Achtundzwanzigstes Kapitel.

Es war bereits Dämmerung, als er den National-Gasthof in der Taborstraße erreichte, und auf seinem Wege dahin hatte sein Dämon ihn wie einen Trunkenen vor Unglück und Verdrießlichkeiten aller Art zu hüten. Es war ein ziemliches Wunder, daß er sein Zimmer mit gesunden Gliedern erreichte; wie es in seinem Innern aussah, werden wir uns aus seinem Briefe zusammenreimen müssen. Er war kein Held von der Feder, aber dessenungeachtet ist es unsere Pflicht, sein Schreiben nach Krodebeck diesem Buche vom Schüdderump beizulegen. Einen schönen Stil leidet unsere Aufgabe diesmal überhaupt nicht, und wir haben deshalb nicht einmal um Entschuldigung zu bitten.
Der Junker von Lauen schrieb, wenn nicht gut, so doch recht ausführlich, folgendes:
„Lieber Herr Leutnant!
Ich zeige an, daß ich in Wien und gesund bin. Aber mit dem Vesuv ist’s fürs erste noch nichts, und auf die Kamelzucht bei Pisa habe ich mich vielleicht auch umsonst gefreut, und das wäre doch über alle feuerspeienden Berge in der ganzen Welt gegangen. In Leipzig war ich in Möckern, wo Sie Anno dreizehn auch waren; aber da ist leider alles zugewachsen und zugebaut, Sie würden sich selber nicht mehr zurechtfinden. Ich stieg über mehrere Zäune, um die Stelle zu sehen, wo die Gardemarine zusammengehauen wurde; aber dabei fing mich ein Feldwächter und ging mit mir nach Eutritzsch, wo mich mein Patriotismus zwei preußische Taler kostete. In Dresden ist’s schön. Die Elbe ist dort so breit wie in Magdeburg am Herrenkrug, in dem Bildersaal bin ich auch gewesen, aber es waren mir fast zu viele Bilder drin, und so bin ich umgekehrt; aber ich bringe einen Katalog mit. Das Grüne Gewölbe hat mir eigentlich besser gefallen; weil jedoch fortwährend eine furchtbare Hitze war, so habe ich mich meistens auf dem Waldschlößchen, dem Feldschlößchen, dem Felsenkeller und an ähnlichen schönen Punkten aufgehalten. Nachher hätte ich in der Sächsischen Schweiz beinahe dreimal den Hals gebrochen, nämlich auf der Bastei, am Kuhstall und am Prebischtor. Am Prebischtor gab’s böhmischen Wein; aber vorher auf dem großen Winterberge nichts als Nebel. Von Prag will ich weiter nichts sagen, es war zu schön; ich habe auch Streit mit einem österreichischen Jägeroffizier bekommen, und die Herren waren außerordentlich freundlich und zuvorkommend, und ein liebenswürdiger ungarischer Husarenleutnant arrangierte alles aufs beste für mich; doch zuletzt wurde die Sache in Güte beigelegt, und wir fuhren und ritten in bester Kameradschaft nach Bubentsch und kamen spät, aber recht vergnügt in der Nacht heim.
Hätt ich den Weg von Prag nach Wien zu Pferde gemacht, so würde ich nicht den größten Teil verschlafen haben. Auf der Eisenbahn schlafe ich immer, und diesmal schlief ich fester denn je, woran die lieben Prager Herren wohl ein wenig mit schuld sein mochten. Aber in Brünn aß man zu Mittag, und von hier an blieb ich wach bis Wien, allwo wir mit untergehender Sonne vergnügt anlangten, nachdem wir Wagram passiert hatten, was mir sehr merkwürdig war und Ihnen gewiß gleichfalls recht kurios vorgekommen wäre.
Ich kam mit zwei geistlichen Herren und einer jungen Dame heiter und vergnügt an und fuhr zum National-Gasthof in der Taborstraße, wohin jedermann in Krodebeck für die nächste Zeit seine Briefe richten mag, und erholte mich von den Strapazen der Reise, das heißt, ich lief zuerst allein und dann unter dem Schutz einiger angenehmer Leute vom Regiment Erzherzog Rainer bis spät nach Mitternacht umher; denn wer sich in einer fremden Stadt nächtlicherweile ordentlich orientiert hat, der weiß sich nachher auch bei Tage zurechtzufinden. Sehen Sie, Herr von Glaubigern, das gnädige Fräulein meint immer, ich hätte keine Maximen; aber wenn das keine Maxime ist, so weiß ich nicht, was eine ist.
Wien ist wirklich eine recht hübsche Stadt und macht den Wienern alle Ehre; aber die Donau, welche ich bis jetzt kennenlernte, ist nicht weit her, doch existieren zwei, und die andere ist die rechte. Herr Leutnant, Sie kennen Goslar, und ich kenne es auch, und da muß ich sagen, daß es mir stets sonderbar vorgekommen ist, wie man einst hat glauben können, Rom und den Erdball von Goslar aus regieren zu können. Warten Sie nur, ich breche nicht aus der Bahn; denn trotzdem daß Wien eine prachtvolle Stadt ist, hat es in einer Hinsicht doch eine merkwürdige Ähnlichkeit mit Goslar; nämlich trotz allem und allem ist es meine feste Meinung, daß man Krodebeck und den Lauenhof nicht von Wien aus regieren kann; die Infanterie versteht kein Deutsch, und es wird zwar deutsch kommandiert, aber geflucht muß italienisch, polackisch und böhmisch werden. Donnerwetter, wenn das Goslarer Kontingent vor achthundert Jahren italienisch gesprochen hätte, würde die Weltgeschichte ganz anders aussehen; aber das sind nur so meine dummen Gedanken, und weil ich vor Verwirrung und Betrübnis nicht weiß, was ich eigentlich schreibe.
O lieber Herr von Glaubigern, am folgenden Morgen, als wie heute morgen, war ich bei unserer Tonie, und da habe ich mit blutendem Herzen erfahren, daß wir nach Belieben sitzen und politisieren mögen, es geht doch alles seinen gewiesenen Gang. Ach, Herr Leutnant, wir haben auch den Lauf der Welt nicht von Krodebeck aus regieren können, das wissen Sie ja; aber so schlimm hatte ich’s mir nicht vorgestellt! Was ich Ihnen jetzo auch geschrieben haben mag, ich kann mit der Hand auf dem Herzen versichern, daß ich mich auf der Reise bis jetzt auf nichts mehr gefreut habe als auf das Kind; aber die Freude ist mir vollständig ins Wasser gefallen.
Und es ließ sich alles so gut an! Sie erinnern sich, Herr Leutnant, was uns der Herr von Häußler während seines Besuchs auf dem Hofe vorräsonierte von Mantua, Peschiera und Verona; und so dumm bin ich nicht, daß ich nicht bei jetziger Zeitlage die stille Hoffnung hegte, er würde sich augenblicklich wieder dort aufhalten. Diese Hoffnung hat mich nicht getäuscht; der Herr Dietrich Häußler verproviantiert Verona, und Tonie, unsere Tonie war allein zu Hause! Den ganzen Tag heute hab ich bei ihr gesessen, und wir haben von Krodebeck wie von einem himmlischen Paradiese gesprochen, was es doch nicht ist, wie Sie ebensogut als ich wissen. Es kommt alles darauf an, wie man ein Ding ansieht, und seit heute morgen sehe ich den Lauenhof in einem viel bessern Lichte als gestern abend, allwo ich wie ein Narr auf der Wolke ritt. Jetzt haben wir ‘ne Lerche geschossen, und ich suche mühselig meine Gliedmaßen wieder zusammen. Kreuzlahm bin ich nach Haus gehinkt und sitze hier und schreibe, ich weiß nicht was!
Die Tonie ist krank, Herr Leutnant, und hat uns schon lange erbärmlich mit ihren fröhlichen und vergnügten Briefen hinter das Licht geführt; und seit ich sie gesehen habe, ist es mir zumute geworden, als habe diese ganze große Stadt Wien mit einem Male Trauer angelegt, – selbst die Luft kommt mir seit heute morgen ganz anders vor; und wie kann da noch von großem Spaß die Rede sein, wo jede Glocke klingt, als ob sie zum Begräbnis läute?
Ich habe dem Mädchen schön die Wahrheit gesagt – auch in Ihrem Namen, Herr von Glaubigern; – allein was hilft das? Sie lächelt und meint: es habe nichts zu bedeuten, sie habe es sehr gut, alles gehe nach ihrem Willen, und der Großpapa Häußler suche ihr jeden Wunsch aus den Augen abzulesen. In der letztern Hinsicht ist es mir durchaus nicht lieb, daß sich der Herr von Haußenbleib in Italien befindet, dem möchte ich ebenfalls verschiedenes aus den Augen ablesen, ehe ich der Tonie wieder traue, und etwas Ähnliches habe ich dem Kind zu verstehen gegeben; allein es hat wieder nur gelächelt – doch nicht so, wie es in Krodebeck lachte. So wütend und betrübt zugleich bin ich noch nie in meinem Leben gewesen, und in einer merkwürdig tollen Stimmung bin ich heute abend in die Taborstraße zurückgekehrt. Wäre ich betrunken gewesen, hätte kein vernünftiger Mensch an meinem Zustande was aussetzen können, so aber bin ich mir fast selber zum Ekel geworden und finde meinen einzigen Trost nur in diesem Schreiben an Sie, lieber Herr von Glaubigern, denn ich weiß, daß Ihnen dabei womöglich noch übler werden wird; denn Sie haben in jener Nacht, als Sie wie ein Geist umgingen und an mein Bett kamen, vollständig recht gehabt, woran ich übrigens schon damals nicht zweifelte.
Der Edle Dietrich Häußler wohnt hier in einer ganz schönen Gegend in der Vorstadt Mariahilf in einem sehr schönen Hause. Und da sitzt denn auch unsere Antonie, und ich habe heute neben ihr gesessen, das Herz voll von Tränen, wie die Mamsell Molkemeyer, wenn ihr ein Unglück mit der Butter passiert ist. Wir haben von nichts anderem gesprochen als von Krodebeck und dem Lauenhofe, von der Mutter, von dem Fräulein Adelaide, von der alten Hanne Allmann, der alten Jane Warwolf und Ihnen, Herr Ritter. Sie hat auch Ihre und des Fräuleins Briefe gelesen und läßt sich allen empfehlen, aber schriftlich kann man das nicht ausdrücken, wie! – Wir haben zusammen zu Mittag gegessen, und das allein schon konnte einem den Wagen umwerfen, wenn man das Vergangene und das Gegenwärtige zusammenhielt. Der Edle Dietrich Häußler scheint in der Tat hierzulande ein großes Tier zu sein; aber das Kind ist krank – sehr krank, Herr von Glaubigern, und ich schämte mich fast, so dick und fett ihr da gegenüberzusitzen und die ganzen letzten Jahre hindurch so vergnügt gewesen zu sein und so wenig an sie gedacht zu haben. Sie hat Bediente und Kammerjungfern, allein man braucht sie nur anzusehen, um zu wissen, wie heillos sie jedesmal gelogen hat, wenn sie uns schrieb, daß es ihr gut gehe. Ja, während es uns freilich besser ging, als wir verdienten – den Tod der Mutter abgerechnet –, verkümmerte sie hier oder wurde auf das niederträchtigste mit Kunst fast zu Tode gequält. Davon will sie zwar nichts hören; aber ich bleibe in Wien, bis ich mir alles ins klare gebracht habe, und hoffe, daß ich damit auch Ihre und des gnädigen Fräuleins Meinung treffe, Herr Leutnant.
Herr von Glaubigern, mit dem gnädigen Fräulein ist das eine eigene Sache, und wir haben ihm allesamt vieles abzubitten, was ich mit einem höflichen Kompliment auszurichten bitte. Das sage ich ganz offen, ich für mein Teil habe früher kein größeres Vergnügen gekannt, als wenn sich plötzlich beim schönsten Wetter das Gnädige mit seinem Taschentuch in den Winkel setzte und den König Ludwig den Sechzehnten und die Eroberung Konstantinopels durch die Türken bejammerte und für vierzehn Tage seine Gesellschaft in diesem irdischen Jammertal für jedermann unmöglich machte. Damals war mir bärenmäßig wohl, aber heute fühle ich zum erstenmal den Klotz am Bein und tue dem Fräulein Adelaide Abbitte und Ihnen auch, Herr Leutnant. Und dazu muß man nach Wien gekommen sein, um solche Erfahrungen zu machen! Das alles muß einem hier in Wien klarwerden, hier, allwo jeder, der Ihnen begegnet, vor Behagen kaum Platz in seiner Haut zu haben scheint!
Ich war in einer netten Stimmung, heute abend auf dem Heimwege; – Fräulein Adelaide in ihren elendesten Momenten war das reine Himmelblau gegen mich! O ich hätte sie alle mit den Nasen gegen die Laternenpfähle stoßen können, wenn sie nicht zu freundlich und vertraulich Platz gemacht hätten! Und die Frauenzimmer gar! Die tanzten alle, und ich glaube, unsere Tonie ist die einzige, die mitten unter ihnen allein sitzt und weint. Nur ein Blinder, welchem die Augen in dem Augenblick aufgehen, in welchem die Sonne untergeht, kann wissen, wie mir in dieser Stunde zumute ist. Ja, Herr Leutnant, auch Sie hatten recht, wenn auch auf eine andere Art als das gnädige Fräulein. Aber wir andern in Krodebeck waren alle zu dumm, um Sie zu begreifen, weshalb wir uns natürlich um soviel weiser und klüger dünkten als Sie. Jetzt erst reime ich mir allmählich zusammen, was Sie eigentlich meinten, wenn Sie Ihre unverständlichen Reden hielten, wie zum Beispiel, wenn Sie sagten, der Tag sei nicht so hell, als man denke, und das Licht liege nur in dem Vergangenen und der Sehnsucht darnach, die Zukunft aber bringe auch nur, was der Tag heute sei, oder noch etwas Schlimmeres und so weiter.
Daß dieses so ist, habe ich nun gemerkt. Wir haben heute von nichts als der guten alten Zeit sprechen können. Was frage ich noch nach den Kamelen und dem Vesuv? Schon daß der Edle von Haußenbleib in dem Italien sein Glück gemacht hat, könnte mir die sämtlichen Pomeranzenländer in alle Ewigkeit verleiden; aber hoffentlich hängen ihn die Garibaldiner demnächst einmal an den Beinen auf, und nachher werde ich mir den Baum mit Vergnügen besehen und auch alles übrige Sehenswürdige mit Gemütlichkeit nachholen.
Grüßen Sie den Fröschler, Herr Leutnant, und bitten Sie ihn, in der Ernte die Eichsfelder scharf unterm Zügel zu halten. Nur durch die menschenmöglichste Grobheit kann man mit denen in Güte auskommen, wenn sie gleich nicht so schlimm sind, als die römischen Eichsfelder, welche die Maler so gern in den Kunstausstellungen aufhängen, aussehen. Aber auf den Fröschler gerate ich nur, weil die Tonie und ich von nichts anderm als dem Lauenhof gesprochen haben und er jetzt doch auch zum Lauenhofe gehört. Wir haben hier freilich mit ganz anderm Volk zu schaffen als den Ernteleuten vom Eichsfelde. Sehr viele Herrschaften – Herren und Damen mit prachtvollen Titeln und noch prachtvollern deutschen, polnischen und italienischen Namen haben nach mir gleichfalls ihre Visitenkarten hereingeschickt und anfragen lassen, ob das gnädige Fräulein zu sprechen sei. Wir haben sie diesmal jedoch sämtlich abgewiesen, da wir den Tag für uns allein brauchten. Ich hoffe, einige dieser Herrschaften genauer kennenzulernen, und werde sodann dem Lauenhof mehr darüber melden. Ach, ich glaube, ich erfahre dadurch Schlimmeres, als wenn ich den Ärzten der Tonie einen Besuch machte. Der Edle von Haußenbleib hat sicherlich einen höchst sauberen Bekanntenkreis. Der Teufel hole ihn! nämlich den Edlen.
Ich sah ganz genau, wie das Kind bei einigen jener Namen den Kopf zurückwarf oder die Lippen zusammenbiß. Und der Bediente sah es nach jeder neuen Abweisung immer größer an, und das schöne Kammermädchen schien sogar einmal die Absicht zu haben, eine vorlaute Bemerkung zu machen.
Herr Chevalier, verlassen Sie sich auf mich! Etwas Großes und allzu Kluges haben Sie mir nie zugetraut; aber an dieser Stelle bin ich imstande, den Pferdemarkt zu bereiten, ohne irgendeinem Juden Gelegenheit zu einem: ›Israel, frohlocke!‹ über mich zu geben. Das Kind ist mir immer noch viel zu lieb, um ihm nicht gern einige Wochen meines Daseins zu opfern, und außerdem gefällt mir Wien in der Tat ungemein, und ich begreife schon jetzt ganz wohl, daß man daselbst ganz angenehm leben kann.
Nun wäre ich für heute zu Ende, sowohl mit meinen Kräften als auch mit meinem Papier. Das ist die schwerste Arbeit gewesen, die ich ausgeführt habe, seit Sie den Comenius zuklappten; freilich ob Sie daraus klug werden, ist Ihre Sache. Wäre es irgend möglich gewesen, so würden Sie auch diesen Brief nicht erhalten; aber dafür befände ich mich dann bereits mit der Tonie auf dem Heimwege nach Krodebeck.
Schreiben Sie an mich in den National-Gasthof, Zimmer 38, was Sie wollen; und schreiben Sie und das gnädige Fräulein an die Tonie so vergnügt als möglich – Sie tun ein gutes Werk damit und werden mich schon verstehen.
Leben Sie wohl und bleiben Sie mein bester Freund!
Hennig von Lauen“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Schuedderump