Siebentes Kapitel.

Wir haben bis jetzt mit dem Fräulein von St-Trouin und dem kleinen Hennig nur von der Landstraße aus in das Fenster des Krodebecker Siechenhauses gesehen und haben also noch über einiges zu reden, was sich am vorigen Abend hinter den erblindeten Scheiben begab.
Der „Homeister“, welcher unter der Oberaufsicht der gnädigen Frau eine zweite Bettstatt in der Hütte aufschlagen mußte, hatte sich entfernt mit seinem Handwerkszeug. Die gnädige Frau hatte der schönen Marie noch einmal das Kopfkissen zurechtgezogen und sich sodann gleicherweise mit dem Herrn von Glaubigern entfernt. Sie hatte die neugierigen Gaffer vor der Tür auseinandergejagt, und es war still in der Hütte geworden; – die alte Erbherrin und Burgfrau des Siechenhauses von Krodebeck fand sich zum erstenmal mit ihren neuen Hausgenossen allein, saß im Winkel und starrte auf das Bett. Marie Häußler hatte die Decke über den Kopf gezogen; das Kind kauerte neben dem Bette auf dem Erdboden und starrte auf die Alte. Krieg oder Frieden? Die Atmosphäre war dumpf, schwül und drückend wie vor allen größern Auseinandersetzungen, sei’s zwischen zwei dummen nichtsbedeutenden Weibsbildern oder zwei klugen mächtigen Nationen!
Diese Auseinandersetzung mußte kommen, und sie begann in einer höchst drolligen, aber durchaus bezeichnenden Weise. Wie ein Käfer, der in einer gefährlich erscheinenden Situation wieder Mut faßt, regte die Alte allmählich wieder Glied um Glied. Wie eine Henne, über welche der Habicht hinrauschte, zog sie den Kopf wieder unter dem gesträubten Flügel hervor. Leise und scheu streckte sie den Hals aus ihrem Winkel vor und wiegte immer schneller den Oberkörper hin und her. Sie stöhnte laut und unterbrach sich dabei, nach dem Bett hinhorchend; und als ihr Seufzer von dem Lager her ein Echo fand, erhob sie sich und stand gebückt, wiederum lauschend. Sie hielt die Hand an das Ohr, und das Kind, welches sich immer mehr vor ihr fürchtete, fing an zu weinen, an zu schreien. Die Alte richtete ihre Aufmerksamkeit von der Mutter auf das Kind und murmelte ununterbrochen durch zwei Minuten:
„Oje, oje, oje!“
Es dauerte zwei volle Minuten, ehe sie in jenes Stadium übertrat, in welchem der Käfer anfängt, seine Fühlhörner zu putzen und zu „zählen“. Dieses Stadium fand endlich seinen Ausdruck durch die Interjektionen:
„O du lieber Gott! O Gott, Gott, Gott!“
Im dritten Stadium entfaltet der Käfer seine Flügeldecken und schnurrt davon, die Henne schüttelt sich und gackert hellauf; die alte Burgfrau im Siechenhaus aber, von einem ganz außergewöhnlichen Entschluß, von einem von Thor und Wodan zu gleicher Zeit gesandten Mut ergriffen, fuhr mit einem Kamm auf das angstvolle Kind los, packte es mit ihren knöchernen Händen, zog es trotz seines Widerstrebens zwischen die Kniee und fing an, es mit gespanntestem Nachdruck zu kämmen. Die Lage der Dinge hatte sich mit einem Schlage geändert. Der Standpunkt für den fernern Verkehr war auf die natürlichste Weise gewonnen.
Auf das Geschrei des Kindes hob Marie ein wenig die Decke vom Gesicht, um zu sehen, was vorgehe, sagte jedoch nichts und sagte auch nichts, als die Alte, nachdem sie ihr Werk vollendet hatte, die kleine Antonie zu dem Stuhl am Fenster führte, um ihr das heimkehrende Dorfvieh zu zeigen.
Die Sonne war nunmehr untergegangen, und die Glocken der Kuhherde ertönten bereits in der Ferne. Antonie stand wieder zwischen den Knieen der Alten, doch jetzt ohne Zwang; die alte Frau wie das Kind warteten beide mit gleicher Spannung auf die Heimkehr des Viehs, und wenn wir den guten Gebrauch, jeden Abschnitt durch eine passende Überschrift zu bezeichnen, in diesem Buche zur Anwendung bringen wollten, so würden wir über dieses Kapitel die Worte: Das liebe Vieh! setzen und mehr als einen Grund dafür bereit haben. Ein recht schöner Grund lag zum Exempel schon in dem plötzlichen Angriff mit dem Kamm auf den verwilderten Kinderkopf; allein das war, wie gesagt, nicht der einzige. Die Alte, welche den Menschen wenig Dank schuldete und noch weniger Zutrauen, besaß eine große und innige Neigung für das Vieh und stand mit demselben auf dem allerbesten Fuße, vorzüglich soweit es in Herden versammelt am Morgen und am Abend an der Tür des Armenhauses vorbeizog. Sie hatte nicht den geringsten Teil daran und sah deshalb gewöhnlich ganz philosophisch unbefangen in das Getümmel; und da der Stall, die Weide und die Schlachtbank nicht nur im Leben der Tiere, sondern auch im Menschenleben ihre Rolle spielen, so kann man wohl über das „liebe Vieh“ und seine Geschicke die merkwürdigsten philosophischen Betrachtungen anstellen. An diesem Abend jedoch sah Hanne Allmann nicht unbefangen dem Heimzug ihrer Freunde zu. Sie saß und hielt sich die Stirn mit der Hand und wiederholte immerfort:
„Das liebe Vieh! Das liebe Vieh!“
Sie zogen alle vorbei. Zuerst die beredsamen Gänse, die Glück bedeuten, wenn man ihnen begegnet auf dem Wege. Sodann die zappelhaften, dummunruhigen Schweine, welchen man nicht begegnen soll, wenn man es irgend vermeiden kann, da sie Verdrießlichkeit, Hader, Zorn und Unglück anzeigen. Es kamen, geführt vom gewaltigen Dorfbullen, die stattlichen Kühe mit den Rindern und Kälbern, und den Beschluß machten die dummen, aber sehr viel Staub aufwühlenden Schafe samt den nervösen Ziegen.
„Das liebe Vieh! Das liebe Vieh!“
Verschiedene der Tiere kamen als nähere Freunde an das alte Weib heran, um es mit den feuchten Schnauzen anzublasen oder ihm die Hand zu lecken, die es ihnen aus dem Fenster hinhielt:
„Guten Abend, Hanne! Guten Abend, Hanne Allmann. Wie ging es den lieben langen Tag über? Und was für zwei junge, unbekannte Augen hat Sie da bei sich?“
Das Kind schlug die Hände zusammen und fragte, ob das an jedem Abend so sei; und Hanne Allmann – sie hatte wunderlicherweise wirklich auch einen Namen! – strich der Kleinen freundlich über die gekämmten Locken: freilich sei das so, vom Frühjahr bis in den späten Herbst. Da lachte Antonie und meinte, das sei schon recht, und die Alte lächelte auch.
„Ja, es ist schon recht!“ sagte sie. „Siehst du, das ist des Vorstehers vornehme Schwarze, die kommt aus einem fernen Lande, ist allmächtig berühmt wegen ihrer Herkunft und kommt doch alle Abend und grüßt und nimmt nichts dafür, daß sie das alte Bettelweib im Siechenhaus kennt. Da ist Ulenbrinks Blesse, die ist auch aus einem reichen Hause, und da kommt des Barbiers Scheckigte, die ist die Schönste und Klügste in der ganzen Herde –“
Die Alte fuhr schreckhaft zusammen und blickte schnell und verstohlen nach dem Bett hinüber. Die Ideenverbindung hatte trotz aller Tragik etwas unendlich Komisches; doch die schöne Marie war zu krank und elend, um die Komik oder die unwillkürliche Beleidigung zu fühlen. Aber sie verkroch sich wieder tiefer unter ihrer Decke und fürchtete sich vor der alten Hanne Allmann schrecklich und nicht ohne Grund, soweit es das eigene böse Gewissen betraf. Von allen Krodebecker bösen Kindern hatte sie in ihrer Jugend der verachteten Bewohnerin des Siechenhauses die ärgsten und abgefeimtesten Possen gespielt, die schlimmsten Schimpfworte nachgerufen. Und sicher hatte sie gewußt, daß sie das klügste Kind im Dorfe sei, und deshalb in allen Boshaftigkeiten die übrigen angeführt. Außer dem Dorfbüttel, welcher zugleich den Armenvogt von Krodebeck vorstellte, fürchtete Hanne Allmann das hübsche Kind des Barbiers Häußler am meisten. Das war nun vor ihrer Tür abgeladen worden! Das sollte von nun an mit ihr unter demselben Dache wohnen! Zu Ende war die kurze Ruhestunde, der armselige verlorene Frieden; – die alte Unruhe, der alte Lärm und Schmutz, die alte Unzucht richteten von neuem ihr Reich in dem Siechenhause von Krodebeck auf! O es war, um sich unter die Erde in die letzte Ruhe, in den letzten Frieden – in den feuchtesten, schlechtesten Winkel des Kirchhofes, unter die Nesseln, welche der Totengräber in der Mauerecke aufhäufte, hinabzuwünschen! –
Das liebe Vieh! Ach ja, das liebe Vieh!
Schreckhaft war Hanne Allmann über ihr unbedachtes Wort zusammengefahren; doch sie mochte sich beruhigen: das kluge Kind des Barbiers war nicht mehr imstande, so feinen, wenn auch unwillkürlichen Spielen des Witzes zu folgen. Marie Häußler konnte nur noch das Allergemeinste, das Allergewöhnlichste, das, um welches auch die Dümmsten und Einfältigsten lachen und zittern, in Sinnen und Gedanken begreifen und festhalten. Sie wendete sich mühevoll auf die Seite, sah auf die beiden am Fenster und rief weinerlich:
„Hanne! – Hanne Allmann!“
„Ja, was, Marie?“
„Da bin ich!“ sagte die schöne Marie.
„Oh! Ja, da bist du“, sagte die Alte und versuchte vergeblich, zu lächeln.
Marie Häußler lachte, und ihr Kind, welches glaubte, es sei etwas zum Lachen vorhanden, lachte auch; aber Hanne Allmann wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn. Es entstand wieder eine Pause in der Unterhaltung, bis die Alte es nicht länger aushielt und sich zu der Bemerkung aufraffte: „In Krodebeck läßt es sich auch leben!“
Da griff die schöne Marie im höchsten Fieber, in Wut und Angst ihre Bettdecke mit beiden Händen, als müsse sie etwas zerreißen.
„Und sterben läßt es sich auch da, und das ist das beste! He, alter Uhu, alte Hanne, wo sind die Maulschellen, die Ohrfeigen, welche du mir einst versprochen hast? Jetzt könntest du die alten Schulden zahlen! Komm heran, schlage mich – komm, schlage mich tot! Jawohl, du mußt es wissen, wie es sich in Krodebeck leben läßt!“
Jetzt lachte die kleine Antonie nicht mehr, sondern zeterte hellauf.
„Mein Kind! Mein Kind!“ rief die Mutter. „Hanne Allmann, das ist mein Kind, und es und mich haben sie auf dem Schinderkarren nach Krodebeck geschleppt, und es soll da leben, und ich soll da sterben. Hanne Allmann, vergib mir; ich kann in meinem Leben nicht wieder in der Gasse hinter dir herrufen. Vergib mir! Schlage mein Kind nicht! Schrei es nicht an! Um Jesu Christi willen, ich bitte dich um Vergebung!“
Für einen anständigen Menschen gibt es nichts Unangenehmeres, als um Verzeihung gebeten zu werden. Die braven Leute werden in solchen Fällen ungemein nervös dem Bittenden gegenüber. Sie liefen am liebsten weg, um dieser heißen Hand, die ihnen nach der Gurgel greift, zu entgehen, und sie fühlen einen Druck auf der Seele, ein vages Schuldbewußtsein, welche ihnen den Standpunkt in jeder Weise verrücken. Der arme Sünder weiß dies gewöhnlich ganz klar und nimmt, seiner Last erledigt, seinen Standpunkt vollkommen danach. Edlen Leuten, die sich mit Vergnügen um Verzeihung bitten lassen, braucht eigentlich niemand, und sei es der ärgste Bösewicht, dieses Vergnügen zu bereiten.
Hanne Allmann, welcher der Fall zum erstenmal in ihrem Leben begegnete, geriet außer sich. Es wurde ihr schwarz vor den Augen, sehr schwarz; sie seufzte, sie stöhnte, und jeder dritte Physiognomiker hätte voraussagen dürfen, daß sie sich im nächsten Augenblick auf die schöne Marie stürzen würde, um die verspätete Züchtigung vollkräftig nachzuholen und zum Anfang wenigstens ihr die Augen auszukratzen und die Haare auszuraufen. Wir aber wissen, daß dies nicht der Fall sein konnte, sondern daß sie jetzt nur noch etwas tiefer in sich die ganze Kleinheit des armen Geschlechtes der Menschen verspürte.
Sie hob das Kind von dem Schemel am Fenster herab und humpelte, die Hand desselben haltend, zu dem Lager der Kranken, sah ihr zum erstenmal genau und ohne zu zucken in das Gesicht, setzte sich neben dem Bette nieder und sagte:
„Sei nur still, Marie. Jag einem nicht solch einen Schrecken ein; – wir wollen schon miteinander auskommen.“
Und weil sie so ein altes Weiblein war, das stets ganz allein und ganz zuunterst in der Weltgeschichte gelebt und seine einzigen und besten Freunde unter dem lieben Vieh hatte, so wußte sie wirklich und wahrhaftig nichts weiter zu sagen. Nachher brachte sie ganz leise die kleine Antonie zu Bett und kroch selber unter ihre Decke und wartete die ganze Nacht mit einem sonderbaren Summen und Singen im Gehirn auf eine große Erleuchtung. Es kam aber nur mit dem neuen Morgen eine Vision; doch auch diese war nicht zu verachten unter so bewandten Umständen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Schuedderump