Abschnitt. 1

Es ist jetzt mehr Sitte als Notwendigkeit (wie ältere Sachverständige schnöde behaupten) geworden, daß diejenigen jungen Leute, die sich dem Landbau widmen, wenn ihre Vermögensumstände oder ihre Hoffnungen es erlauben, ein Jahr oder ein halbes auf einer Universität zubringen, weniger der Wissenschaften und des Herrn von Liebig als des Gaudeamus igitur wegen, wie die oben angeführten Sachverständigen gleichfalls behaupten. Auch für den Junker von Lauen war dieser heißersehnte Zeitpunkt nunmehr herangekommen, das Halberstädter Gymnasium lag hinter ihm, und nach abgehaltenem Familienrat stand es fest, daß er im Oktober nach Berlin gehen werde. Man befand sich, nach der Juden Zeitrechnung, im sechsten Jahrtausend der Welterschaffung, und so war es in der Tat hohe Zeit, daß das, was Adam sehr verdrießlich und ganz als Autodidakt begonnen hatte, endlich in ein System gebracht werde.
„Es ist vor allem unsere Pflicht und Aufgabe, uns auf der Höhe der Situation zu erhalten“, meinte der Ritter von Glaubigern. „Der größere Grundbesitz hat auch hier dem kleineren mit einem guten Beispiel voranzugehen – weshalb sollten wir den jungen Menschen nicht nach der Hauptstadt senden? Er mag gehen und wird nachher sich der Verwaltung des alten Erbteils seiner Väter mit desto größerem Eifer widmen und den Römischen Kaiser in partibus, Joseph II., Maria Theresia regnante, das heißt unter der obersten Leitung seiner braven Frau Mutter, desto freudiger und nutzbringender agieren.“
„Ich sehe kaum einen Grund davon ein!“ hatte Fräulein Adelaide gesagt; aber die gnädige Frau war natürlich wieder auf die Seite des Chevaliers getreten, und mit innerlichem Jauchzen hatte Hennig seinen Willen durchgesetzt, obgleich ihm die eigentliche Wissenschaft des Pflügens, Düngens, Säens und Erntens bereits wie im Spiel in die Hand gewachsen war, wie vordem allen seinen Ahnen, die nie eine Universität besuchten und doch den Lauenhof stets auf der Höhe ihrer Zeiten erhielten.
Doch wir befinden uns augenblicklich erst in der Weizenernte.
Der Pastorenfranz war zum erstenmal von Halle heimgekommen, wo er ein Stipendium und einen Freitisch genoß und seine kostbare Gesundheit durch allzu eifrige Hingabe an seine Studien in Gefahr setzte, wie seine Mama behauptete. Daß er studierte, daß er ohne alle Widersetzlichkeit Theologie studierte, war zu einer Tatsache geworden, und daß er sich von dem Freitisch und seinen Studien in Krodebeck mit aller Hingabe erholte, war gleichfalls eine Tatsache. Den Freitisch lästerte er ganz offen und ohne Zwang; über seine Studien dagegen sprach er sich natürlich nur ganz im Vertrauen gegen Hennig mit Verdruß und Verachtung aus. „Aber man frißt sich durch“, setzte er jedesmal hinzu; „Behaglichkeit ist die Hauptsache, die Gnade wird sich späterhin auch wohl einstellen, und Hennig, ich verlasse mich fest auf dich und rechne auf Krodebeck, wenn der Alte einmal – na, du verstehst mich!“
Der Junker verstand ihn freilich und ärgerte sich häufiger denn je an ihm; weniger über Insinuationen gleich der eben angeführten, die er im Grunde doch für ganz natürlich und wohlbegründet erachtete, sondern über die wirklich wunderbare Behaglichkeit, mit der ihn der junge Gottesgelehrte dann und wann auf die Felder hinausbegleitete und seiner harten Arbeit zusah.
Während Hennig im Schweiße seines Angesichts den Verwaltern und Knechten seiner Mutter half und hochrot vor Eifer riesige Garben der heißen Augustsonne entgegen auf die Wagen schwang, lag Franz gewöhnlich unter einem Busch lang ausgestreckt neben dem Viktualienkober und rief nur von Zeit zu Zeit kauend hinüber:
„Ich bewundere, aber ich begreife dich nicht, mein Sohn. Jetzt komm endlich her und erquicke dich; denn siehe, es stehet geschrieben: Du sollst dem Ochsen, der da drischet, nicht das Maul verbinden!“
„Keine Zeit!... Nachher!“ ächzte der Junker dann wohl grimmig durch die Zähne, und Franz Buschmann drehte sich faul auf die andere Seite, seufzte: „Des Menschen Wille ist selbst bei einer solchen Hitze sein Himmelreich!“, zog einen abgegriffenen Band der Abenteuer des Chevalier Faublas aus der Tasche und blickte aus der idyllischen Gegenwart wohlig über denselben hinweg in eine stille, friedliche, nahrhafte und gottselige Zukunft.
Auch Antonie begleitete im leichten Sommerkleid und gelben Strohhut die Ernteleute des Lauenhofes häufig auf die Felder hinaus; aber sie suchte sich nützlicher zu machen als der ekstatische Studiosus der Theologie, und sie gereichte jedenfalls den Knechten und Mägden sowie dem Junker zu größerem Trost und Vergnügen als der junge gefräßige Gottesgelehrte. Eine lächelnde freundliche Hebe, trug sie den Arbeitern die Krüge mit dem Erntebier zu und lächelte nur dann nicht, wenn sie notgedrungen den Busch des Pastorenfranz streifen mußte und es breitmäulig aus dem Schatten klang:
„Mir auch einen Tropfen zur Labe, Fräulein Häußler!“
„Sei kein Flegel, Buschmann! Ich meine, du kannst den Weg zur Tränke selber finden!“ rief dann wohl Hennig aus den Garben herüber. „Tonie, kümmere dich nicht um den Dickhäuter; schon in Halberstadt haben wir gewußt, daß ihm eine ganze Seite in der Zoologie allein gehöre. Lustig, Tonie, du bist ein gutes Mädchen, du bist wahrhaftig ein gutes Mädchen, und, bei den lateinischen Göttern, was mich angeht, so fühle ich mich wie ein Gott in meinen Armen und Beinen. Hurra, es geht doch nichts über Krodebeck in den Erntetagen!“
Es war eine gute Zeit. Wenn die gnädige Frau auf die Felder hinauskam, segnete sie sich mit Fug und Recht über das fette Jahr und sang helle Jubellieder in der Tiefe ihrer Seele. Und wenn in der kühlern Abenddämmerung der Ritter von Glaubigern und das Fräulein von Saint-Trouin nachfolgten, so freuten auch sie sich und hatten gleichfalls allen Grund dazu. Sie konnten auch Jubelhymnen in der Tiefe ihrer Seele anstimmen, und zwar über ihre beiden Zöglinge. Sie wußten beide, was schön und gut sei, wenn auch auf verschiedene Weise, und sie standen oft beide still und stumm, während ihr Herz über die jungen Leute lachte.
In diesen Augenblicken pflegte das Fräulein dem Chevalier die goldene Dose zu bieten:
„Ein schöner Abend, Herr von Glaubigern!“
Und der Ritter, zierlich mit spitzen Fingern zugreifend, erwiderte:
„Ein sehr schöner Abend! Wahrlich, mein Fräulein, wir haben wohl beide häufig nicht gedacht, daß die Sonne uns so freundlich untergehen werde!“
„Mein lieber Herr von Glaubigern!“ sprach Adelaide, „wem hat man das zu danken? Wie häufig und wie unverständig ist man mir unter den frivolsten Vorwänden in den Weg getreten? Ja, und was würde sowohl aus dem Hennig wie aus dem Kinde geworden sein, wenn ich in allen Dingen meinem bessern Verständnis und meinen Gefühlen hätte folgen dürfen? Nun, ich will nicht alte Wunden von neuem aufreißen, mein verehrter Herr Chevalier; es ist in der Tat ein recht schöner Abend für uns, obgleich hoffentlich die Sonne doch noch nicht so tief steht, um auch diese ziemlich verständliche und recht ironische Bemerkung in betreff meiner Lebensjahre zu motivieren.“
„Oh!“ seufzte der Ritter, und von jedem andern hätten wir sagen dürfen, er habe einen grunzenden Seufzer laut werden lassen, und zwar mit vollkommenster Berechtigung. Der Chevalier aber grunzte überhaupt nicht und also auch nicht in diesem Falle.
Es war eine herrliche Zeit, eine Zeit der Erfüllung. Niemand, selbst der Ritter von Glaubigern nicht, hatte eine Ahnung davon, welches Gewölk hinter den Bergen brauete und welch hinkender, hämischer Schritt langsam und unaufhaltsam sich näherte. Nicht einem klang dieser metallische Schritt, der halb Hufschlag war, in den guten Stunden durch die Seele, selbst nicht durch die ängstliche Seele des Chevaliers und Leutnants Karl Eustach von Glaubigern.
Es war eine sehr vergnügte Zeit; allein vorüber mußte auch sie gehen. Allmählich verklang das Schärfen der Sensen, das Rufen und Singen der Arbeiter und Mägde auf den Feldern von Krodebeck. Die Felder wurden leer, und Wagen auf Wagen schwankte zum Dorfe hinab. Endlich kam der Abend, an welchem die letzten Garben auf den letzten Wagen geladen wurden und auch diese Ernte vollendet war.
Der Morgen war sonnig und heiß wie gewöhnlich gewesen; gegen Mittag hatte sich ein leichter Dunst über das Land gelegt, und als am Abend die bebänderte, mit Goldflittern und künstlichen und wirklichen Blumen geschmückte Erntekrone auf der höchsten Garbe des letzten Erntewagens aufgepflanzt wurde, änderte sich die Atmosphäre in eigentümlicher Weise. Über den Wald im Westen schob sich ganz plötzlich eine seltsame gelbliche Wand empor, in welche die Sonne, eine feurig rote Kugel, hinunterglitt. Mit ungemeiner Schnelligkeit wogte der Dunst heran: der Höhenrauch verhüllte die Ferne und die Nähe, legte sich schwer und betäubend auf Augen und Hirn und machte sich den Lungen so sehr bemerklich, daß selbst die stattlichen, starken Gäule des Lauenhofes in ihren Geschirren unruhig wurden, die Köpfe in die Höhe warfen und laut und unmutig schnoben.
Natürlich sah auch das Volk von den Stoppeln auf und umher, und alle tauschten die uralten Bemerkungen, Fragen und Antworten über den geheimnisvollen Dunst und Nebel aus; allein der Schleier, der sich über die geleerten Felder legte, fiel nicht zugleich über ihre Seelen. Im Gegenteil schien er den halben Rausch, in welchem sie sich alle befanden, nur noch zu erhöhen. Sie schrieen und jauchzten und umtanzten die Wagen; sie jagten einander durch den wehenden Duft. Der Pastorenfranz lief den kreischenden Mägden nach, und Hennig hob, wie ein junger Herkules auf der Deichsel zwischen den Pferden stehend, in seinen starken Armen Antonie als Erntekönigin auf den für sie bereiteten Sitz, gerade unter der bunten, bebänderten Krone. Was für Wetter der Höhenrauch auch bedeuten mochte, der Segen des Landes war vor allen bösen Mächten in Sicherheit gebracht, und der größte und höchste Jubeltag des Bauern war nach langem, hartem Mühen zwischen Furcht und Hoffnung dem Jahre abgewonnen.
Noch lag die gelbrote Kugel in dem gelben Dunst, und etwas Schöneres als das Gesicht der Erntekönigin auf dem schwankenden Sitz in diesem magischen Lichte gab es nicht auf Erden. Und sie allein blieb in ihrer freundlichen Ruhe unter den vielen aufgeregten Menschen. Still lächelnd blickte sie von ihrem hohen Sitze hin über das Land, über all die leeren Felder. Das Lächeln verschwand, die Sonne ging unter, mit einem Male hatte der unheimliche Rauch, der sich auf die Fluren von Krodebeck gelagert hatte, die rechte Färbung angenommen: alles Bunte und Leuchtende versank in dem trüben Grau, der Horizont verengerte sich mehr und mehr, und lachend rief Hennig von Lauen zu der Spielgenossin hinauf:
„Hallo, Tonie, ist das nicht, als ob der Herbst dem Sommer die Lichter ausbliese? Wie schade, daß der Ritter und das Frölen zu Hause sitzen, wir kommen dadurch um einen ganzen Sack voll Philosophie und Klagelieder Jeremiä! Munter, sagt meine Alte; jetzt geht’s nach Haus, nun schreit euch alle aus und bringt dem guten Jahr ein Vivat; nachher tanzen wir in den Winter hinein!“
Das Wort ließ sich niemand unter den Ernteleuten zum zweiten Male sagen. Sie schrieen allesamt mächtig und aus sehr gesunden Lungen, und dreimal hallte die Gegend von ihrem Hochrufen wider.
Nun schwang sich Hennig auf den Sattelgaul, die Knechte und Mägde ordneten sich zum Zuge vor und hinter dem Wagen. Das schwere Viergespann zog an; tief in den Ackerboden unter der schweren Last einschneidend, drehten sich knarrend die Räder, und von den Stoppeln schwankten die letzten Garben dem Feldwege zu, der nach dem Dorfe hinabführte.
Mit hellem Gesang zog man einher, nachdem man auf ebenerem Boden angelangt war. Selbst der Pastorenfranz sang mißtönig mit, trottelte aber doch ziemlich verdrossen nach; denn heute an dem arbeitvollen Tage hatte er bei niemand die Beachtung gefunden, welche er doch stets verdiente, und auch jetzt in dem Triumphzuge spielte er keine hervorragende Rolle und fühlte das.
Die Mägde neckten ihn, die Knechte sahen mit einem gewissen Hohn auf ihn herab, und der Junker in seiner Pracht auf seinem Lieblingsgaul schien gar nicht mehr zu wissen, daß der Buschmann auch noch in der Welt sei.
Und je näher man dem Dorfe kam, desto mehr wuchs die Erregung des Volkes. Längst reichte das im Chor angestimmte Lied nicht mehr aus, um dem Jubel Luft zu machen. Wild und toll jauchzten einzelne in die Melodie hinein, und der Junker auf dem Sattelpferde tat mit Hollageschrei und Peitschengeknall das Seinige, die schwere, graue Atmosphäre zu erschüttern.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Schuedderump