Siebzehntes Kapitel.

Auch am nächsten Morgen schien die Sonne hell, und der Junker war früh aus den Federn; denn so wie die Krodebecker Spatzen sangen die Spatzen vor dem Fenster des Oberlehrers Krummholz zu Halberstadt doch nicht. Er fand sich sehr behaglich in der Heimat, und mit ihm verzichten wir gern auf alle zarteren und innigeren Gefühle und Empfindungen in dieser Hinsicht, haben dagegen mitzuteilen, wie er, der Pastorenfranz und die kleine Tonie sich von neuem zusammenfanden und in welcher Weise sie ihre Erfahrungen und Anschauungen gegeneinander austauschten. Es geschah an dem nämlichen Tage, und zwar in dem bekannten Pavillon auf der Terrasse an der Landstraße, wo das chinesische Dach einen erquicklichen Schatten gegen die heiße Mittagssonne gab und wo man doch auch die Welt, nämlich die Dorfgasse, nicht gänzlich aus den Augen verlor.
Franz Buschmann, welcher bei weitem die meisten Erfahrungen gesammelt zu haben glaubte, ganz abgesehen von denen, welche er noch am vergangenen Abend zu den übrigen gelegt hatte, – führte selbstverständlich das große Wort und war gegen das Bettlerkind ausnehmend grob und unverschämt.
„So, Hennig“, sprach er, „da wären wir zwei mal wieder bei den Alten; und wenn’s auch kein Spaß und Vergnügen ist, so werde ich mir für die lumpigen vier Wochen nichts daraus machen. Na, gestern abend – uh – ja, es ging lustig bei uns her; aber ich hatte mich darauf eingerichtet; – das ist abgeschüttelt, und das Schlimmste habe ich hinter mir, und jetzt heißt es lustig! Die Alte war fast noch giftiger als der Alte; aber sie sollen sich beide wundern – geschenkt wird ihnen nichts, sie sollen noch Mund und Nase aufsperren. ›Die Rache ist süß, und ich will vergelten, spricht der Herr‹, sagte der Alte, und er soll es nicht umsonst gesagt haben! Fürs erste aber wollen wir uns es bequem machen; – du, Zigeunermädchen, schieb mir die Bank unter die Füße; wir sind in den großen Ferien, und da muß man sich von dem Drangsal erholen – uh!“
„Ich bin kein Zigeunermädchen, und deine Magd bin ich gar nicht, Buschmann!“ rief Tonie entrüstet, trat jedoch vorsichtig einige Schritte zurück.
„Hi, guck einer die Hexe! Sag mal du, was willst du denn eigentlich hier? Wie kommst du eigentlich hierher? Weißt du nicht, wohin du gehörst? Mach dich nützlich und angenehm – auf der Stelle pariere oder scher dich dahinunter auf die Straße. Dahin gehörst du; denn da bist du hergekommen.“
„Sei still, Franz! Das brauchst du nicht zu sagen!“ rief Hennig mehr verlegen als ärgerlich; trotz seiner Tölpelhaftigkeit sah er dem Kinde an den Augen an, daß in der Seele desselben mehr vorging, als der Pastorenfranz vermutete.
„Vieh!“ rief Tonie Häußler, fest und lange dem Angreifer in das Angesicht blickend. „Du bist der richtige Buschmann – der Buschmann aus Afrika!... Du, du, o du – was habe ich dir zuleid getan?“
Sie ließ die geballten Hände sinken und wendete sich laut weinend zu dem Junker:
„Weißt du es nicht, weshalb ich hier bin, Hennig? Es ist, weil der schlechte Buschmann recht hat; weil ich auf die Landstraße gehöre, weil niemand mich haben will, seit die Mutter Allmann gestorben ist. Weil niemand mich haben will, deshalb darf ich hier sein; die gnädige Frau will es, das gnädige Fräulein will es, und der Herr Ritter will es erst recht! Was kümmert es dich, Franz, daß man mich gut und gescheit machen will? Dich kümmert’s nicht; aber die Buschmänner nennt man auch Botokuden, und solch einer steht in deinem Buch, Hennig, und solch einer bist du, Franz Buschmann!“
„Frag im Dorf und frag den Schullehrer und frag meinen Vater und meine Mutter, wer du bist; man wird dir sagen, wer du bist!“ schrie der Knabe, die Faust dem Kinde unter die Nase haltend.
„Und es ärgert dich, daß ich auf meine Nester und Eier und flügge Brut im Walde Achtung gegeben habe, wenn du zu Haus warst!“ lachte durch ihre Tränen das kleine Mädchen. „Nicht eine Feder hast du mir nehmen dürfen!“
Der Pastorenfranz lachte auch, aber zeigte zugleich doch die Zähne, denn diese Erinnerung schien ihn mehr als alles übrige zu erbosen.
„Kusch, kusch, Katz!... Katz! Katz! Fort die Katz!“ rief er, nach der Gegnerin schlagend; aber jetzt hielt ihn Hennig und rief weinerlich:
„Buschmann, jetzt gib Ruhe! Franz, ich werfe dich von der Mauer, wenn du nicht still bist! Laß die Tonie; ich leid’s nicht, daß du sie anfassest und schimpfst! Es soll sie niemand schimpfen, sie gehört auf den Hof und zu uns, denn der Herr Ritter hat sie lieb, das hab ich gleich gewußt, und für den Herrn Leutnant steh ich auf gegen Russen und Franzosen und alle wilden Völkerschaften aus dem kleinen und großen Roon!“
„Und eine Zigeunerin und eine Katze ist sie doch, und um den Ritter, den armen Ritter kümmere ich mich keinen Pfifferling, und jetzt fliegt sie grad die Trepp hinunter. Fort, kusch, fort, Katz, Katz, Katz!“
Er war auf das den Kopf angstvoll mit den Händen schützende Mädchen zugesprungen, und Hennig sprang eben gleichfalls zu und faßte ihn am Haarbusch, als sich dem erbosten ersten Angreifer eine dürre, aber sehr weiße und zugleich recht kräftige Hand auf die Schulter legte und der Herr Chevalier von Glaubigern ruhig sagte:
„Ei, ei, mein Söhnlein, gemach! gemach! Welche unnötige, welche gewalttätige Aufregung? Es hat nie als Sitte gegolten, den Damen solche Worte ins Gesicht zu sagen oder sie gar durch Tätlichkeiten zu beleidigen; und auf dem Lauenhofe war es nie Sitte.“
Nun übertrieb der Ritter hier freilich ein wenig; denn Frau Adelheid von Lauen war imstande, bei passenden Gelegenheiten den ihr untergebenen Damen noch ganz andere Titulaturen zu verleihen, ja sie sogar mit bewaffneter oder unbewaffneter Hand ohne weiteres körperlich anzugreifen; allein die plötzliche Anrede und der Ton des Leutnants machten dessenungeachtet einen bedeutenden Eindruck auf den rohen Sünder, zumal da der Redner noch nicht fertig war, sondern fortfuhr:
„Was aber dieses hier gegenwärtige Fräulein anbetrifft, so verbitte ich mir dringendst alle weiteren und ferneren Brutalitäten gegen es. Ich würde jeder fernerweitigen Roheit, auch Lümmelhaftigkeit in Ausdruck und Gebärde gegenüber die nötigen und durchgreifendsten Maßregeln zu treffen wissen, was man sich hinter die Ohren schreiben möge. Anjetzo marsch nach Hause, du Schlingel, – mit dem Herrn Vater werde ich die nötige Rücksprache nehmen, auch der Frau Mutter eine freundliche Bitte vorzutragen mir erlauben. Marsch – marsch!“
Das gegenwärtige Fräulein küßte auf dieses hin dem alten Kavalier zärtlichst die Hand; Herr Franz Buschmann jedoch zog die Schultern bedenklich in die Höhe und schlich auf eine Weise davon, die mit dem Rückzuge der zehntausend Griechen oder sonst einem tapfern und berühmten Rückzuge nicht die mindeste Ähnlichkeit hatte. Unser Freund Hennig zog das dümmste Schulbubengesicht, welches jemals seit dem Sündenfall, dem wir bekanntlich jegliche Erkenntnis zu danken haben, geschnitten wurde. Er hatte erkannt, daß unter Umständen kein Mensch, auch der beste Kamerad, auch der Pastorenfranz nicht, zum Leben und Gedeihen unentbehrlich sei; doch war er weit davon entfernt, alle Folgerungen dieser uralten, urewigen Wahrheit, dieses alleinigen Grundrechtes, durch welches sich die Menschheit vor dem Menschen rettet, zu ziehen. Das letztere ist eine ganz allgemeine Bemerkung, mit welcher auch wir uns wieder in das Allgemeinere erheben.
Nur schandenhalber kümmerten sich der Chevalier und das Fräulein um die Bildungsfortschritte ihres frühern Zöglings.
„Es kann uns genügen, daß er im rechten Fahrwasser ist“, sagte der Ritter zu der gnädigen Frau; „was Außerordentliches wird doch nicht aus ihm; aber ein braver Kerl ist er geblieben, und solches ist die Hauptsache. Daß der Comenius einige Heiterkeit bei den Halberstädter Herren erregt hat, verberge ich mir keineswegs, also – legen wir ihn ad acta; ich schmeichle mir doch, daß er seine guten Dienste leistete.“
„Ich wüßte nicht, vor welchem Schulmeister ich größern Respekt als vor dem alten schweinsledernen Burschen hätte. Ich habe ihn immer mit Ehrfurcht auf dem Tische liegen sehen“, meinte die Frau Adelheid, und der Ritter schob lächelnd die Mütze von einem Ohr aufs andere.
„Jaja, es ist ein gefährlich Ding!“ sagte er. „Ich und der Hennig haben unsere liebe Not mit ihm gehabt; nun aber soll ihm seine Ruhe im Winkel von Herzen gegönnt sein.“
Sie glaubten alle auf dem Lauenhofe ihre eigenen Wege für sich zu haben, und nur selten ging ihnen eine Ahnung davon auf, wie sie sich sämtlich im Kreise bewegten und wie ihre Wege sich schnitten und stets von neuem dicht nebeneinander herliefen. Der Frau Adelheid war dieser Sachverhalt noch am klarsten, und sie unterließ es nicht, sich gegen die Vertraute ihrer Seele, die Mamsell Molkemeyer, darüber auszusprechen.
„Merken Sie was, Mamsell?“ fragte sie. „Ich merke was, und bald werden wir alle noch mehr merken. Der Herr Ritter ist ein herzensguter Mann; er ist fast zu gut für diese Welt; aber ohne ein Spielzeug kann er ebensowenig leben wie das Frölen. Merken Sie was, Mamsell? Sie haben eben nie genug an Mystax und Peccadillo, und dazu bleiben sie merkwürdig jung, und die beiden guten Tierchen werden allmählich recht alt und viel zu faul und fett für den muntern Verkehr. Ich habe es gleich gemerkt, als das Kind auf den Hof kam, was wir erleben würden. Erst hat mein Junge herhalten müssen, und es hat mich oft konfus genug gemacht – aber der ist ihnen nun über den Kopf gewachsen; sie haben ihn als Kalb am Bändchen auf die Weide geführt, und nun ist ihnen unter der Hand ein Ochse daraus geworden – das macht sich immer so und ist nur für den nicht kurios, der nichts damit zu tun hat. Nun ist ihnen die Tonie wie vom Monde in den Schoß gefallen; nun haben sie die am Bande, und was daraus werden soll, das weiß ich nicht! Und ich gebe Ihnen mein Wort, Mamsell, ehe der Herbst ins Land steigt, wird der Herr Ritter noch hitziger drüber sein als das Frölen! Für meinen Jungen ist es mir lieb, daß er drüber weg ist; aber das Mädchen! das Mädchen!?... Ich hatte es ja auch gut mit ihm im Sinn; aber anders! Es wird mir ganz schwül, wenn ich dran denke, und ein Jammer ist es, Mamsell; denn was für ein gesundes und nützliches und braves Leben hätten wir dem Kinde im Molkenwesen zurechtgemacht, wenn wir unsern Willen allein hätten.“
„Frau von Lauen“, sprach die Mamsell, „wenn ich an Ihrer Stelle wäre, so hätte ich meinen Willen sicher allein.“
„Und das zeigt, daß Sie nichts davon verstehen, Molkemeyern, und daß Sie mal wieder wie eine Gans in den Tag hineinschnattern. Solange ich auf dem Lauenhofe zu befehlen habe, solange kann der Herr von Glaubigern darauf und damit tun und lassen, was er will. Lieber wollt ich mir doch die Zunge abbeißen, als dem lieben Mann ein widrig Wörtchen sagen! Einen Mann wie einen Engel findet man nicht alle Tage, und – Mamsell Molkemeyer, wenn ihn der liebe Gott, was er selbst verhüten möge, eines Tages zu sich riefe und der Herr Ritter bietet Ihnen an, Ihre arme Seele in der Rocktasche mit hinaufzunehmen, so greifen Sie dreist zu und zieren Sie sich nicht; eine solche gute Gelegenheit, die ewige Seligkeit zu erlangen, finden Sie so bald nicht wieder.“
An einer andern Stelle ließ sich die Gnädige ähnlich vernehmen.
„Jaja, Herr Pastor, Sie haben vollkommen recht, und Ihre liebe Frau hat recht, und das Dorf soll auch recht haben; aber ich sehe wahrhaftig nicht ein, wie es zu ändern wäre. Sie sagen, es schicke sich nicht, und es entstehe nur Verdruß und wer weiß was alles draus; aber – können Sie es ändern? Ich kann’s nicht! Versetzen Sie sich in meine Lage, Herr Pastor. Das Frölen hat seinen Kopf aufgesetzt, mehr denn je, und was das bedeutet, wissen Sie ebensogut wie ich. Es meint, da die Welt doch auseinanderginge, so sei’s das vornehmste und nobelste, man stelle sich wieder auf Adams Standpunkt und nehme jegliches Tierchen, wie es sich produziere. Und wissen Sie, der Herr von Glaubigern hat es daraufhin groß angesehen und hat ihm nachher, als es vom Tisch aufstand, ganz fein und ehrerbietig die Hand geboten und die Tür geöffnet mit einer Verbeugung, und nachher hat er mir gesagt, entweder gehe die Welt wirklich unter, oder das gnädige Fräulein sei noch von keinem Menschen recht gewürdigt worden. Der Herr von Glaubigern hat sich ganz auf die Seite des gnädigen Fräuleins gestellt, und dagegen ist nichts zu machen. Wozu sich übrigens das Dorf eigentlich in diese Geschichte mischt, sehe ich gar nicht ein. Von Ihnen, Herr Pastor, und Ihrer lieben Frau rede ich natürlich nicht; aber die andern Maulaffen sollen mir nur kommen, ich werde sie gehörig heimzuschicken wissen. In den alten Schriften und Chroniken steht freilich nichts davon, daß die Herren von Lauen jemals das Kind einer Vagabundin an ihren Tisch aufgenommen haben; aber das kann doch den Krodebeckern unmenschlich gleichgültig sein. Jetzt bin ich da und der Herr Leutnant von Glaubigern und Fräulein Adelaide von Saint-Trouin, die eine so vornehme Dame ist, wie die Welt und der alte Blocksberg da sie noch gar nicht gesehen haben, und was ich der alten Hanne Allmann versprochen habe, das ist mir auch noch hell im Gedächtnis, und somit, Herr Pastor, wenn wir, die alte Hanne mitgerechnet, nichts gegen die Tonie Häußler einzuwenden haben, so möchte ich den sehen, der mir mit seinem Wenn und Aber das Leben noch saurer machen wollte, als es mir schon so zuweilen ist. Sie kommen doch heut abend mit den lieben Ihrigen, Herr Pastor? Wir haben einen Puter mit Johannisbeeren und nachher eine Schüssel recht schöner Krebse!“
Selbstverständlich kam der Herr Pastor samt der Frau Gemahlin und dem trefflichen Herrn Sohn. Ihnen gegenüber zwischen dem Chevalier und dem Fräulein von Saint-Trouin saß Antonie Häußler, und so konnte denn noch späterhin an demselben Abend Frau Adelheid ihr gutes Herz gegen ihre Vertraute in der Küche ausschütten:
„Jetzt läßt sich wirklich nichts mehr ändern, Mamsell Molkemeyer. Ein sonderbares Ding ist es; aber wenn ich wirklich einen Trost gebraucht hätte, so hätte mir das Gesicht der Buschmann denselben verliehen. Ich glaube, heut nacht lach ich mich in den Schlaf; aber wissen möcht ich wohl, was mein Seliger dazu sagen würde. Gott sei Dank, der Herr Ritter übernimmt die Verantwortung! Sieh, bist du auch einmal wieder da, Jane Warwolf? Du hast dich ja lange nicht sehen lassen auf dem Hofe.“
„Ja, Fraue, ich bin wieder einmal da“, sagte die Greisin, von ihrem Sitz neben dem Herde sich erhebend. „Ich bin gekommen, um nach der Erbschaft der Hanne zu sehen; da nehmt meine Hand, Fraue von Lauen; Ihr seid ein stolz, brav Weib und sollt Euch nicht bloß in den Schlaf, sondern auch in den Tod lachen. Eure Sterbestunde soll Euch so leicht werden, als Ihr mit Eurem guten Herzen das Leben den Menschen macht. Fraue, Ihr seid eine stolze Frau, und es ist eine Ehre, Euch lieb zu haben.“ – –
Wie gut es ist, daß sich dann und wann durch Menschenkraft nicht ändern läßt, was man gern anders haben möchte! Wenn Tonie Häußler wie aus dem blauen Himmel auf den Lauenhof herabgefallen war, so brachte sie auch alle Schönheit und Freundlichkeit ihrer Heimat als Gastgeschenk mit herab, und der Lauenhof hatte nicht nur großen Nutzen, sondern auch viel Vergnügen davon. Hier war nun in der Tat das richtige Bildungsobjekt für den Chevalier und das Fräulein von Saint-Trouin, und auch das Sonderbarste und Verschrobenste, welches bei allem, was die beiden Alten zu geben hatten, mit unterlief, konnte hier keinen Schaden stiften; wovon im nächsten Kapitel weiter die Rede sein wird. Jegliches Körnlein der Weisheit und Courtoisie, welches der Ritter und das Fräulein ausstreuten, fiel auf den besten Boden und ging sehr lieblich auf. Zu der Zierlichkeit der körperlichen Erscheinung des Kindes fügte sich von Tag zu Tage wundervoller eine unbeschreibliche Zartheit des Gemütes; und die großen dunkeln Augen, die vor kurzem noch so wild und scheu in das Erdengewirr hineinfunkelten, leuchteten jetzt in einem Lichte, welches selbst den Rohesten betroffen machen und anmuten mußte. Früher als bei andern Kindern entwickelte sich bei Antonie Häußler eine gewisse Jungfräulichkeit, welche die Herzen aller gewann und die Frau Adelheid immer mehr in ihrer Überzeugung bestärkte, daß sich nicht das geringste mehr an den neuen Zuständen des Lauenhofes ändern lasse.
In dem Siechenhause von Krodebeck hatte Tonie vollkommen die Erziehung erhalten, welche die guten Feen ihren Lieblingsschützlingen in der Einsamkeit und Wildnis angedeihen lassen; gewissermaßen wurde diese Erziehung auf dem Lauenhofe fortgesetzt, und seltsamerweise verspürte auch der Junker jetzt einen wohltätigen Einfluß davon. Was früher in anima vili nur komisch, verdrießlich oder gar beängstigend auf ihn gewirkt hatte, das kam jetzt durch ein Medium, durch das, was man in der Naturlehre einen Lichtleiter nennen würde, in gänzlich veränderter Beleuchtung und Bedeutung an ihn, und manches wurde ihm nunmehr höchst interessant, um was er früher sogar seinen besten Freund, den Herrn Leutnant von Glaubigern, in den tiefsten Abgrund der bekannten Hölle des westfälischen Adels verwünschte, während er sich zu gleicher Zeit recht anmutig ausmalte, wie er Fräulein Adelaide Klotilde Paula von Saint-Trouin als konstantinopolitanische Stechfliege zwischen dem Deckel und Titelblatt des Amos Comenius fing und sie grausam zerquetschte.
Jedenfalls ging der Junker schon aus seinen ersten Ferien nicht dummer nach Halberstadt zurück, obgleich seine Faulheit nichts zu wünschen übriggelassen hatte und er mit den eigentlich exakten Wissenschaften sehr im Rückstande geblieben war. Dagegen war der Pastorenfranz diesmal fast übermenschlich fleißig gewesen; denn der Herr Papa hatte ihn kaum aus der physischen und moralischen Klemme freigelassen. Der Charakter des Knaben hatte jedoch nicht dadurch gewonnen; Franz Buschmann trug zu schwer an der Bürde seiner unfreiwilligen Gelehrsamkeit. Mürrisch, verdrossen und boshaft, ein Feind der Götter und der Menschen, zog er von neuem mit dem Schulgenossen von Krodebeck ab, dem einstigen Wohnsitz des guten alten Vater Gleim zu. Daß er Theologie studieren werde, stand nach wiederholten Familienberatungen fest. Weshalb auch nicht?

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Schuedderump