Abschnitt. 2

Den Junker nahm dann der Ritter von Glaubigern mit auf seine Stube und wendete sich in langer, wohlgesetzter Rede erst an seine Vernunft sowie seinen Verstand, und als dieses nichts half, an sein Ehrgefühl, was von besserer Wirkung war. Die gnädige Frau, welche nicht die Zeit hatte, um, wie sie sagte, abgetane Geschichten noch einmal breitzutreten, ging ihren Geschäften mit gewohnter energischer Gemütsruhe nach und machte sich ein Vergnügen daraus, das Fräulein in seiner grämlichen und gramvollen Abgeschlossenheit mit den lieblichsten Delikatessen der Jahreszeit zu versorgen. Um Weihnachten machte das Schicksal den letzten Schwankungen im Busen Hennigs dadurch ein Ende, daß es den Sohn des Pastors von Krodebeck, den lieben Franz Buschmann, zum erstenmal als Unterquartaner mit einer roten Mütze von Halberstadt nach Hause führte. Der liebe Franz, sonst ein blöder, etwas heimtückischer Knabe, trat jetzt stolz und überlegen dem frühern Spielkameraden entgegen und fand selbstverständlich einen großen Reiz darin, ihn durch seine Würde und Welterfahrung niederzudrücken. Hennig prügelte ihn zwar hinter der Pfarrscheune jämmerlich durch und warf die rote Mütze in die nächste Pferdeschwemme; allein moralisch erlag er jedoch vollständig gegen den Pastorenfranz. Dieses zeigte sich vorzüglich daran, daß er eine halbe Stunde nach dem Kampfe gegen seine kleine Freundin im Siechenhause in ganz derselben Art und Weise renommierte, wie Franz gegen ihn geprahlt hatte, und sich in den glorreichsten Phantasien darüber erging, wie er nun ebenfalls in nicht gar langer Zeit mit einer roten Mütze von Halberstadt nach Krodebeck heimkehren werde.
Daraus wieder geht für den Leser hervor, daß das mit dem Siechenhause angeknüpfte Verhältnis in vertraulichster Weise fortdauerte. Das Fräulein von Saint-Trouin hatte sich auch darein finden müssen. Es kann leider nicht länger verhehlt werden, daß das so vielfarbig leuchtende Gestirn Adelaides immer tiefer am Horizont des Knaben sank, während der Ritter von Glaubigern mit seiner ganz gewöhnlichen Laterne sich immer höher erhob. Seit der Chevalier seinen Zögling auf die Hintertüren des Hauses und des Lebens aufmerksam gemacht hatte, hatte er seine Stellung ihm gegenüber merklich verbessert, allein ihn zugleich auf Wege und Gänge hingewiesen, die jedermann leider nur zu bald von selber findet und die nur von so ganz gewöhnlichem Mittelgut, wie der Junker Hennig von Lauen, ohne weitere Gefahr beschritten werden.
Ungehindert trug der Knabe die Subsidien jeglicher Art, welche der nahrhafte Edelhof der alten Bewohnerin des Armenhauses fast gegen ihren Willen zukommen ließ, hinüber und den Dank in ebenso mannigfachen Gaben zurück. Die Welt nahm allmählich eine andere Form und Farbe für ihn an, und immer neue Elemente mischten sich in die phantastischen Anschauungen, die eine Folge seiner bisherigen wunderlichen Erziehung waren. Als mit abziehendem Winter die wandernde Frau Jane Warwolf von neuem in Krodebeck vorsprach, da fand sie im Äußern alles beim alten, allein im Innern doch manches verändert, und zwar nicht zum Nachteil weder des Ganzen noch des einzelnen.
Auf dem Lauenhofe stellte die scharfe Frau Jane den Junker nach ihrer Art zwischen ihre Kniee, tat ganz verwundert über ihn, als ob sie jetzt erst merke, was für ein merkwürdiger Bursche er eigentlich und unwissentlich sei, und erquickte ihn sehr durch das Gelöbnis, ihn auch in Halberstadt auf dem hochedeln und hochberühmten Gymnasium nicht verlassen, sondern ihn auch dort mit ihrem besten Rat und Trost unterstützen zu wollen. Als der Chevalier hierzu ein wenig lächelte, wurde sie ziemlich grob und versicherte ihn: sie wisse, was sie sage, mit ihrem Vater seliger habe sie das weltberühmte Bergwerk bis in die höchsten Klassen produziert, und ihr seliger Mann habe mit Stieglitzen, Dompfaffen und Kanarienvögeln in alle vier Winde hinein gehandelt. Sie habe sich mit den Herren Primanern und Sekundanern um manchen lieben Groschen geschlagen – rief sie –, und was die Herren Präzeptors und Klabberaters betreffe, so müsse es keine Botanik und Apothekerwirtschaft mehr auf Erden geben und kein kurios Kraut mehr rechts und links vom Brocken wachsen, wenn ihr die nicht grün wären bis in die äußersten Zweige.
„Nur stille, stille, ich glaube alles!“ ächzte der Ritter mit beiden Händen vor den Ohren, und der Junker Hennig glaubte gleichfalls alles und noch mehr; denn vor der Tür teilte ihm die Frau Jane noch im höchsten Vertrauen mit: Was den Pastorenfranz angehe, so möge er sich um das „Trübsal“ keine grauen Haare wachsen lassen; denn das Geschöpf sei froh, wenn es unter den jungen halberstädtischen Herren nicht selber Haare lassen müsse; seine Stellung im dortigen sozialen Leben sei nicht sehr bedeutend, und von seinen wissenschaftlichen Leistungen verstehe sie – Jane Warwolf – zwar wenig, allein reden habe sie noch gar nicht davon gehört; Prügel seien unter allen Umständen das Beste für den jungen Heiligen, und wenn sein Herr Vater –
Hier nieste sie glücklicherweise und nahm, ohne den Satz zu vollenden, mit dem gewohnten helltönigen Glückauf für diesmal Abschied vom Lauenhofe.
Im Siechenhause zog sie darauf die kleine Antonie Häußler ebenfalls zwischen ihre Kniee. Sie betrachtete sie dann eine geraume Weile wirklich in stiller Verwunderung und ließ sie frei, nachdem sie ihr mit leiser Hand über Stirn und Haare gestrichen hatte, ohne ein Wort zu sagen und ohne ein Gelöbnis zu tun. Als das Kind jedoch die Stube verlassen hatte, faßte sie schnell die Freundin Hanne am Oberarm, schüttelte sie ziemlich energisch und rief:
„Du, du, was hast du mit der Kreatur angefangen? O Hanne Allmann, sag, was für ein Vogel wird aus dem Ei, das dir der Kuckuck ins Nest legte? Herrje, willst du das Geheimnis und Rezept zu der Zucht nicht verkaufen? Damit ließe sich ein schön Stück Geld verdienen!“
„Ich habe viel Freude von dem Kinde, Jane“, sagte Hanne.
„Und schade, was beizufällt!“ lachte Jane.
„Ja!“ sagte Hanne Allmann, aber fügte leise hinzu: „Ich wollte freilich, das Kind wäre früher zu mir gekommen; jetzt fällt mir sicher der schönste Sonnenschein auf mein Grab; aber es ist auch so gut, und ich bin zufrieden.“
„Unsinn!“ rief die Warwölfin ärgerlich. „Willst du junge Dirne vom Sterben sprechen, während ich eben das Maul auftue, um dir mein Kompliment über dein frivol und frisch Ansehen zu machen? Die Sonne wird freilich manch liebes Jahr auf deinen und meinen Hügel schauen, und daß wir manches Pläsier verpaßt haben, das steht auch fest, aber weshalb du anjetzo damit angerückt kommst, das begreife ein anderer.“
„Das Kind ist so jung – und die Welt ist so jung, und ich bin so alt, so alt!“ rief Hanne Allmann weinerlich.
„Schön! sehr schön! Ei herrje, was man doch für Neuigkeiten erfahren kann, wenn man am Wege vorspricht!“
„Ja, du auf deiner Landstraße erfährst natürlich nichts davon, wie man alt werden kann; aber ich, ich spür’s in allen Knochen, und es tut mir so leid, es tut mir jetzt so leid, und davon sprech ich heut zum ersten Male zu einem andern Menschen. Mir ist so weh, wenn ich das Kind ansehe, und ich bin doch so glücklich mit ihm. Auch Zorn ist dabei und Angst ist dabei; aber wie ich es auch sage, ich kann es doch niemandem recht sagen, wie es mir zumute ist um mich und um das Kind!“
„Dann halte den Mund; – andere Leute müssen es auch tun. Was weißt du von meiner Landstraße? Was weißt du, was ich erfahren und nicht erfahren, bedenken und nicht bedenken kann? Hanne Allmann, ich habe dich lieb, und du bist mein einziger Freund in der ganzen weiten Welt; aber ich kenne dich auch durch und durch, und was kein anderer verrichtet hat, das wirst auch du nicht verrichten: wirr und blöde laß ich mich nicht machen. Glück auf! Ich meine, einmal sehen wir uns doch noch wieder und mögen die angenehme Unterhaltung weiterspinnen. Glück auf!“
„Glück auf und lebe wohl, Jane Warwolf!“ sagte Hanne und reichte der Freundin abgewendet die Hand. Jane hob ihren Tragkorb wieder auf den Rücken, schüttelte die dargebotene Hand und schritt von dannen, wie immer mit einer Miene, als ob sie Indien erobert und nun des Spaßes halber das Dorf Krodebeck noch nachgeholt habe. Sie schritt sogar noch straffer und sieghafter als gewöhnlich einher; aber nur so lange, als ihr Weg vom Siechenhause her zu überblicken war. Sobald sie den traurigen winterlichen Wald erreicht hatte, sank ihr Kopf herab und ging sie tief gebückt unter der Last auf ihrem Rücken. Die dichten, alten, borstigen Augenbrauen zogen sich finster zusammen, sie schlug mit ihrem Wanderstabe zornig in die Pfützen und nach den Steinhaufen an ihrem Wege und hub an, in einer ganz andern unmutigen und zornigen Weise als die melancholische Freundin mit den Göttern und Menschen zu hadern.
„Sie hat recht; wir leben ein Hundeleben und sterben einen Hundetod! Sie weint darüber, und ich lache darüber; aber es kommt auf dasselbe hinaus, und niederträchtig ist’s! Der alte Herr vom Lauenhof weiß auch davon zu sagen – ein Hundeleben, ein Hundeleben! Ja, wie viele Jahre Zuchthaus hätt’s gekostet, wenn die schöne Marie das Kleine mit einem Stein am Halse in den Bach geworfen hätte? Hui, da ist der Wind wieder! Da jagt er die Schneewolken über die Tannen herauf. Nun hab ich ihn wieder bis in die Nacht im Gesicht; – Sackerment, die sitzt und jammert über den letzten Sonnenstrahl, der in ihren Jammerwinkel fällt; – Sackerment, ein Hundeleben und ein Hundetod, und das letzte ist das Beste; – Glück auf, Jane Warwolf!“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Schuedderump