Abschnitt. 1

Ich eröffne dieses Buch recht passend mit einer kleinen Reiseerinnerung und durch dieselbe mit einer Erklärung und Rechtfertigung des Titels, um nicht späterhin, d. h. im Laufe der Erzählung, allzuoft über diesen Titel zu stolpern oder mit Vergleichen, Folgerungen und Nutzanwendungen an demselben hängenzubleiben. Einige Male wird das letztere freilich doch wohl geschehen.
Ich war mit dem Postwagen in einem hellen, lustigen norddeutschen Städtchen, dessen Namen ich deshalb verschweige, um nicht den Neid und die Eifersucht anderer Gemeinwesen zu erregen, angekommen, hatte zu Mittag gegessen und zwei bis drei Stunden zur vollkommen freien Verfügung, ehe der frische Schwager die frischen Gäule zur Weiterfahrt aus dem Stalle zog. In solchen Fällen widmet sich jeder, der nicht ein Geschäftsreisender ist, einer ganz behaglichen innerlichen Beschaulichkeit, die jedoch bald in eine sonderbare Ruhelosigkeit überzugehen pflegt. Man dehnt sich, man gähnt eine Weile auf der Bank unter der Laube vor dem Gasthofe; man erhebt sich, schlendert die nächste Gasse bis zur nächsten Ecke hinauf, guckt träumerisch auf die verstaubten toten Fliegen hinter dem Ladenfenster eines Krämers und kehrt zurück zu seinem Tische und seiner Bank vor der Tür, um von neuem einen muntern Kampf mit den lebendigen Fliegen des Ortes aufzunehmen. Die meisten Reisenden verfallen nunmehr in ein etwas stupides Hindämmern und ermuntern sich erst wieder, wenn die Pferde angeschirrt werden; ich dagegen, der von vielem Gebrauch macht, was andere Leute verachten, ich erkundige mich nach den nächstgelegenen Merkwürdigkeiten des Munizipiums; natürlich reservatis reservandis, d. h. unter Vorbehalt alles dessen, was der verständige Mann sich eben vorbehält, nämlich ob er die Kuriositäten besichtigen will oder nicht. Ich stellte eine ähnliche Erkundigung also auch diesmal an und kann gerade nicht sagen, daß es mich tief bekümmerte, als der Wirt, ein behaglicher Mann, sich hinter den Ohren kratzte und Merkwürdigkeiten, sei es der Natur oder der Kunst, in seiner Umgebung nicht vorzuführen wußte.
Schon lehnte ich mich mit einem unwillkürlichen Seufzer der Befriedigung zurück in den Lindenschatten, als ein kleines schwarzes Männlein, welches auf der Bank an der andern Seite der Tür saß, eine kleine, kurze schwarze Pfeife rauchte und deshalb von den Fliegen mit hohem Widerwillen vermieden wurde, mich melancholisch ansah und leise und scheu sagte: „Wir haben noch einen Schüdderump. Wenn der Herr den sehen will, so ist er willkommen dazu; und die Zeit langt auch, und ich will, mit Respekt zu sagen, den Herrn hinführen.“
„Ein Schüdderump? Was ist ein Schüdderump?“ fragte ich, von dem Wort ungemein angezogen.
„Gehe der Herr nur mit mir“, sprach der Melancholische noch schwermütiger als zuvor. „Es kostet nichts, als was dem Herrn zu geben beliebt. Ich bin der Totengräber der Stadt, und da des Herrn Forstschreibers Grab fertig und parat steht und der Herr Forstschreiber erst um vier Uhr bei mir arrivieren wird, so langt, wie gesagt, die Zeit für den Postwagen und item für des Herrn Forstschreibers Leichenkondukt.“
Ich rückte auf der Bank. Dieser kleine Schwarze, der diese beiden Fahr- und Reisegelegenheiten so gleichgültig und mit so trübsinniger Verständigkeit zusammenbrachte, wurde mir ganz unbehaglich; allein der Grundstoff unseres Gespräches gewann dadurch an Interesse. In welcher Verbindung stand der Schüdderump mit dem Herrn Forstschreiber? Stand der Herr Forstschreiber in irgendeiner Verbindung mit dem Schüdderump? Ich brachte eine ganze Reihe ähnlicher Fragen dadurch zum Abschluß, daß ich aufsprang, den Hut ergriff und meine Meinung dahin aussprach: ich sei fertig und parat für den Schüdderump. Da aber sah mich der Melancholische bedenklich von der Seite an, schüttelte das Haupt und flüsterte, während er Feuer für seine Pfeife schlug: solches wolle er nicht verhoffen; aber er sei bereit für mich. – Damit gingen wir quer durch einen Teil des Ortes der Kirche zu.
Hinter der Kirche befand sich der Kirchhof; dicht am Kirchhofe lag meines Begleiters Amtswohnung, und dicht neben meines Begleiters Amtswohnung war ein uraltes steinernes Gewölbe, abgesperrt durch eine rostige, schwarze eiserne Gittertür. Diese Tür schloß der Traurige auf, deutete in den dunkeln Raum und sprach unheimlich hohl:
„Da steht er!“
Und mit unheimlichstem Behagen fügte er hinzu:
„Und jedermann muß sagen, daß er eine große Merkwürdigkeit ist und für jedes Mausoleum eine große Ehre wäre!“
Da stand er wirklich – ein hoher, schwarzer Karren auf zwei Rädern, mit einem halb erloschenen weißen Kreuz auf der Vorderwand und der Jahreszahl 1615 auf der Rückwand. Mein Begleiter legte zärtlich die Hand darauf und sprach:
„Trete der Herr nur näher; man sagt, und es steht auch davon geschrieben, er sei der einzige in der ganzen Welt. Anno 1665 ist er zum letzten Male gebraucht worden – sieht der Herr – so!“
Und der heitere Bursche zog den Karren herum, schlug einen Riegel weg, und die abscheuliche Maschine tat einen Ruck und kippte über und schüttete eine imaginäre Last von Pestleichen in die Grube.
„He, he“, kicherte der Alte. „Was sagt der Herr dazu? Das war bequem und ersparte unsereinem manche Arbeit – was? Ei freilich, vor zwei Jahren in der Cholerazeit, da hätten wir ihn beinahe wieder hervorgeholt und zu Ehren gebracht; aber der löbliche Magistrat und der Kirchenrat und am allermeisten die hochlöbliche Bürgerschaft fürchteten sich allzusehr vor ihm, und so blieb’s, wie’s war, und unsereiner hatte die Plackerei davon. Ein gut Stück Arbeit hätt er uns gespart. Will der Herr vielleicht einmal die Maschinerie selber probieren? Ich versichere den Herrn, es ist bequem für beide Parteien.“
Ich dankte herzlich, aber mit unverhohlenem Schauder für das Vergnügen und gab ein reichliches Trinkgeld, um alle ferneren Anmutungen dadurch abzuschneiden; allein es freute mich doch, daß ich von nun an ganz genau wußte, was ein Schüdderump sei, und ich hielt ihn in der Tat für eine große Merkwürdigkeit. Jetzt sah ich noch einen Augenblick in die Grube des Herrn Forstschreibers, die neben dem Hügel seiner seligen Frau gegraben war; dann blies vor der Posthalterei der Schwager, ich eilte zurück, stieg ein und fuhr ab und weiter durch Wiesengrün und Sonnenschein der Goldenen Au entgegen, aber den Schüdderump behielt ich für immer im Gedächtnis. Ja für immer, und trotzdem daß auch ich in meinem Leben mancherlei sah, hörte und bedachte, was dem uralten Gespenst durch lebendigen Schrecken und Schmerz wohl ein Paroli bot!
In mancherlei Glanz und Licht sah ich seinen Schatten fallen, in allerlei Flöten- und Geigenklang vernahm ich sein dumpfes Gepolter, und manch einen herzerfrischenden braven Wunsch, aber auch verschiedenes andere wurde ich von der Seele los, indem ich wie jener kleine schwarze Mann die Kette aushob, den Karren überkippte und die Last hinabrutschen ließ in die große, schwarze, kalte Grube, in der kein Unterschied der Personen und Sachen mehr gilt. So ist mir der Schüdderump allmählich zum Angelpunkt eines ganzen, tief und weit ausgebildeten philosophischen Systemes geworden, und es würde mich recht freuen, wenn ich im Laufe dieses Buches einige Anhänger, Schüler und Apostel für mein System heranbildete.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Schuedderump