Abschnitt. 1

In Braunschweig war in dieser Messe ein heftiges Gedränge, großer Verkehr und Handel; auch die Warwölfin machte treffliche Geschäfte und trieb den Handel mit hölzernem Geschirr ins große. Kuriose Dinge waren zu sehen und zu hören und wurden hell ausgeschrieen vor dem Granitpostament, auf welchem nun bald die ehernen Füße Gotthold Ephraim Lessings ruhen sollten, und viel Weisheit und Verstand wurde hin und her ausgegeben unter den Topfweibern rund um den alten Löwen vor der Burg Dankwarderode und unter den Glocken von Sankt Blasius. Aber guter Rat war auch in Braunschweig auf der Messe teuer und rar, und als die Jane aus Hüttenrode auf der Heimkehr nach ihren Harzbergen abermals durch Krodebeck zog, da war die schöne Marie schon tot, und der beste Rat wäre in dieser Hinsicht zu spät gekommen. Was das Kind der schönen Marie anbetraf, so verließ sich die Warwölfin immer mehr auf den Ritter, legte nur einen preußischen Taler auf den Tisch des Siechenhauses und versprach, von neuem wieder vorgucken zu wollen, wenn die Umstände und der Handel mit hölzernen Löffeln, Mulden und Quirlen es gestatten würden. Sie hatte nicht einmal die Zeit, das Grab Marie Häußlers, welches doch so dicht neben der Tür des Siechenhauses lag, aufzusuchen. Die blauen Berge zogen sie nach dem Staub und Spektakel der Ebene zu heftig und verlockend an, und wir haben nicht das geringste Recht, der Alten darum gram zu werden, denn sie war eine brave Frau und tat und sagte zu jeder Zeit, was sich schickte.
Die schöne Marie war tot und begraben. Hanne Allmann hatte großen Besuch im Siechenhause gehabt, denn das halbe Dorf war gekommen, um die Leiche zu sehen, und alle hatten ihre Bemerkungen leiser oder lauter darüber gemacht.
Die einen sagten, es sei kein Schaden, daß das so schnell abgemacht sei, und die anderen meinten, es sei ein Glück. Die geistlichen und weltlichen Behörden, das Pfarramt und der Ortsvorsteher Klodenberg trugen das Nötigste schriftlich über den Fall ein, und die Ernte des Jahres nahm ihren gesegneten Fortgang. Am Begräbnis nahm nur der Lauenhof teil, und zwar durch den Chevalier von Glaubigern; die Gutsfrau hatte das Leichentuch gern hergeschenkt, aber weiter keine Zeit gehabt, sich um die traurige Geschichte zu kümmern. Adelaide Klotilde Paula von Saint-Trouin schenkte nichts her und erschien auch nicht in Person, um ihrem früheren Schützling die letzte Ehre zu geben. Sie schloß sich an dem Begräbnistage in ihrem Gemache ein und beschränkte ihre Bedürfnisse auf ein gebratenes Hühnchen, Kaffee und die Lektüre von Hufelands Makrobiotik; noch am folgenden Morgen aber war sie recht grämlich, bissig und unliebenswürdig und verlangte, daß man ihre Gefühle schone und die „unselige Person“ in ihrer Gegenwart fürs erste nicht erwähne oder gar zum Thema der Unterhaltung mache. „Schämen Sie sich, Frölen Trine!“ sagte die gnädige Frau ziemlich kurz.
Der Herr von Glaubigern erschien feierlich und in Gala am Sarge und am Grabe und zwang durch seine Erscheinung auch den Pastor, sich herzubemühen, welcher jedoch nicht offiziell kam, sondern höchst ungern und sehr verlegen. Die Grabrede hielt auch der Chevalier, und zwar ganz in der tiefsten Stille seines Herzens; sie mußte wohl sehr vortrefflich gewesen sein, denn sie rührte ihn selber und wurde von Hanne Allmann bis in die feinsten Abschattungen verstanden.
Ein Leichenmahl wurde nicht gehalten, denn diesmal erregten die Tränen den Appetit nicht, wie dies nach dem Wort Jane Warwolfs häufig der Fall sein soll. Aber der Ritter hatte noch ein langes Gespräch im Siechenhause mit der Hanne über die kleine Antonie Häußler, und da wurde verabredet, daß das Kind für jetzt in dem Siechenhause unter der Pflege der Frau vom Siechenhause verbleiben und daß der Ritter Karl von Glaubigern zwischen dem Kinde und dem Dorf Krodebeck und der übrigen Welt stehen solle. Jane Warwolf aus Hüttenrode war eben ein kluges Weib, welches ziemlich genau wußte, wie sich die Dinge auf Erden ineinander zu schicken pflegen!
Der Ritter von Glaubigern stellte sich, wie es ihm beliebte; aber das Fräulein von Saint-Trouin nahm gleichfalls seinen besondern Standpunkt ein und behauptete denselben mit großer Charakterfestigkeit. Es übertrug seine Abneigung ohne Abzug von der schönen Marie auf die kleine Antonie und suchte in allem, was das Wohl der letzteren anbetraf, dem Chevalier so hinderlich als möglich zu sein, jedoch ohne alle Auffälligkeit. Zugleich zog es die Zügel seines Einflusses auf den Junker Hennig von Lauen fest an und erlaubte sich immer rücksichtslosere Eingriffe in den Teil der Erziehung des Jungen, welchen der Ritter sich fest gesichert hielt. Es fand die humane Bildung des Schlingels grenzenlos vernachlässigt und hielt den alten Comenius weniger als je für einen Ersatz für das Mangelnde. Es führte den Junker häufiger als je zwischen seinem Pompadour und dem Hündlein Peccadillo spazieren und lehrte ihn Weisheit und Tugend auf seine Art. „Was endlich daraus werden wird, soll mich doch wundern, Glaubigern!“ seufzte ärgerlich die gnädige Frau; aber der Chevalier zuckte nur ganz leise mit den Achseln und sagte:
„Ich komme immer mehr zu der Überzeugung, daß wir uns nicht allzusehr zu ängstigen brauchen; der Junge ist kein Genie, und es würde schwerhalten, selbst für das Fräulein, ihm den Kopf derartig zu verdrehen, daß sein Standpunkt als Gentleman dadurch in Gefahr geriete. Der Lauenhof war immer ein braver, nahrhafter Ort; man lebt zu gut darauf, um seine Ungereimtheiten weit über die Feldmark hinauszureiten.“
„Und ich hoffe, so soll es immer verbleiben, lieber Alter!“ rief die Frau Adelheid, treuherzig dem Ritter die Hand schüttelnd.
Der Junker Hennig sträubte sich oft heftig, wenn ihn die kalte Hand der ihre Pflicht kennenden Byzantinerin packte, um ihn zwischen den Hecken von Krodebeck und in ihren Idealen spazierenzuführen; aber auch Adelaide von Saint-Trouin fuhr oft heftig zusammen, wenn es hinter diesen Büschen raschelte und rauschte, die Zweige auseinandergezogen wurden und das Kind der schönen Marie ihr neugierig-furchtsam daraus entgegensah. Sie benutzte die Gelegenheit jedesmal aufs beste, den Zögling von neuem auf die Gemeinheit, Ekelhaftigkeit und Nichtsnutzigkeit der Welt jenseits ihrer Ideale hinzuweisen, und jedenfalls zeigte sie als das Erste und Selbstverständliche der kleinen Antonie ein Gesicht, vor welchem diese schnell genug in die Büsche zurückfuhr. Wie dann endlich der Junker Hennig sich zu diesen Lehren und der kleinen Antonie Häußler stellte, das kam an einem absonderlichen Tage des Spätherbstes zum Vorschein und zeigt, wie mißlich das höchste Ideal, die edelste, zarteste, feinsinnigste An- und Absicht dieser schlechten, gemeinen, nichtsnutzigen und ekelhaften, aber wirklichen Welt gegenüber stets und immerdar gestellt ist.
Es war ein Tag im Spätherbst des Jahres. Der Wald war bunt und der Himmel grau, sehr grau. An diesem Tage hatte sich der Ritter dem Fräulein zum Begleiter auf dem gewohnten Nachmittagsspaziergang angeboten, und das Fräulein hatte mit der gewöhnlichen grämelnden, süßlichen Miene die Begleitung angenommen. Verdrossen und mit hängendem Kopfe ging Hennig in der Mitte der beiden, und verdrossen, mit hängendem Kopfe folgte ihnen Peccadillo dicht auf dem Fuße: so waren sie abgezogen vom Hofe und hatten sich den Hügeln zugewendet.
Es war kein Tag, es war kein Wetter für die beiden alten Herrschaften. Ein unheimlich am Boden hinkriechender Wind trieb ein mattes Spiel mit den welken Blättern, und wenn Johann von Brienne plötzlich aus dem Boden aufgestiegen wäre, um den letzten Sprößling seines erlauchten Hauses dringend vor Rheumatismen und heftigem Gliederweh zu warnen, so würde dieses zwar sehr freundlich von ihm gewesen sein, hätte aber nur bei Leuten, die durch verwandtschaftliche Liebe und Affektion nicht verwöhnt waren, Staunen erregen können.
Es war kein Tag und kein Wetter überhaupt für alte Menschen. Auch der Herr von Glaubigern fühlte sich gedrückter und durch den engen Horizont befangener als sonst. Beide, das heißt der Ritter und das Fräulein, schritten langsam, erschienen dem Junker sehr langweilig und sprachen ihre Meinung und Absicht dahin aus, daß man nur bis zum Rande des nächsten Gehölzes gehen, sodann still, sittsam und vorsichtig umkehren und den Abend nützlich und anregend hinter den Wänden und hinter den Fensterscheiben des Lauenhofes verbringen wolle, welches letztere gleicherweise dem Junker durchaus nicht interessant und erfreulich erschien, denn es schloß mancherlei unausdrückbaren Jammer für ihn in sich.
Weiterhin auf dem Wege wurde Fräulein Adelaide recht gesprächig, doch stimmten Färbung und Stoff ihrer Unterhaltung leider ganz und gar zu der Witterung. Düster und lebenssatt schritt die hohe Dame dahin, mißgelaunt sowohl gegen die Vorsehung im allgemeinen wie gegen ihr Schicksal im besondern und gegen ihr Schicksal auf dem Krodebecker Burghof im allerbesondersten. Sie, die sonst so stattlich auf ihrer Einbildungskraft zu Roß saß, sie zog diese selbe Einbildungskraft wie einen müden Gaul am Zügel hinter sich her. Das närrische, aber doch glänzende Wellenspiel ihrer Phantasie hatte sich augenblicklich in ein bleigraues Gewoge verwandelt; die tollen Wolken ihres Gehirns hatten den letzten goldnen und silbernen Anhauch von ihren Säumen verloren. Adelaide von Saint-Trouin sah die Welt heute ebenso nüchtern an wie Adelheid von Lauen, wenn dieser ein Unglück in der Milchkammer passierte, wenn ein Viehsterben eintrat oder ein unvermuteter Abschlag der Fruchtpreise einfiel.
Ein jeglicher hat solche Tage, an welchen ihn alle Illusionen verlassen, an welchen der Pomp, die Pracht und das Vergnügen seines Daseins stückweise von ihm abfallen, Tage, an welchen er zwar nicht minder sich täuschen läßt, jedoch nicht durch den lachenden Schein und das behagliche Blendwerk, durch welches für gewöhnlich gütige Götter seinen Pfad bunt machen und verkürzen. Und alle schönen Illusionen hatten heute die Erbin des griechisch-lateinischen Kaiserstuhls im Stiche gelassen. Die Spinne hing ihr Gewebe in dem armen Gehirn Adelaides auf; die funkelnden Kuppeln von Byzanz versanken im Nebel, selbst der Papst Honorius der Dritte verlor seinen Reiz. Tyrus und Malta versanken wie Byzanz, und mit der Grafschaft von Pardiac löste sich die Grafschaft von Valcroissant in Nebel und Dunst auf. Zu ganz gewöhnlichem, mißtönigem Krodebecker Rabengekrächz war der Klang der Jagdhörner des großen Louis geworden, und was neben der Landstraße im Walde rauschte, das waren nicht die schönen Damen, die Marquis, Grafen und Herzöge von Versailles, sondern das war einfach und höchst ärgerlich das winterliche Blasen vom alten langweiligen Brocken und der Heinrichshöhe her.
Nun wußte der Chevalier freilich, daß die gnädige Frau sich von ihren ökonomischen Anfechtungen stets sehr bald erholte, obgleich auch sie von ihrem guten Humor immer auf Niewiedersehen Abschied nahm, und daß auch dem gnädigen Fräulein die alte närrische Herrlichkeit schnell von neuem anschießen werde. So konnte er die trübe Gegenwart mit ziemlich weiser Gelassenheit tragen, was der Junker von Lauen nicht vermochte. Der stieg zwischen den beiden Alten immer mürrischer hügelan und verspürte von Schritt zu Schritt immer größere Lust, etwas zu tun, was dem Fräulein diesen Nachmittag für seine ganze spätere Lebenszeit unvergeßlich mache und sein eigenes Rachebedürfnis wenigstens fürs erste befriedige.
Was ging es aber auch ihn an, daß doch eigentlich nichts mehr in der Welt auf dem rechten Flecke stehe und daß die Hoffnung, daß alles wieder auf diesen richtigen Fleck zurückgestellt werde, nun doch wohl zuletzt von den glaubenstreuesten Seelen aufgegeben werden müsse?! Was ging es ihn an zu erfahren, daß es gar keine Freude sei, in einer so schlechten, gemeinen, plebejischen, demagogischen Judenwelt leben zu müssen? Was ging es ihn an, daß selbst diese miserable, nichtsnutzige Welt noch erbärmlicher und niederträchtiger werden könne und in der Tat von Tag zu Tag werde? Was endlich ging es den Stammhalter des Lauenhofes an, daß es den Fürsten von Tyrus und Kaiser von Konstantinopel, Johann von Brienne, nicht im Traume eingefallen war, seine verwandtschaftliche Pflicht zu erfüllen, und daß die Erbin seines Thrones nun wirklich ein bedenkliches rheumatisches Ziehen von Schulterblatt zu Schulterblatt verspürte?
Herr Hennig von Lauen litt bis jetzt noch nicht an Rheumatismus. Der graue Tag brachte ihm keine Weltuntergangsgedanken, und was die Verschlechterung im sozialen Wesen betraf, so fühlte er, wie schon bemerkt wurde, heute selber ein Gelüst, als ein Rebell gegen dasselbe in seinen edelsten Inkarnationen aufzustehen und der Madame de Genlis, der Madame de Campan und so mancher anderen Madame und adeligen weiblichen Autorität was man nennt einen Esel zu bohren oder gar einen Tritt zu geben. Er war eben ganz unvermerkt und trotz aller zarten Sorgfalt und scheuen Vorsicht des Fräuleins auf jenem Standpunkt angelangt, auf welchem er die Gesellschaft und die Ansichten der Bauerjungen von Krodebeck bei weitem dem großen Louis, der Königin Marie Antoinette, dem alten Amos Comenius und sogar dem Herzog Wittekind, dem Liebling des Herrn von Glaubigern, vorzog, und gerade heute war der Tag und die Stunde, die eine ganze Epoche seines Daseins zum Abschluß brachten.
Die Lustwandelnden waren, bis jetzt ziemlich geschützt vor dem Winde, zu dem Walde emporgestiegen. Jetzt erreichten sie die Höhe, und der Wind kroch nicht mehr am Boden, zu ihren Füßen, sondern er faßte sie sehr rücksichtlos ganz und gar, kümmerte sich in Hinsicht auf das Fräulein nicht im geringsten um das Dekorum, wirbelte es einen Augenblick höchst frech und unanständig im Kreise umher und drehte es sodann ruckartig mit der verdrießlichen Nase gegen das Tal und Dorf zurück, als wolle er sagen: „So, jetzt marsch nach Hause – bis hierher und nicht weiter! Für heute haben wir genug von Ihnen!“
Den Peccadillo hob dieser Wind fast von den Füßen; der kluge Hund drehte ohne weitere Notiz kurz um und ging in wackelndem Trabe heim. Der Chevalier griff mit beiden Händen nach seiner Fuchspelzmütze, um sie tiefer über die Ohren zu ziehen.
Was den Junker anbetraf, so wendete sich dieser wie alle übrigen und sah mit tränenden Augen zurück. Da schlängelte sich der graue, steinige Feldweg hinab, da lag das Dorf, wo die Dreschflegel taktmäßig auf den Tennen klappten; da erhoben sich die spitzen Dächer und Giebel des Lauenhofes, und den Junker Hennig überkam plötzlich ein Widerwillen gegen alles das und ein noch heftigerer Ekel gegen die Heimkehr mit den alten Freunden und gegen die stillen Vergnügungen des Abends im Kreise derselben, sowie der arbeitsseligen Mutter und der anderen Haus- und Stubengenossen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Schuedderump