Abschnitt. 1

Der seltsame Nebel, der, so weit sein Reich ging, jedermann betäubte oder aufregte, hatte auch an Tonie Häußler seine Macht nicht verloren. Sie bekam kein Kopfweh wie Fräulein Adelaide, aber sie fühlte sich unruhig, beängstigt und verspürte eine rechte Lust zum Weinen, ohne zu wissen weshalb und ohne ihr nachzugeben. Im Gegenteil, sie nannte sich selber ein dummes Närrchen, warf all die lustigen und traurigen Melodien, die ihr in den Sinn kamen, in einen Reihen oder Leich zusammen und trug im Tanzschritt ihre Laterne über den Hof zur Mamsell Molkemeyer, um ihr ihre Hülfe anzubieten.
Doch die Mamsell war sehr ungnädig und sagte: „Kind, tu, was du willst, nur geh mir aus dem Wege! Gebrauchen kann ich dich jetzt nicht.“
Dasselbe hatte bereits die gnädige Frau gesagt und hinzugefügt:
„Tonie, du siehst müde und matt aus; geh zu den Alten oder suche dir sonst einen stillen Winkel aus; für heute sollst du Ruhe haben.“
Aber heute einen stillen Winkel auf dem Lauenhofe zu finden, das war eine Kunst; in den beiden einzigen, welche es an diesem Abend gab, hatten sich die beiden „Alten“ bereits verriegelt, und selbst den Chevalier hätte Tonie an diesem Abend nur ungern in seiner Ruhe gestört. Da trug sie denn ihr Laternchen aus dem Bezirk der Mamsell Molkemeyer weiter und trug es in den nächtigen Garten.
„Es ist das beste, ich hole mir noch einen Strauß“, sagte sie; „einen Strauß für den Tisch; sie haben doch alle ihre Freude dran, und es ist so bald vorbei damit. Sie waren alle heute so vergnügt und ich auch; ich habe mit ihnen gelacht und gesungen, aber so recht gefreut habe ich mich doch nicht. Nun liegen die Felder wieder leer hinter uns, ich sah hoch vom Wagen durch den häßlichen Dunst, weiter als sie alle; es war alles leer, und deshalb war ich traurig selbst unter der Erntekrone. Ja, ich hole mir und ihnen noch einen Strauß von lebendigen Blumen; wenn auch nur der Ritter darauf achtet, so ist’s gut und genug.“
Sie nahm ihr Lämpchen auf und gelangte durch eine Seitenpforte in den Garten, und hier unter den alten hohen Bäumen war es finsterer als sonstwo. Tonie Häußler ließ schnell die hohen rauschenden Wipfel hinter sich und warf im Vorübereilen nur einen scheuen Blick an den Stämmen empor, wie der Schein ihrer Laterne an ihnen vorbeiglitt und an ihnen in die Höhe lief. Sie hätte unter ihren Blumen selbst ohne ihr Laternchen Bescheid gewußt; schon hatte sie zierlich ihre Kleider zusammengefaßt und schlüpfte zwischen den feuchten Buchsbaumeinfassungen der Beete hin. Nun kauerte sie unter ihren Lieblingen, stellte ihr Licht mitten in einen vollen Asternbusch und sagte lächelnd:
„Das ist meine Ernte.“
Sie pflückte zur Rechten und Linken und im Kreise umher und hielt jede Blume in den Lampenschein, ehe sie dieselbe den Schwestern in der linken Hand hinzufügte. Sie neigte das hübsche Haupt zur Rechten und zur Linken und summte leise ihre Melodien fort; doch der fröhlichen wurden leider immer weniger, und die melancholischen gewannen bald ganz und gar die Oberhand.
Jetzt betrachtete die Sängerin ihren Strauß, und dann trug sie ihre Laterne zu einem anderen Beet, kauerte von neuem nieder, aber sang nicht weiter. Ganz ängstlich blickte sie nun über die Schultern und sagte leise lachend:
„Man sollte meinen, ich wolle mir selber Mut machen mit dem Singsang! Ei Tonie, fängst du an, dich vor der Nacht und dem Höhenrauch zu fürchten? Das wäre noch besser, und nun hältst du dir selbst zum Trotz den Mund und kümmerst dich um nichts.“
Das war leicht gesagt, aber schwer getan, denn der Strauß war noch lange nicht fertig, und an Stelle der Liedersätze kamen die Gedanken, und leider Gottes kamen sie gleich von Anfang an trüb und auf schwermütigen Fittichen.
„Ein Vogel sollte doch noch wach geblieben sein um mich, das wäre freundlich gewesen“, meinte Tonie, aber sie meinte auch: „Freilich, das ist keine Stunde und keine Witterung für sie, und dann – wie viele sind schon fortgezogen! Ich will mich gleichfalls beeilen, daß ich wieder zu meinesgleichen komme; selbst die buntesten Astern fangen an, mir Gesichter zu ziehen, und ich traue ihren Farben nicht. Ach Gott, ist das nicht, als ob meine Blumen aus dem Gespensterreich aufwüchsen? So, da und da und nun noch die dort aus der Mitte – komm, Liebchen, ich bringe dich zu Freunden! Jetzt bin ich fertig, und das ist gut, und nun wollt ich, ich hätte die große Kastanienallee schon hinter mir und könnte mein Lämpchen in Sicherheit ausblasen.“
Sie erhob sich, ordnete ihren Strauß ein wenig handgerechter und sprach ruhig-nachdenklich:
„Wer eben freien Eintritt in meine Seele erhalten hätte, der würde allen Hausrat in arger Verwirrung drin gefunden haben und müßte einen herrlichen Begriff von mir mit fortnehmen! O Tonie Häußler, schäme dich und stifte mir hier auf der Stelle Ordnung!“
Sie ging noch nicht. Sie stand still und ließ auch die Laterne am Boden.
„Wie schnell heute der Rauch herankam! Sie hatten mich eben auf den Wagen unter die Krone gesetzt, und eben schien noch die Sonne über die Stoppelfelder, da rollte er heran und fraß alles – Farben, Licht und Stimmen!... Wie habe ich mich heute wieder über den Pastorenfranz geärgert! Ja, ohne den wäre ich ganz glücklich auf dem Lauenhofe, aber es soll niemand ganz glücklich sein. Ohne den Buschmann wäre ich gewiß zu glücklich und vergäße sicherlich alles, was ich doch stets im Gedächtnis behalten muß; er sagt mir jeden Tag, woher ich komme, und das ist sehr gut.“
Jetzt ordnete sie ein wenig an ihrem Blumenstrauß.
„Ei, ei, ich glaube, ich bekomme Nerven wie das gute Fräulein; aber es ist nur der dumme Nebel daran schuld. Der Franz Buschmann ist nicht schuld daran; da hilft mir der Chevalier, jaja, der Herr Ritter!“ Und mit den hellen Tränen in den Augen fing sie von neuem an, leise zu summen, und zwar:

„En partant, reçois le seul gage
Que je possède encore ici,
Ce bouquet de rose sauvage,
De violette et de souci.“


Das war närrischerweise aus dem schönen Liede, welches schon in früheren Jahren Adelaide von Saint-Trouin so gern sang, und paßte weder zu den Spätsommerblumen in der Hand der Sängerin noch sonst in den jetzigen Augenblick; aber:

“L’églantine est la fleur que j’aime,
La violette est ma couleur,
Dans le souci tu vois l’emblème
Des chagrins de mon triste cœur;

und jetzt bring ich meine Ernte, meinen Strauß meinen eigenen Anverwandten, und der Herr Ritter wird mich darum nicht weniger liebhaben!“ schluchzte Tonie Häußler.
Hastig ergriff sie die kleine Laterne, faßte ihren Strauß fester und drückte ihn gegen den Busen. Im Lauf durchmaß sie die gewundenen, jetzt so dunkeln Kieswege des Gartens, gelangte von jener Terrasse mit dem chinesischen Pavillon auf die Landstra
ße und eilte dem Kirchhofe dicht neben dem Siechenhause von Krodebeck zu. Sie, welche eben so scheu und ängstlich in die sie umgebenden Schatten sah, welche sich vor dem Rauschen der Bäume fürchtete, sie fürchtete sich nicht mehr zwischen den Gräbern ihrer Anverwandten. Sie wand sich zwischen den Hügeln, Kreuzen und tauigen Sträuchern durch bis zu den beiden Gräbern im Winkel, die ihr gehörten. Da stand sie und teilte ihren Blumenstrauß und gab der Mutter ein Teil und der Pflegemutter das andere.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Schuedderump