Achtzehntes Kapitel.

Sechs Jahre hintereinander kam Hennig von Lauen viermal jährlich, nämlich zu Weihnachten, Ostern, Pfingsten und in der Erntezeit, heim von der Schule zu Halberstadt nach Krodebeck, ohne daß sich während dieser Periode etwas anderes Verwunderungswürdiges zugetragen hätte als das ewige große Wunder, daß alle Dinge, lebendige und tote, älter werden, und die Welt doch jung und gesund bleibt. Daß er das an sich selber nicht merkte, war kein Wunder, sondern ein Glück der Jugend; in dieser Hinsicht fühlt das Alter feiner und klammert sich um so fester an der Erde ewig junge Schönheit.
Der Chevalier und Fräulein Adelaide bemerkten sicher das Winken des fleischlosen Fingers, den eiskalten Hauch, der sie dann und wann aus dem grünsten Walde, von der sonnigsten, blumigsten Wiese anwehte; auch in den braunen Flechten der gnädigen Frau zeigten sich silberweiße Streifen, und nur Jane Warwolf aus Hüttenrode trat unverändert einher, als ob die Zeit über sie keine Macht habe. Die Gräber von Hanne Allmann und der schönen Marie auf dem Kirchhofe des Dorfes wurden von Gras und Gebüsch überwuchert, sanken ein und verschwanden aus dem Gedächtnis der Leute wie die Gräber berühmterer Leute, die soeben hie und da von ratlosen Komitees im Schweiße des Angesichts gesucht wurden, da allmählich die Zeit der Bronze für die erlauchten Toten gekommen war.
Da nun weder Hanne Allmann noch die schöne Marie zu den erlauchten Toten zu rechnen waren, so wäre nicht abzusehen, weshalb gerade ihretwegen, und noch dazu so bald nach ihrem Abscheiden, ein Ausschuß sollte zusammengetreten sein, um ihre Ruhestätten in Ordnung zu halten; es besorgte das doch Jane Warwolf so gut als möglich. Diese passierte nie das Dorf Krodebeck, ohne ein Viertelstündchen auf einem der beiden Hügel auszuruhen und mit ihren harten Händen und ihrem Wanderstabe unter die Nesseln und Ranken zu fahren. Glitt doch auch Antonie wohl im Abendnebel daran vorüber oder stand daneben einen Augenblick still, um eine Rosenknospe oder einen Strauß Waldblumen darauf zu werfen, ehe sie wieder hinter den Hecken des Lauenhofes verschwand! Sie aber stand jetzt glücklicherweise zu reich beschattet und umduftet von den Blütenzweigen ihres kurzen Lebens, um mehr als einen flüchtigen Augenblick stillen, aber nicht schmerzvollen Traumes für die trübe, ängstliche, verworrene Vergangenheit übrig zu haben.
Denn als die Zeit gekommen war – wie denn für alles Gute und alles Böse einmal das Siegel von den Augen, Ohren und Lippen der Welt fallen muß! –, da staunten alle Leute, was für ein schönes Mädchen aus dieser Antonie Häußler geworden sei, und selbst die Übelwollenden, deren nicht wenig waren, mußten zugeben, daß Krodebeck augenblicklich sonst nichts dergleichen aufzuweisen habe. Die, welche sich ihrer Mutter in deren vollster Pracht noch erinnerten, behaupteten freilich, die Marie Häußler sei noch schöner gewesen, allein da fragte es sich denn doch, ob solches möglich sei; und die, welche die schöne Marie nicht gekannt hatten, mochten mit vollem Rechte behaupten, es sei nicht möglich. Aber auch noch nie hatte eine junge Dirne des Ortes unter solcher scharfen Aufsicht des Dorfes gestanden als dieser Schützling des Lauenhofes. Überall, überallhin folgten ihr die Seitenblicke und das Geflüster und das leise Lachen hinter vorgehaltener Hand, und aus welchem Blut und Zustand sie stammte, das merkte man klar an ihrem scheuen Wesen, das niemandem gerade ins Gesicht zu blicken sich getraute, an ihrem bösen Gewissen, das jedermann aus dem Wege wich, und vor allen Dingen an der kuriosen Hartnäckigkeit, mit der sie an der „anderen Vagabundin“, der Jane Warwolf, trotz ihrem närrischen, unverdienten und unverschämten Glücke festhielt. Wenn man alles recht bedachte, so war dieses Mädchen trotz seinem hübschen Gesicht und schlanken Wuchs doch nur eine Schande für die Gemeinde und alle ordentlichen Leute. An das aber, was für den Lauenhof aus dieser Grille der beiden alten Fratzen, nämlich des Herrn Leutnants und des französischen Fräuleins, entstehen mußte, mochte man gar nicht denken. Daß das Fräulein längst für das Tollhaus reif sei, habe man freilich schon gewußt; aber dem Herrn von Glaubigern habe man doch mehr Verstand und Einsicht zugetraut. Daß die gnädige Frau es sich bieten lasse, sei kurzweg unbegreiflich; ja die sei sogar die Verblendetste, der Pastor Buschmann habe das zu seinem Schaden und tiefen Kummer erfahren, als er seine Pflicht getan und, wie es sich schicke, geredet habe; der mische sich nicht mehr darein, so wenig als irgendein anderer in Krodebeck, und man könne es ihm nicht verdenken.
So war es in der Tat! – Tonie Häußler behielt eine tiefe, unauslöschliche Neigung zur Jane Warwolf und allem, was mit ihr, ihrem Leben, Wesen, Wandern und Treiben zusammenhing. Die gute Frau konnte nicht kommen, ohne daß Tonie, gleich als habe sie eine Ahnung ihres Nahens, sie auf einem Stein an der Landstraße oder im Walde erwartete; sie konnte nicht gehen, ohne daß das junge Mädchen sie stundenweit, sei es auf ihrem Wege gegen die Harzberge oder in das flache Land hinein, begleitete. Wenn sie nach ihrer Gewohnheit den Wanderstab für eine Nacht auf dem Lauenhofe in die Ecke setzte, so war Tonie Häußler ihre treueste Genossin und aufmerksamste Zuhörerin. Und alles dieses war leider Gottes der einzige Kummer, der noch dazu zum größten Teil nur der Kummer der Eifersucht war, welchen das Kind dem Fräulein Adelaide von Saint-Trouin und allen seinen hohen Ahnen bis zu Johann von Brienne, dem Fürsten von Tyrus und Kaiser von Konstantinopel, hinauf bereitete. Und noch dazu hatte das Dorf Krodebeck nicht einmal die Gewißheit, daß sich der Papst Honorius der Dritte darüber im Grabe umwende!
Außer dieser Hinneigung zum Gemeinen fand das gnädige Fräulein nichts an Antonie Häußler auszusetzen. Das Schicksal rächte die schöne Marie durch ihr Kind vollständig an der alten Feindin und Verderberin, und zwar in einer Weise, deren es sich viel häufiger bedient, als man gewöhnlich glaubt. Das gnädige Fräulein unterlag den eigenen Maximen, Ansichten und Lehren, indem die Schülerin mit denselben und durch dieselben hoch über die Lehrerin sich erhob und sie zwang, verwirrt, beschämt und zweifelnd vor dem Wunder, das sie als ein Werkzeug in mächtigerer Hand hervorgerufen hatte, dazustehen. Was bei Adelaide von Saint-Trouin als beklagenswerte oder lächerliche Verzerrung auftrat, das erschien in Antonie Häußler als süßester Reiz; was bei dem Fräulein ein krankhaftes, kindisch unverständiges Abzappeln aus einem unbegriffenen Zustande nach dem anderen war, das wurde in Tonie zu dem stillen, tiefverborgenen Heimweh, der melancholischen Sehnsucht nach Ruhe und Licht, die allein nur, und auch nur in vereinzelten Momenten, das Reich der Ruhe und des Lichtes in der Seele des Menschen aufbaut.
Diesmal hatte der Ritter von Glaubigern recht seine Freude an den pädagogischen Siegen seiner alten Freundin. Da gab es kein Achselzucken und Kopfschütteln mehr; sein Behagen stieg von Tag zu Tag, der Comenius verstaubte im Winkel, und mit lustig ausgebreiteten Fittichen folgte der Chevalier den seltsamsten Flügen der Chevalière.
„Jetzt sind sie beide närrisch! O mein Himmel, muß ich das noch an dem Alten, an dem Leutnant erleben!“ rief die gnädige Frau. „Unter den Händen ist er mir toll geworden, und am Ende hab ich noch gar meine Freude daran; denn da müßte man ja blind sein, um nicht zu sehen, wie wohl ihm bei seiner Narrheit zumute ist.“ –
Die Frau Adelheid hatte nie in ihrem Leben in irgendeiner Behauptung so vollkommen recht gehabt wie hier. Der Ritter Karl Eustachius von Glaubigern war nicht nur rein verrückt in seinen Beziehungen zu der Erbschaft der Hanne Allmann aus dem Krodebecker Armenhause, sondern es war ihm wirklich wohl in seiner Verrücktheit. Ihm war nie während seines Lebens so wohl zumute gewesen.
Wir wissen, daß er ein armer Mann war, daß er gleich dem Fräulein von Saint-Trouin in Abhängigkeit von dem Vermögen und Wohlwollen anderer, wenn auch anständiger Menschen auf dem Lauenhofe wohnte. Daß der Lauenhof ohne ihn durchaus nicht zu denken war, daß er, der Ritter, bei weitem mehr gab, als er empfing, und daß die gnädige Frau in allen Stücken ihn gern, willig und meistens mit Tränen der Rührung in den Augen als ihren Herrn und Meister anerkannte, änderte hieran nichts.
Wir wissen auch bereits, daß er ein sonderbarer Mann war, der sich mühselig an der Welt abquälte und in stiller, ununterbrochener Arbeit auf eigentümlichen Umwegen ihren Geheimnissen beizukommen strebte. Er hatte nicht nur die Frau Adelheid und den Junker Hennig, sondern auch sich selber erzogen, und an dem letztern Gegenstande putzte, zog, schnitzelte und schabte er noch immer ununterbrochen herum. Es war ein großer Pädagog an ihm verlorengegangen, aber ein fast noch größerer Philosoph gewonnen worden, und das war kein Wunder, daß er im Verlauf seines Lebens manchen bittern Kern aus der Hülse abgegriffener, ganz behaglicher Gemeinplätze löste. Nicht wie andere Erdgeborene begnügte er sich damit, zu seufzen: es ist ein elendes Dasein! sondern er fragte dabei nach dem Warum, und das ist unter allen Umständen ein zwar recht verdienstliches, jedoch zugleich sehr mißliches Ding und häufig schmerzhafter als dieses elende Dasein selber. Und er gehörte durchaus nicht zu den wenigen Ausgewählten, den Glücklich-Unglücklichen, denen ein großes Ziel, ein hoher Zweck gegeben wurde, um sich daran und darnach zu Tode zu ringen. Aber wie sich die Sonne des höchsten Genius gewöhnlich in den weihevollsten Stunden hinter dem trüben Gewölk der Wirklichkeit verbirgt und, wie das Volk sich auszudrücken pflegt, – Wasser zieht, so konnte auch seine Seele Wasser ziehen, und das Volk von Krodebeck und der Umgegend bemerkte es auf der Stelle und meinte:
„Ist dem auch mal wieder der Buchweizen verhagelt? Der hat doch wahrhaftig keinen richtigen Grund, um das Maul zu verziehen!“
Seine beste Freundin aber, die Frau Adelheid von Lauen, sagte höchstens:
„Laßt ihn! Es hat ein jeder seine kuriosen Stunden, und so muß man sie auch dem Alten gönnen. ‘s wird sich schon wenden. Munter!“
Ja munter! Alle jene, welche dem Chevalier von Glaubigern jede Berechtigung zur Melancholie absprachen, hatten recht, und die gnädige Frau hatte gleichfalls recht, und der Herr Ritter hatte sehr unrecht, sich durch die unbegreiflichsten, nichtsnutzigsten Lappalien die behaglichsten Tage ganz mutwillig zu verderben. Wahrlich, es ist niemand verpflichtet, seinen Lebenstag dem des andern unterzuordnen, wie niemand verpflichtet ist, über einen Gewinn außer sich zu geraten, den vielleicht erst eine ferne Zukunft auf ihrem Wege findet.
„Haben Sie Geduld mit mir, Frau Adelheid“, sagte der Ritter. „Mir ist wieder einmal ganz wie dem Oliver Cromwell zumut gewesen.“
„Von dem Menschen hab ich noch nie etwas gehört“, antwortete die Gnädige.
„Nun, er war ein gewaltiger Kriegsmann und Regent, aber auch zuweilen voll finsterer Phantasien und voll Sorgen um Vergangenes und Zukünftiges. Und als es mit ihm zum Sterben ging, da hat er seinen Leibpastor gefragt, ob ein Mensch, der einmal in der Gnade Gottes gewesen, je wieder aus derselben herausfallen kann. Nein! hat der Pastor geantwortet, und das hat dem Cromwell merkwürdig wohlgetan, und meine Meinung ist, daß die Geschichte für jedermann paßt, denn in der Gnade waren wir alle einmal, wenn wir nur immer an den dunkelen Tagen daran denken könnten.“
„Das ist in der Tat eine vortreffliche Geschichte, Liebster, und sehr brauchbar in allen möglichen Ärgernissen“, meinte die gnädige Frau und fügte dann wie gewöhnlich hinzu: „Verlassen Sie sich darauf, Glaubigern, ich werde sie mir merken; aber jetzt tun Sie mir auch den Gefallen und führen Sie das Frölen ein wenig in die frische Luft. Die gute Seele liegt mir seit einigen Tagen gleichfalls wieder schwer auf der Seele und dem Leibe.“
„Mit Vergnügen!“ sprach dann der Chevalier, doch er hätte hinzufügen können:
„Wahrlich, es geht keine Müdigkeit über die des Starken und Tapfern!“ – –
Jetzt führte der Herr von Glaubigern mit dem gnädigen Fräulein die Tonie Häußler spazieren, und die Stunden der Gnade, die ihm in den sechs Jahren, von denen hier die Rede ist, zuteil wurden, folgten einander immer lichter und lieblicher auf dem Fuße. Zwischen seiner braven und sehr gescheiten Pedanterie und der Rokokozierlichkeit des Fräuleins von Saint-Trouin wurde das Kind aus dem Siechenhause zu einer feinen Jungfrau und zu einer Dame im höchsten Sinne des Wortes; denn Mutter Natur ging glücklicherweise auch mit allerwegen und ließ ihr Kind nicht aus den Augen. Nun mochten die Schalmeien und Jagdhörner der Königin Marie Antoinette klingen, wie sie wollten: der Chevalier fand nichts daran auszusetzen; ja er fand sogar selber ein still inneres, träumerisches Behagen daran. Er hatte nichts dagegen, daß seinem jetzigen Liebling die oft so graziösen Nebelbilder verlorenen Glanzes und untergegangener Sitte vor der Phantasie vorübergaukelten.
„Sie wächst in allen Dingen in die Anmut hinein!“ rief er. „Die Blüten schlagen über ihrem Haupte zusammen. Und man spricht von der Armut der Erde, während so etwas auf ihr möglich ist! Alles begreift sie auf den ersten Wink – Herrgott, und wenn ich daran denke, wie der Bursch, der Hennig, der Esel, mir und sich den hellen Angstschweiß über denselben Wissenschaften ausgepreßt hat, so möchte ich ihr zu Ehren den Jungen heut noch rechts und links ohrfeigen! Und sie allein darf das Frölen Frölen nennen, ohne auf der Stelle zu Asche zu werden! Es ist ein Wunder, ein Wunder, ein Wunder – ein Wunder! Sie ist die Lehrerin, und wir sind die Schüler. Achtundsechzig Jahre bin ich alt geworden und habe mich abgequält, um zu erfahren, was mir fehle: bis sie gekommen ist, um es mir und um es uns allen zu sagen. Denn allen hat das gefehlt, was sie nach Krodebeck bringt, sie haben sich nur nicht gleich mir gemüht und abgeängstet.“
Daran mußte wohl etwas Wahres sein; es war jedenfalls ein Vergnügen, zum Exempel auf die Gefühle und die Mimik der gnädigen Frau in dieser Hinsicht zu achten. Wenn die schlanke Gestalt des jungen Mädchens mit holdem Lächeln sich ihr entgegenbeugte oder an ihr vorbeischritt, so war das Mienenspiel der Frau Adelheid ungemein drollig anzuschauen. Sie sah ihr entgegen, sie sah ihr, fast verstohlen, seitwärts ins Gesicht, sie sah ihr nach, und dann – ja, dann schien sie noch lange nicht fest überzeugt zu sein, recht gesehen zu haben, und die Ausrufe, in welchen sich dieser Gemütszustand Luft machte, waren nicht weniger seltsam als ihre Gebärden.
„Sie wächst mir in allen Dingen aus meinem Leben hinaus!“ rief die Gnädige kopfschüttelnd. „Hätte ich die Angst nicht um das, was daraus werden mag, so würde ich es mir nur allzugern gefallen lassen. Jaja, Mamsell Molkemeyer, es ist gar nicht beneidenswert, unter lauter Narren und Phantasten allein die Augen klar und verständig offenzuhalten.“
„An Ihrer Stelle, gnädige Frau, schickte ich die Jungfer morgen aus dem Hause“, sprach die Mamsell, worauf die Frau von Lauen mit einem unbeschreiblichen Blick auf ihre Vertraute erwiderte:
„Dann würden Sie mit der Familie Buschmann freilich wohl das Reich auf dem Lauenhof allein haben. Ich glaube, wir zögen ihr alle nach, und was mich anbetrifft, so könnte ich schon des Anstands halber nicht zurückbleiben, da der Herr Ritter den Zug anführen würde. Übrigens, Mamsell, verfügen wir uns für jetzt zu unseren Käsen zurück, wie der Herr von Glaubigern sagen würde, Sie alberne Person.“
Über die Blicke, das Flüstern und das halbverlegene Kichern des Dorfes Krodebeck haben wir bereits das Nötige gesagt und könnten darüber schweigen, wenn nicht auch hier das Wunder eingetreten wäre, daß Antonie Häußler im Spiel des Zeus mit der Welt die beste Hand erlangte. Einen Teil des Dorfes, als dessen Protagonist der Pastorenfranz gelten konnte, jagte sie in Furcht, und den andern gewann sie einfach durch ihre Liebenswürdigkeit; – die Gleichgültigen kamen hier wie überall nicht in Rechnung. Die Menschen finden sich in den Willen der Götter viel leichter, als sie je zugestehen werden; die allerhöchsten Herrschaften erfreuen sich eben eines sehr lauten und herzlichen Gelächters, wie man auf Erden aus alten und neuen Historien zur Genüge lernen kann. Wir, mit einer umfangreichen Erfahrung in dieser Hinsicht – was nämlich das Lachen der Götter anbetrifft – begnadet, finden durch dieselbe leicht den Weg zu der Schicksalsverknüpfung des Kindes aus dem Siechenhause mit dem Junker Hennig von Lauen, einem Verhältnis, dessen Bedeutung wohl nicht zu verkennen ist.
Die jungen Leute waren nicht immer eines Sinnes während ihres zeitweiligen Zusammenlebens, wie man solches auch von den besten Kameraden nicht verlangen kann. Aber sie waren oder wurden vielmehr gute Kameraden in der vollsten Meinung des Wortes. In den ersten Jahren von Hennigs Schulleben zankten sie sich um alles und jedes sowohl innerhalb als außerhalb der Mauern des Lauenhofes, jedoch am meisten außerhalb derselben, und dem Pastorenfranz ließ sich gerade nicht nachrühmen, daß er beflissen gewesen sei, die Steine des Anstoßes ihnen aus dem Wege zu räumen – im Gegenteil.
Aber in allen den häufig wiederkehrenden Stunden und Tagen, in welchen das zärtliche Verhältnis des Junkers zu dem Pastorenfranz auf dem Nullpunkt stand, bedauerte Hennig auf das innigste, daß Tonie Häußler kein Knabe sei, damit man ein ewiges Freundschaftsbündnis mit ihr schließen und den Franz für ewige Zeiten seinem Schicksal überlassen könne. In allen den Tagen, in welchen die alte Freundschaft zum Franz in gewohnter Blüte stand, hatte Hennig weniger dagegen einzuwenden, daß sie ein Mädchen sei und bleibe, zumal da sie in dieser Form und Erscheinung häufig genug sehr nützlich war, um vor der Mama, dem Herrn von Glaubigern und dem „Frölen Trine“ für manche Dinge und Angelegenheiten als freundlicher Schutzgeist einzustehen, für welche der Junker trotz allem Kopfzerbrechen und allen Schulbubenausflüchten so leicht keine Entschuldigung gefunden hätte. Man ist ja dem, der mit sanft abwehrenden Händen zwischen Schuld und Sühne tritt, immer dankbar, wenn es gleich jedermann dringend anzuraten ist, seine Rührung und Dankbarkeit ja nicht laut und naiv merken zu lassen. Hält man in solchem Fall den Mund und hält man die Träne zurück, so zeigt man erstens Charakter und kann zweitens, im Fall der andere je in ähnlicher Art unseres Beistandes bedürfen sollte, viel ruhiger und stoischer das Schicksal walten und der ewigen Gerechtigkeit freien Lauf lassen.
Doch jede Vakanz, die Hennig in Krodebeck zubrachte, verlängerte die jedesmalige Dauer des Einverständnisses zwischen ihm und dem jungen Mädchen und verringerte in demselben Verhältnis die freundschaftlichen Neigungen zu dem armen Franz Buschmann. Als Tonie Häußler sechzehn und Hennig achtzehn Jahre alt geworden waren, gab es kaum noch irgendwelche Schatten zwischen ihnen, und – „das habe ich immer gefürchtet, und das ist mir das fatalste bei der ganzen Geschichte, und jetzt mag der Ritter beweisen, daß er jede Verantwortung auf sich nimmt!“ sagte die gnädige Frau.
Sie hatte leider nicht den geringsten Grund zu ihren Befürchtungen; die Götter schufen sich eben nur einen Grund zum Lachen, und – wer will ihnen das verdenken in ihrer langweiligen ewigblauen Seligkeit? – Daß dieses Lachen nicht immer das angenehmste ist, wird auch das Ende dieses Teiles lehren. Wenn aber die Götter den Ihrigen alles Gute im Traum verleihen, so gehörte Hennig in dieser Zeit zu ihren bevorzugtesten Lieblingen. Was er unmittelbar von dem Chevalier und dem Fräulein von Saint-Trouin nicht hatte annehmen wollen und können, das nahm er zum größten Teil von Antonie gern und willig hin. Er fand, daß es gar nicht übel und im letzten Grunde ein gar nicht unberechtigter Wunsch der beiden Alten gewesen sei, daß er das Leben ein klein wenig mit Zierlichkeit anzufassen sich befleißige, und so suchte er mehr und mehr in Gegenwart des jungen Mädchens selbst Bäume und Felsen mit Zierlichkeit zu erklettern. Er stolperte jetzt längst nicht so oft wie früher über seine eigenen Füße; er schämte sich eben vor dem leichtfüßigen guten Kameraden und ärgerte sich zu sehr an dem Pastorenfranz, der in den heimatlichen Gefilden stets eine Ehre dreinsetzte, sich so rüpelhaft als möglich aufzuführen.
Das war alles damals! – Damals schien die Sonne in der rechten Weise; damals machte der Regen auf die rechte Art naß. Damals vernahm das junge Ohr noch nicht das dumpfe Rollen in der Ferne, bei dessen Ton die Alten stehenbleiben, stutzen und schweigend horchen. Die Räder des goldenen Wagens, auf dem Oberon und Titania über die Welt fahren und dann und wann auch wohl ein begünstigtes Menschenkind als blinden Passagier mitnehmen, glänzen, aber sie poltern nicht wie die Räder jenes anderen, schlimmen Karrens, der nur blinde Passagiere befördert und dessen Lenker sich wenig darum kümmert, wie tapfer Hüon und wie schön Rezia ist.
Sie erlebten große Wunder in all der Unbefangenheit, die eben dazugehört, um Wunder zu erleben. Der Glaube, welchen das alte Fräulein von Byzanz so lange festgehalten hatte, daß nämlich die Welt ein Zaubergarten von Rechts wegen sein müsse, stand für die jungen Leute als erster und letzter Glaubensartikel unumstößlich fest, und sie hatten ihn nicht einmal wie Fräulein Adelaide von Saint-Trouin in den schlimmen und schlechten Anfechtungen des Tages mühevoll festzuhalten; denn sie stellten sich unter einem Zaubergarten doch etwas anderes vor als jenes Paradies, aus welchem der Papa der würdigen Dame vordem emigrieren mußte. Von allen Fluren und Hügeln, aus allen Wäldern Krodebecks rund um sie her, erscholl ihnen tausendstimmig das Kredo der Jugend. Aus jedem Buche, welches sie lasen, lachte ihnen das Wunder entgegen. Bei Gott, sie waren nicht so dumm, sich mit dem Herrn von Florian und der Frau von Genlis zu begnügen. Sie begnügten sich nicht einmal mit der Bibliothek des Herrn von Glaubigern und den Herren Schiller und Goethe, denn da hätte es doch keine Leihbibliotheken in Halberstadt geben müssen. Der Chevalier und das Fräulein erfuhren längst nicht von jeder Lektüre, die Meister Hennig verstohlen herbeischaffte, und als echten Kindern der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts behagte ihnen – d. h. nicht dem Chevalier und dem Fräulein – die Lyrik und der Roman der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts ungemein, und sie erlitten durchaus nicht den ästhetischen und moralischen Schaden dadurch, welchen sehr ehrenwerte Leute nicht voraussagen werden, weil sie auch diese Erzählung nicht lesen.
Viel größeren Schaden als alle Lektüre hätte ihnen aber fast der junge Gottesgelehrte Franz Buschmann getan. Er erlebte kein Mirakel in Krodebeck, und so setzte er natürlich auch alles daran, bei den andern den Glauben daran zu untergraben; nur gelang es ihm glücklicherweise nicht ganz so, wie er wünschte. Die Unbefangenheit der armen Tonie zerstörte er freilich allmählich, und er schien kein größeres Vergnügen zu kennen, als sie in Zorn und Tränen zu sehen. Als dann endlich die Seele des jungen Mädchens zu allen Lebensgefühlen erwacht war, winkte das Schicksal von neuem: die Götter ließen lachend auch dieses Spielzeug aus den Händen fallen; Herr Dietrich Häußler kam als ein großer Mann nach Krodebeck zurück, doch nicht, um daselbst zu wohnen und Gutes zu tun, sondern um, nach so langem Verschollensein, ganz und gar wie früher vollkommen das Gegenteil von dem zu tun, was man von ihm zu erwarten sich seltsamerweise immer noch berechtigt glaubte.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Schuedderump