welt nichts wußte und sich nicht um sie kümmerte? Die wackeren alten Berge, die auf ihn herabsahen wie Schutzgeister, gute Ammen und brave Gevattern auf eine grünverhangene Wiege, bedeckte die Nacht, und immer betäubender legte sich der Dunst des Höhenrauchs auf Krodebeck. Kein Stern erschien in der Finsternis; das Tal war schutzlos gegen jeglichen bösen Willen, der in sein bis dahin so sicheres, abgeschlossenes Dasein hineingreifen wollte. Ein tiefer, unendlicher Schmerz erfaßte den Junker Hennig von Lauen, ein Schmerz, wie er ihn noch nie in seinem jungen Leben erduldet hatte. Und mit dem unendlichen und tiefen Schmerz kam die volle Erkenntnis dessen, was Antonie Häußler für den Lauenhof bedeutete, und was sie ihm, d. h. dem Junker selber, geworden war im Laufe der Jahre, ohne daß er es gemerkt hatte. Er, d. h. der Junker Hennig von Lauen, weinte blutige Tränen nach innen und rang im stummen, fiebernden Jammer die Hände.
So oder ungefähr so hätten wir berichten – schreiben müssen, wenn uns im geringsten daran gelegen wäre, den Beifall und die Teilnahme unserer Leser in der gewöhnlichen Weise zu fesseln und nach altem und durch die Gewohnheit fast geheiligtem Brauche das Wahre dem Erhebenden mit wahrhaft rührender Naivität nachzusetzen.

Wer gut sein Schifflein zu steuern weiß,
Den soll man höchlichst preisen;
Doch vitam impendere vero ist
Das Wort der Helden und Weisen;


und obgleich wir weder zu den Helden noch den Weisen zu rechnen sind, werden wir in diesem Fall doch bei der Wahrheit bleiben. Der Junker von Lauen weinte keine blutigen Tränen, er rang nicht die Hände und hatte durchaus nicht die Absicht, seine Vasallen aufzurufen und mit Schild und Schwert den süßen Schatz des Lauenhofes gegen den nichtsnutzigen Feind zu decken. Er war ärgerlich, wütend, ein wenig ängstlich betrübt und vor allem in großer Verlegenheit. Das war aber auch alles, was wir in diesem Momente über seine Stimmung mitteilen können.
„Und ich habe nicht einmal den Mut, dem alten Herrn die Sache vorzutragen, Jane!“ sagte er. „Wenn einer außer sich geraten wird, so ist’s der Ritter; denn er vor allen hat sein ganzes Herz an das arme Kind gehängt. Ich glaube, er würde es nicht überleben, wenn er sich von ihr trennen müßte.“
Jane Warwolf antwortete auf diese Lamentationen nichts mehr; sie trat nur fester auf und schritt schnell vorwärts, und so kamen sie beide zurück auf den Lauenhof.
Hier herrschte noch immer große Unruhe. Das Getümmel war fast so arg wie an jenem Abend, an welchem Hennig triefend aus dem Kuckelrucksholze von Jane Warwolf zurückgeführt wurde, nachdem er in der Wildnis die Bekanntschaft Tonie Häußlers gemacht hatte. Da war wieder viel Geschrei und Hinundherrennen von Menschen und Tieren, aber heute standen der Chevalier und das Fräulein von Saint-Trouin nicht angstvoll in banger Erwartung unter dem Vordach der Treppe. Sie hatten sich längst als ruheliebende und ruhegewohnte Leute aus dem fröhlichen Wirrwarr zurückgezogen und saßen ein jegliches friedlich in seinem Gemach, behaglich die Frau Adelheid dem ihr gemäßen Element überlassend.
Wir kennen bereits den Chevalier in seinem schneeweißen wollenen Schlafrock, seinem Jabot, seinen hellgrauen Pantoffeln und dem hellgrauen Hauskäppchen mit dem hellblauen Quast. Manches Jahr ist hingegangen, seit wir ihn zum erstenmal darin erblickten, und nichts hat sich an diesen Äußerlichkeiten verändert. Nur Mystax ist tot und nicht ersetzt worden, er liegt im Garten begraben, und der Herr Ritter kann das Frölen nicht begreifen, welches den Peccadillo von einem kunstreichen Harzförster ausstopfen ließ, ihn in einem Glaskasten aufbewahrt und immer noch viel Kampfer und Wehmut an ihn verwendet, trotzdem daß Tonie Häußler auf den Lauenhof gekommen ist. Wir kennen den Chevalier in seinem Lehnstuhl vor seinen Wappenbüchern und Sigillenkästen und brauchen also nicht zu schildern, wie ihn Jane und Hennig bei angezündeter Lampe und zugezogenen Vorhängen fanden, nachdem auch sie sich dem aufdringlichen Spektakel des Hofes entwunden hatten.
Sie hatten angeklopft, und der Ritter hatte sie aufgefordert einzutreten. Nun standen sie in dem stillen, warmen Raume vor dem alten Herrn, der verwundert bei ihrem Eintritt seinen Sessel zurückgeschoben hatte und, wie es schien, für heute trotz aller Herzensgüte genug der Aufregungen hatte. Ach, er wußte nicht, wie das Schicksal ihn jetzt zu überraschen gedachte und wie wenig bald die Behaglichkeit dieser Abendstunde für ihn in Betracht komme!
„Siehe da, meine Freundin Jane!“ sprach er. „Und auch du, Hennig? Nun, das war heut ein anstrengender Tag für die Bewohner des Lauenhofes, aber doch auch ein recht gesegneter. Ich habe deiner Frau Mutter bereits meinen Glückwunsch abgestattet; aber der Höhenrauch, Heerrauch, Haarrauch oder wie du sonst willst, hat mich wie gewöhnlich frappiert, indigniert und intrigiert. Du siehst mich beschäftigt, Hennig, einige ältere Autoren über seine Entstehung, Bedeutung und seinen sehr fraglichen Nutzen nachzuschlagen; ich finde jedoch auch hier leider nichts als Dunst, Nebel und einen höchst übeln Geruch. Also, Jane, ich freue mich stets, dich zu sehen; was bringst du mir noch in so später Stunde? Du weißt, es ist eine späte Stunde, um noch irgendein Geschäft abzumachen, wenn es nicht sehr dringlicher Art ist. Hat Eure Botschaft nicht Zeit bis morgen?“
„Nein, Herr von Glaubigern“, sagte Jane Warwolf leise und betrübt. „Wie gern, wie gern würde ich Ihnen das Herzeleid ganz ersparen, wenn es anginge. Aber es geht nicht an; denn es ist mir alle Augenblicke, als spüre ich eine haarige Kralle im Nacken, und ich muß mich umsehen, als ob mir der Teufel schon in die Kiepe gesprungen wäre und ich seinen heißen Hauch hinter den Ohren verspürte. Ich hab mit dem Herrn von Lauen allbereits von dem Elend gesprochen, weil ich mir gleich gedacht habe, der Fall gehöre – und noch dazu so spät am Abend – zuerst der Jugend zu; allein der Herr Hennig getraut sich nicht, ihn anzufassen, und, Herr Ritter, Herr Ritter, so hab ich mir wieder einmal in meiner Angst keinen andern Rat gewußt als bei dem Herrn Ritter, und jetzo sage ich’s gradheraus, ich brauche den Herrn Ritter als Kumpan bei der Mordtat; er mag es nehmen, wie er will; aber ich weiß, wie er es nehmen wird!“
„So kurz als möglich!“ murmelte der Chevalier, den der böse Rauch vor seinen Fenstern ungemein nervös machte.
„Das wäre mir auch das liebste“, sprach Jane, „aber ich kenne den Herrn Ritter ebensogut, als er sich selber kennt, und so meine ich, ein kleiner Umweg –“
„Ärgert mich nicht, Jane!“ rief der Chevalier. „Sperrt man ihn noch so sehr aus, im Notfall findet er seinen Weg durch den Schornstein, ich meine den Höhenrauch oder Heerrauch, und du, Hennig, sprich, was wollt ihr eigentlich? Was habt ihr mir noch mitzuteilen?“
Er war aufgestanden und stützte sich, vorgelehnt, den beiden Besuchern gegenüber mit beiden Händen auf den Tisch. Er schien die größte Lust zu haben, sowohl die Jane als den Junker wieder zur Tür hinauszuschieben; allein der letztere schob nun die alte Frau zur Seite, stützte gleichfalls beide Hände auf den Tisch und sprach mit der unheimlichen Lust, mit welcher auch der Gutmütigste seinem Nebenmenschen eine unangenehme Nachricht überliefert:
„Herr Leutnant, der Herr Dietrich Häußler ist auf dem Wege nach Krodebeck.“
Der Ritter sah ihn fragend an. Auch er hatte die Existenz des Meisters Dietrich ziemlich vergessen. Selbst der Name Häußler sagte ihm zuerst nichts, so sehr war Antonie Häußler allmählich zu einem von allen solchen äußerlichen Bezügen abgelösten Wesen auf dem Lauenhofe geworden. In dieser Hinsicht ging es ihm wie dem Junker, und erst nachdem ihm die Nachricht von Jane Warwolf mit mehr Nachdruck wiederholt worden war, begriff er sie in ihrer vollen Bedeutung. Da suchte er mit zitternden Händen zwischen seinen Papieren und Höhenrauch-Autoren nach seiner Tabaksdose, und als sie ihm zwischen die Finger geriet, schüttete er ihren Inhalt auf den Tisch und rettete nur eine Prise, auf welche er nieste, was eins der größten Wunder war, das ihm passieren konnte.
„Der Meister Dietrich – der Dietrich Häußler ist auf dem Wege nach Krodebeck?“ stammelte er.
„Ja – ja und dreimal ja!“ rief Jane Warwolf. „So ist es; in Alexisbad bin ich ihm begegnet.“
„Das Kind! das Kind! aber wir haben das Kind!“ schrie der Ritter. „Was will er hier? Will er uns das Kind nehmen? Das wird er nicht, das soll er nicht! Holla, mein Gott, das ist ja fürchterlich. Rufe deine Frau Mutter, Hennig; – ja, ruft auch das Fräulein – ruft sie alle zusammen, ruft das ganze Haus zusammen: ich gebe das Kind nicht her. Die ganze Welt hat es aufgegeben, und ich habe es mir erworben; mir gehört es, und niemand soll es mir nehmen. Aber er wird das auch nicht wollen, wir werden es ihm abkaufen, er war stets ein erbärmlicher Schuft; ich werde selber ihm entgegenfahren, er soll den Lauenhof gar nicht betreten.“
Jane schüttelte den Kopf:
„Der Junker wollte die Hunde auf ihn loslassen und ihn mit der Hetzpeitsche bewillkommnen. Das wäre freilich das richtigste, wenn es anginge; aber es geht nicht an. Und mit dem Loskaufen ist’s auch nichts, Herr von Glaubigern. Sie werden ihn nicht wiedererkennen, Herr. Er ist ein gar vornehmer Mensch geworden, wenn ich gleich nicht weiß, was er sonsten dabei geblieben ist. Er ist imstande und frägt bei der gnädigen Frau an, wieviel sie für den Lauenhof verlangt.“
„Das ist unmöglich!“ rief der Chevalier.
„Gerade darum!“ sprach die Frau Jane.
„Er wird uns das Kind nicht nehmen wollen!“ rief der Chevalier.
„Er hat ein Band im Knopfloch, einen dicken Bauch, weiße Haare wie ein Generalsuperintendent und zwei Bediente in langen gelben Röcken und mit blanken Knöpfen; was er tun wird, weiß ich nicht“, sprach die Frau Jane.
Der Ritter blickte verwirrt und hülflos von einem zum andern.
„Das Kind! das Kind! wem gehört das Kind? Jane, du mußt uns bezeugen, wie das Kind nach Krodebeck gekommen ist und wie wir es nachher an der Gartenmauer des Lauenhofes auf der Landstraße gefunden haben. Ihr habt es heut noch gesehen, wie es von eurem Erntewagen heruntersah und lachte. Wem gehört das Kind, wie es jetzt ist? Mir, mir und – dem Fräulein von Saint-Trouin. Jaja, das ist es, wenn ihr alle keinen Rat wißt – wenn alles so ist, wie ihr sagt – Hennig, so hilf mir in die Kleider, ich gehe zu dem gnädigen Fräulein. Jaja, die Komteß wird mir helfen. Sie ist klüger als wir alle; – o er soll nur kommen, der Landläufer, der Räuber, der Bösewicht; wir beide, das Fräulein und ich, werden für die Tonie einstehen. Meinen Hut! Meine Schuhe! Meinen Stock, ja meinen Stock, Hennig –“
„Ob ich mir den Jammer nicht so auf ein Haar hinaus vorgestellt habe, den ganzen Weg hierher!“ ächzte Jane Warwolf. „Es ist wahrhaftig zuletzt ein Mirakel und eine Lächerlichkeit, zu welchem kuriosen Elend man auf Erden jung werden muß.“
Ein Mirakel und ein Zeichen allergrößester Ratlosigkeit war es jedenfalls, daß der Ritter von Glaubigern bei der „Komteß“ Rat und Hülfe suchte. Es zeigte vor allen Dingen recht deutlich, wie sehr auch Adelaide von Saint-Trouin bei der Erziehung Antonie Häußlers beteiligt war und der Ritter ihren Einfluß, und vorzüglich in einem solchen Notfall, zu würdigen verstand.
Mit zitterhafter Unbehülflichkeit zog der Chevalier seinen Schlafrock aus, unter Beihülfe der alten Freundin. Mit zitternder Unbehülflichkeit tastete er nach den Ärmellöchern seines dunkelblauen Staatsfracks, welchen Hennig ihm hinhielt. Er griff in der Tat nach seinem Stock wie nach einer Waffe, beschrieb damit einen drohenden Kreis in der Luft, nahm ihn unter den Arm, und, gefolgt von den beiden Unglücksboten, wackelte er eilig über den Korridor nach den Gemächern des Fräuleins von Saint-Trouin.
Auch Adelaide hatte sich in Betracht des Erntelärms und des Höhenrauchs früh zurückgezogen und den Tee auf ihrer Stube eingenommen. Obgleich sie jetzt nicht ganz so häufig an Kopfweh litt wie in früheren Tagen, so litt sie doch noch häufig genug daran; und sie schlug nicht die Bücher der Gelehrten nach und benutzte die Gelegenheit nicht, um ihre Kenntnisse zu vermehren. Ein etwas gespenstischer Heroenkultus, bestehend aus einer weinerlichen Andacht vor dem Glaskasten Peccadillos, war alles, was ihr jetzt in solchen Fällen ihre Nerven erlaubten, wenn sie die Tür selbst vor Antonie Häußler verriegelt hatte.
Noch nie hatten die Angehörigen des Lauenhofes, welche nur allzu gut die Symptome kannten, es gewagt, die hohe Dame in solchen Zuständen herauszupochen!

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Schuedderump