Siebenundzwanzigstes Kapitel.

Glücklicherweise haben wir uns mit den Empfindungen unseres Schutzbefohlenen bei seinem ersten Erwachen in Wien nicht eingehender zu beschäftigen. Wenn wir sagen, daß er einen großen Teil seiner gestrigen Exaltation für kaum begründet erklärte und auf den Rest derselben mit einem nur mit Mühe zurückgedrängten Mißvergnügen blickte, so haben wir in dieser Hinsicht das Unsrige geleistet und können ihn ruhig für die ersten beschaulichen Morgenstunden sich selbst überlassen.
Es war irgendein kirchlicher Feiertag, und zugleich wurde irgendwo eine Parade abgehalten oder die kaiserlich-königliche Infanterie zu sonst einem Zweck in Gala durch die Straßen geführt. Die Sonne schien, die Glocken klangen, und die Musikbanden der verschiedenen weißröckigen Regimenter lärmten kriegerisch-munter durch die Gassen und über die Märkte, in und auf welchen das eilig-behäbige Menschengetriebe heute sonderbar wenig mit den Kümmernissen und Sorgen anderer Städte der Erdenbewohner zu tun zu haben schien.
Nahe Glocken und ferne Militärmusik sind etwas, was die Stimmung nicht verschlechtert, und solches erfuhr unser Freund Hennig, den wir jetzt in einem Fiaker wiederfinden, welcher ihn der Wohnung des Edlen Dietrich Häußler von Haußenbleib zuführt. Der Junker befand sich in diesem Moment in der Lage, solche äußerliche Anreize wohl gebrauchen zu können; er sah dem ersten Zusammentreffen mit der Jugendfreundin nicht mehr durch solch einen rosigen Schleier wie gestern entgegen, und er konnte nicht mehr über die Bilder der Heimat lachen, sondern fühlte tief und klar, daß der Ritter Karl Eustachius von Glaubigern sich nie dazu geeignet habe, für ihn – Hennig von Lauen –, auch in der aufgelegtesten Stimmung nicht, den Stoff zur geringsten possenhaften Bemerkung abzugeben. Jetzt blickte der Junker trübselig genug auf die bunten Gruppen und in die lachenden Gesichter auf seinem Wege. Er saß vorgebeugt, mit den Händen auf den Knieen, und von Zeit zu Zeit griff er in der Brusttasche nach den Briefen, welche ihm der Chevalier und Fräulein Adelaide an ihr Pflegekind mitgegeben hatten. Er hielt sich, sozusagen, daran und hatte allen Grund dazu.
„Nun weiß ich doch wieder nicht, wie mir ist“, murmelte er. „Nur eines weiß ich genau: ich wollte, wir träfen uns wie gewöhnlich im chinesischen Pavillon auf unserer Gartenterrasse und nicht hier in der Fremde! Gestern abend sah sich das Ding leicht genug an; aber jetzt erst merke ich, weshalb ich eigentlich hier bin, und ich würde viel drum geben, wenn ich den Leutnant in diesem Augenblick neben mir hätte, und wir könnten beide uns bei ihr anmelden lassen und mit der Visitenkarte zu gleicher Zeit herein und ihr an den Hals fallen: ›Da sind wir, Tonie! Nur deinetwegen sind wir da, und ganz Krodebeck läßt grüßen; und nun, Mädchen, wie geht es dir? Und wie ist es dir diese ganzen langen langweiligen Jahre hindurch gegangen?‹... Da würde der Chevalier wie gewöhnlich alles übrige aufs beste besorgen, und ich könnte wie gewöhnlich mein Vergnügen und meine Freude im Winkel haben!“
Nun sah der Junker den Edlen von Haußenbleib gleichfalls in einer andern Beleuchtung als am Abend vorher.
„Wie wird er mich empfangen? Was habe ich ihm zu sagen? Was kann ich ihm von Krodebeck aus Gutes bestellen?“
Es war ein großes Glück, daß in diesem Moment der Wagen hielt und der Kutscher die Tür aufriß; in seinen Gefühlen gegen den Edlen war Hennig eben im Begriff, seinen Rosselenker an der Schulter zu packen und ihm den heftigen Wunsch auszudrücken: er möge umkehren und ihn bis auf weiteres nach der Leopoldstadt zurückfahren. Jetzt war er gezwungen, auszusteigen und seine Geschicke zu erfüllen, und der Fiakerkutscher sah längere Zeit von seinem Bock aus nach ihm zurück und sprach nachdenklich:
„Kruzitürken, ist mir all eins, was d’Leut giftet; aber den hätt ich doch drum fragn mögn.“
Der Junker befand sich jetzt in der Vorstadt Mariahilf, ungefähr in jener Gegend, allwo die „Laimgrube“ in die Mariahilfer Hauptstraße übergeht, und wenn wir es für passend hielten, könnten wir die Nummer des Hauses nennen, an welchem er nunmehr sehr betreten emporstarrte, ehe er es betrat.
Wir nennen aus mehrfachen Gründen die Nummer des Gebäudes, in welchem sich die Privatwohnung des Edlen Dietrich Häußler von Haußenbleib befand, nicht; aber da wir auch auf unsere Leser einige Rücksicht zu nehmen haben, dürfen wir es doch nicht ganz der Phantasie derselben anheimgeben, sich die Lokalitäten auszumalen.
Hennig von Lauen sah ein stattliches Bauwerk vor sich, das in keiner Weise an Krodebeck und an den Lauenhof erinnerte. Zwei große elegante Läden nahmen zu beiden Seiten der Tür das untere Stockwerk ein: – ein Trauerwarenmagazin unter der wunderbar passenden Firma „Zur betrübten Hekuba“ auf der Rechten – ein Modewarenmagazin unter dem ebenso treffenden Zeichen „Zur schönen Helena“ auf der Linken. Die lebensgroßen, gar nicht übel gemalten Bildnisse der Trojanerin und Achäerin in ganzer Figur suchten so erschütternd und verlockend als möglich auf die vorbeiwandelnden Phäaken zu wirken und ließen ihnen jedenfalls die Wahl, im eiligen Vorüberstreifen einen Zug Zerknirschung aus dem düstern memento mori rechts zu schöpfen oder dem lachenden, verführerischen, aber etwas kostspieligen Leben links einen nickenden Wink zu geben.
Eine Treppe hoch befanden sich die Geschäftszimmer einer Versicherungsgesellschaft, an welcher der Herr von Haußenbleib wohl auch in irgendeiner Art beteiligt war, obgleich er ein eigenes Büro auch noch tief im wimmelnden Mittelpunkt der innern Stadt in irgendeinem „hintern Trakte“ besaß.
Im dritten Stock wohnte der Edle, und darüber hinaus stieg der Bienenstock mit seiner summenden Bevölkerung bis hoch in den blauen Wiener Himmel hinein und gab noch einer wunderlichen Bevölkerung von Studenten, Jüngern der Kaiserlichen Kunstschule, Photographen und so weiter Licht genug und Schutz gegen Wind und Wetter fast zur Genüge; und der Hausmeister wußte, welche Stellung ein Hausmeister diesem unberechenbaren Völkchen gegenüber einnimmt.
Von neuem griff der Junker nach den Krodebecker Briefen in seiner Brusttasche. Die schönen jungen Damen, die, je nachdem sie das Leben oder den Tod dem Publikum gegenüber vertraten, in hellern oder dunkelfarbigern Toiletten hinter den Spiegelfenstern der Läden beschäftigt waren, sahen ihn bereits darauf an, ob sie ihre Rechnung auf ihn als glücklichen Erben oder als glücklichen Verliebten und Verlobten machen durften: er aber hatte sie nunmehr nach beiden Seiten hin zu enttäuschen.
Wie das Haus, in welchem Tonie Häußler in Wien wohnte, von außen aussah, mußte er allgemach wissen.
„Es ist doch zu wunderlich, daß ich sie hier finden soll!“ seufzte er. „Aus der Ferne sah sich alles das ganz anders an, und so albern wie jetzt bin ich mir im Leben noch nicht vorgekommen. Bei Gott, ich habe Angst! Verlegen bin ich schon häufiger gewesen; aber jetzt habe ich Angst! Und vor wem? Um was? O dummes Zeug und kein Ende, jetzt stelle ich dem Unsinn ein Bein: nach zehn Minuten werden wir ja doch darüber lachen, und, auf Ehre, ich werde ihr beichten und mich herzlich gern von ihr auslachen lassen!“
Mit einem Sprunge war er im Hause und erstieg eilig die Treppen, und da er sein Leben unterwegs nicht bei der Nilassidantia versicherte, so erreichte er ohne weitern Schaden die Tür, an welcher eine glänzende Metallplatte ihm anzeigte, daß hier der Landsmann aus Krodebeck – nein, der Edle D. Häußler von Haußenbleib, Ritter des Erlöserordens usw., unzweifelhaft seine Wohnung habe und daß man nur die Glocke zu ziehen brauche, um die arme Tonie hinter der polierten Pforte mit den geschliffenen Scheiben zu finden. Mit zaghafter Hand griff er nach dem blanken Messingknopf und horchte atemlos auf den hellen Klang drinnen. Hätte ihn seine selige Mutter jetzt erblicken können, würde sie die Schultern beträchtlich in die Höhe gezogen und dazu gemeint haben:
„Ganz wie ich’s mir vorstellte! Natürlich der Peter in der Fremde! Jawohl – als ob ich das nicht schon vom Kaiser Lothar her gekannt hätte. Wozu heiratet man denn aus einer Familie in die andere und führt seine alten Register, wenn man sich allmählich dabei nicht selber kennenlernte?“
Zunächst fand sich Hennig natürlich einem ähnlichen schönen Bedienten gegenüber, wie er vor einigen Jahren den Bauern von Krodebeck so sehr gefiel; doch war’s nicht mehr derselbe, welcher damals den Edlen begleitete, der Frau Pastorin Buschmann mehr als nötig imponierte und im Dorfkruge so elegant für die Ehre seines Herrn einzutreten wußte. Durch diesen stattlichen Jüngling erfuhr Hennig vor allen Dingen, daß die Götter, wenn es ihnen beliebt, immer noch imstande sind, der menschlichen Einfalt zu Hülfe zu kommen: der Edle von Haußenbleib war wirklich nicht zu Hause, er befand sich in der Tat wie auf Bestellung in Italien, und der Diener konnte nicht sagen, wann er heimkehren werde, da der gnädige Herr das häufig selbst nicht vorher bestimmen könne.
Mit einem tiefen erleichternden Atemzug schickte der Junker von Lauen nunmehr seine Karte der Tonie und wurde zugleich einem zierlichen Kammermädchen überliefert, welches ihm die Hoffnung gab, das gnädige Fräulein werde ihn wahrscheinlich sogleich empfangen können. Er wurde in das nächste Gemach geführt, man schob ihm einen Sessel zu, doch nahm er nicht Platz, sondern blieb aufrecht in der Mitte des Gemachs und suchte, klopfenden Herzens, sich in der kühlen Dämmerung zurechtzufinden.
Die Kammerjungfer, welche in Wesen und Erscheinung dem Schilde zur Linken der Haustür zu nicht geringer Empfehlung gereicht und es im Notfall vollständig ersetzt haben würde, hatte ihn mit einem besondern Blick angesehen, als er ihr die Karte zustellte, und gesagt:
„Das gnädige Fräulein ist schon längere Zeit nicht ganz wohl!“ mit eigentümlicher Betonung des Wortes „ganz“.
Die Vorhänge waren zugezogen, und das heiße Licht des Tages fiel nur gedämpft in den reichen Raum. Da stand selbstverständlich irgendwo auf einer Konsole eine Nachbildung der Ariadne von Dannecker; und dunkel erinnerte Hennig sich später, an den Wänden neben einer schönen Kopie des Zinsgroschens von Tizian, welche gleichfalls die Leute gern zur Ausschmückung ihrer Zimmer verwenden und die, wie sich verschiedene Herrschaften erinnern werden, z. B. auch in dem Zimmer der Frau Geheimen Rätin Götz in Berlin hing, – lebensgroße Porträts des Kaisers Franz Joseph und der Kaiserin Elisabeth gesehen zu haben. Er behielt stets ein Gefühl von diesem ersten Warten auf die Jugendgespielin in der Kühle nach der langen Fahrt durch den glühenden Sommertag, ein Gefühl der harmonischen Wirkung von reichen Vorhängen, Tapeten und Teppichen, und behielt für alle Zeiten im Gedächtnis, daß er von einem Tischchen ein Album aufgenommen habe und hundert Photographien unbekannter Gesichter und Gestalten zwischen den Fingern und wirbelnden Gedanken gedankenlos durchlaufen ließ.
Aber er hatte auf die Bemerkung der Kammerjungfer auch gesagt:
„O das tut mir leid!“
Eine ganz gewöhnliche, alltägliche Redensart – das erste Glied einer Kette, welche sich ihm jetzt um die Seele legte und welche noch nach Jahren, wenn die hübsche, gutmütige, verständige Amtmannstochter vielleicht längst das Ihrige hingenommen hat, durch seine Träume im Wachen und im Schlafe klirren wird!
Sie war also nicht ganz gesund, und er hatte sie doch immer nur gesund gekannt?! In Krodebeck war ja überhaupt niemand je krank gewesen als vielleicht dann und wann das Fräulein von Saint-Trouin, und der machte es Vergnügen, und deren Leiden kannte man und ging der Patientin höchstens ein wenig mehr aus dem Wege. Die Leute starben wohl auch in Krodebeck, wie wir bereits an einigen Beispielen erfuhren, allein das ist etwas ganz anderes, wie jedermann weiß; denn trotzdem war man sehr gesund in Krodebeck!
„Sie hat uns nichts davon geschrieben; – weshalb hat sie das nicht getan?“ fragte sich Hennig. „Es ist unrecht. In ihren Briefen lacht sie, wie sie auf dem Lauenhof über alles und nichts lachen konnte; selbst wenn sie sich über den Buschmann ärgerte, lachte sie. Aber vielleicht ist es nichts, und sie wollte den alten Ritter nicht unnötigerweise ängstigen. Der Teufel hole das feine Frauenzimmer mit der seidenen Schürze – mit solchen dummen Redensarten kommen sie stets in der Komödie aus den Kulissen.“
Er sah sich nochmals um; aber die Vorhänge sanken nicht herab, die Wände rückten nicht auseinander; nach wie vor blickte der listig lauschende Pharisäerkopf dem Heiland über die Schulter, und Ariadne hielt sich auf ihrem Panther noch immer im Gleichgewicht. Die grünen Wiesen, Büsche und Wälder von Krodebeck, das alte Herrenhaus und die ganze Kette der blauen Harzberge samt dem Blocksberg lagen weit, weit in der Ferne und wohlverpackt und verschlossen in der alten schnurrigen Rokokokommode; und der Junker von Lauen besaß, in diesem Moment wenigstens, nicht das Zauberwort, welches einen frischen Hauch, einen freundlichen Ton, einen freudigen Strahl aus ihr in die Vorstadt Mariahilf herüberrufen konnte.
Jetzt trat das feine Frauenzimmer mit dem zierlichen Schürzchen schnell wieder hervor und sah ihn noch viel aufmerksamer als vorhin und sehr erstaunt an. Es winkte ihm und bat ihn leise, zu folgen, das gnädige Fräulein freue sich sehr, ihn zu sehen. Er durchschritt mit der Führerin noch ein zweites reiches Gemach, und dann stand er vor Antonie Häußler, die in ihren Briefen stets gelacht hatte, wie sie auf dem Lauenhofe über alles und nichts lachen konnte. Starr stand er da – – die arme Tonie hatte freilich in ihren Briefen den Herrn Ritter von Glaubigern nicht ängstigen wollen!
„Tonie! Tonie?“ rief Hennig zitternd, zum Tode erschreckt von dem, was er nicht gedacht, nicht sich vorgestellt hatte.
Und Tonie Häußler hatte sich aus ihrem Sessel erhoben, mit Hülfe der hübschen gesunden Kammerjungfer, welche der Edle von Haußenbleib wahrscheinlich fertig und vollendet in dem Laden zur Linken seiner Haustür gekauft hatte. Die hübsche gesunde Kammerjungfer hielt ihre Herrin mit einem Arm umfaßt; denn nur so schien letztere sich aufrechthalten zu können. Und jetzt streckte Tonie Häußler beide Hände nach dem Besuch aus und rief mit leiser, stockender Stimme:
„Hennig! Hennig! Ist es denn wahr und möglich? Bist du es wirklich, Hennig? Das ist wie ein Erwachen zum Leben, zu dem guten alten Leben. Sie haben ihre Tonie nicht vergessen in der Heimat! O Hennig – lieber, lieber Hennig!“
Er antwortete ihr nicht. Er trat ihr näher – einen Schritt – zwei Schritte. Er legte zögernd seine Hände in die ihrigen und sagte langsam:
„Das ist sehr unrecht! Ich muß dies auf der Stelle nach Haus schreiben. Das haben wir nicht gewußt. O Tonie, Tonie, hast du gar nicht an uns gedacht?“
Antonie Häußler versuchte zu lächeln, doch es gelang ihr schlecht. Sie sagte:
„Mein Großvater ist in Italien; er ist sehr häufig dort, und ich bin mit dort gewesen – es war sehr schön. Ich kann euch nicht vergessen; aber sieh, ich lebe hier nun mitten in der großen Stadt Wien, und da muß ich das Gute mit dem Bösen nehmen, wie es kommt. Es ist mir auch immer gut gegangen, und ich bin recht vergnügt gewesen bis zum Tode deiner Mutter. Da hattet ihr euren Schmerz und ich den meinigen. In den letzten Zeiten bin ich freilich ein wenig unwohl gewesen; aber jetzt geht es viel besser – vielleicht war’s nur ein bißchen Heimweh, und weil ich nicht schreiben konnte, wie – doch es ist nun alles gut, und ich freue mich so sehr, so sehr, dich zu sehen, deine Hände zu halten und dich bei mir zu haben, als wärst du mit der ganzen Heimat gerad vom Himmel mir in die Fremde hineingefallen.“
Nun hatte Hennig bereits die Stelle der Kammerjungfer eingenommen; sanft, wenngleich etwas unbehülflich, hielt er die Jugendgespielin, das Kind aus dem Siechenhaus zu Krodebeck, im Arm und stützte sie, zog ihren Sessel heran und setzte sie vorsichtig in die Kissen. Die Kammerjungfer sah alledem ziemlich verwundert zu, schüttelte den Kopf, blickte wie fragend auf ein großes, trefflich gelungenes photographisches Porträt des Edlen von Haußenbleib an der Wand und zog sich zurück. Der Junker holte sich gleichfalls einen Stuhl, rückte ihn so dicht als möglich an den Sessel Antoniens und rief:
„Ja, da bin ich, Mädchen – du dummes, böses Mädchen, und fürs erste geh ich jetzt nicht wieder. – Darauf richte dich ein. Den Herrn – Großpapa lassen wir ruhig in Italien bei seinen Geschäften; wenn einer aus Krodebeck dort ist, so hat Krodebeck in dieser Beziehung vollkommen seine Pflicht und Schuldigkeit getan. Mir gefällt dieses Wien ausgezeichnet, und jetzt – ganze Eskadron, marsch! – liefre dein Elend aus, oder – Jott sei uns jnädig! ich nehme es mit Sturm wie den hartmäuligsten Ascherslebener Kommißgaul.“
Nun lachte Tonie Häußler doch wirklich und faltete die Hände:
„Ach, Hennig, das ist wie ein Mairegen! Das ist Krodebeck! O ich bin so glücklich!“
„Und Franz Buschmann läßt grüßen – und der Chevalier – und das Frölen! – Du solltest unsere Saaten sehen, Tonie, – und hier hab ich die ganze Tasche voll Briefe. Sie haben Tag und Nacht darüber gesessen, und der Ritter hat mich fast umgebracht mit dem, was ich dir sagen sollte, Tonie, und was ich nicht vergessen sollte, und in Peccadillo sind trotz aller Vorsichtsmaßregeln doch die Motten gekommen, und das Frölen war außer sich; der ganze Lauenhof saß acht Tage lang mit unter dem Glaskasten und roch nach Kampfer! Von meiner armen Mutter will ich noch nicht sprechen, das alles kommt später: wir haben Zeit, für alles haben wir Zeit, Tonie, und nun sei ein braves Mädchen und mach mir das Herz nicht zu schwer; wir bringen alles wieder in den Sattel – Kreuzelement, ob wir nicht zum nächsten Appell parademäßig ausrücken werden?!“
„Und ich nenne ihn noch immer du; als ob sich das ganz von selbst verstände!“ rief Tonie fröhlich. „Wann bist du angekommen? und wo wohnst du, Lieber? Ich finde mich noch gar nicht zurecht, du bringst mir fast zuviel Glück mit. Ja, fürs erste darfst du mich nicht wieder verlassen – weißt du, ich bin daran gewöhnt, meinen Willen zu bekommen; ich bin sehr verzogen – es ist eben ein Unheil: die alte Hanne Allmann hat den Anfang damit gemacht, und so bin ich aus einer weichen Hand in die andere gegangen, und hier – jetzt – hier habe ich auch meinen Willen!“
Ihr ganzes Wesen hatte sich bei den letzten Worten verändert. Sie hatte sich wieder halb aufgerichtet, ihre Augen glänzten halb ängstlich, halb triumphierend, und ein anderer als der Junker von Lauen hätte schon aus der abwehrend-drohenden Bewegung ihrer Hand allein erkannt, wie Antonie Häußler hier in Wien ihren Willen bekam und wie der Edle Dietrich Häußler von Haußenbleib sich gegen denselben verhielt. So leicht jedoch merkte der Junker von Lauen nichts; er sah nur mit erhöhtem Staunen die schnelle Röte auf den Wangen der jungen Dame kommen und gehen, er sah mit erneutem Schrecken die bleiche Farbe wiederkehren.
Doch nun fing Tonie an zu fragen, und er hatte zu antworten und zu erzählen. Sie ließ ihm kaum Zeit zu seinen Antworten – auf halbem Wege ahnte sie schon, was er zu sagen hatte. Ach, er wußte gar nicht, wie viele wissenswerte Dinge er als Reisegeschenk mitbrachte, er staunte selbst darüber, wie interessant ihm selber mit einem Male die Alltagsneuigkeiten von Krodebeck und dem Lauenhofe in der Kaiserstadt Wien wurden.
Und immer rief Tonie dazwischen:
„Nimm dir Zeit, wir haben ja Zeit! Ich will alles wissen, und ich will alles ganz genau wissen. Ich will dir helfen zu erzählen; aber, sieh, du mußt dir auch rechte Mühe geben; vielleicht freust du dich, wenn du ein alter Mann, ei – ein alter würdiger Herr bist, noch darüber, daß du mir heut und in diesen Tagen den Gefallen tatest. Vielleicht kannst du auch Tote auferwecken – probier es einmal. Es soll uns keiner stören, wir wollen ganz allein sein, den guten langen Tag durch – o ich bin so glücklich, Hennig.“
Hennig von Lauen gab sich rechte Mühe. Er blieb den ganzen Tag an der Seite Tonies und kehrte sich nicht im geringsten an die Sitte der Welt. Er erzählte, er schwatzte; dazwischen las sie mit flimmernden Augen die Briefe, welche er ihr gebracht hatte. Er hatte auch ihren Schlummer zu bewachen und wußte oft selbst nicht, ob er jetzt im Wachen oder im Traume sitze, und am Abend ging er betäubt nach Haus und saß die halbe Nacht durch, um das Versprechen zu lösen, welches er dem Ritter von Glaubigern und dem Fräulein von Saint-Trouin gegeben hatte, nämlich umgehend von Wien aus zu schreiben.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Schuedderump