Achtes Kapitel.

Mancherlei, und zwar seit uralten Tagen, wußte das Dorf Krodebeck und mit ihm das Siechenhaus von den Leuten zu erzählen, die von dem Gebirge zu ihnen niederstiegen, und das Siechenhaus hätte vielleicht die meisten und wunderlichsten Sachen berichtet, wenn Türen und Wänden die Zungen gelöst werden könnten. Bergleute und Vogelhändler, Kienrußhändler und Kohlenhändler, Jäger und Spielleute zogen durch den Ort und hielten, und zogen durch und hielten an seit mehr als tausend Jahren. Ihr Weg ging meistens immer weit nordwärts und den großen und reichen Städten der Ebene zu, ja oft sogar über das Meer hinaus zu den fremden Völkern, und ganz selten ohne Zweck und Grund. Es schlägt manch ein Fink in der Stadt London, welcher am alten Brocken aus dem cheruskischen Nest genommen wurde, und manch ein munterer Kanarienvogel singt vor ausländischen Ohren das Lied, welches ihm zu Zellerfeld und Andreasberg vorgepfiffen wurde. Wie die Singvögel reisen aber auch die Bäume. Bis hoch hinauf oder vielmehr tief hinab an den Strand der Ostsee und die Nordsee entlang flammt die herzynische Tanne am Weihnachtsfest. Harzknaben führen sie bis zur Eisenbahnstation, und der Dampfwagen bringt heutzutage den Kindern in Stettin die Freude und Poesie ihrer schönsten Feierstunde. Die Krodebecker sehen die Vögel und die Bäume vorüberziehen, und wenn die Träger, die Wagen und Schlitten vor dem Kruge anhalten und die klugen und unternehmenden Handelsleute sich durch einen Trunk für das fernere gute oder böse Wetter stärken, so erkundigen sie sich gern nach dem Wetter und den Wegen „da oben“ bei den Leuten und geben ihnen vielleicht auch, wenn sie recht guter Laune sind, ein freundlich Wort mit auf die Reise. Was aber durch Krodebeck nordwärts zieht, das muß an dem Siechenhause vorüber, und die meisten aus dem fahrenden Volk haben eine Neigung, ein Verständnis, ja manchmal sogar durch die Verwandtschaft daheim eine gewisse brave, aber klägliche Achtung für dasselbe. Die meisten stehen in einem viel abhängigern, erniedrigenderen Verhältnis zu dem Siechenhaus als das liebe Vieh, welches gleichfalls daran vorüberzieht.
Übrigens, wenn in früheren Zeiten das Gebirge unheimliche, schlimme Gesellen: Schafdiebe, Wilddiebe und Diebe und Räuber, die womöglich alles mitnahmen, in die Ebene herniederschickte, so sieht auch der heutige Tag und die Nacht, welche demselben folgen wird, sonderbares Volk genug, welchem der Bauer trotz der guten Polizei, trotz Kirche und Schule nicht über den Weg traut, und welchem auf den einsameren Gehöften kein Hausvater gern ein Nachtlager in seiner Scheune oder auf seinem Heuboden gestattet. Auch in dieser Hinsicht könnten die Wände des Siechenhauses von Krodebeck von manchem späten Gast erzählen, der verstohlen hinter den Hecken und Zäunen heranschlich, leise pochte oder pfiff und zu jeder Stunde der Nacht Einlaß erhielt, ohne daß der Baron, der Pfaff oder der Bauernvorsteher vorher Wanderbuch und Paß, die Moral und die Taschen visiert und visitiert hatten. Das war auch noch zu den Zeiten der Hanne Allmann vorgekommen. Wie die Wände hätte das alte Weib davon erzählen können, welchen kuriosen Besuch der lahme Peter, die blinde Kölkenbecksche und der Trippel-Brand bekamen und was für ein gutes und nahrhaftes Leben es dann und wann im Armenhause gab. Da brotzelte freilich mancherlei auf dem Jammerherde, was in einen andern Topf oder an einen andern Spieß gehörte, und zu manchem wackern Trunk kam das Siechenhaus nicht auf dem richtigen Wege.
Die Alte im Siechenhaus spricht sowenig davon als die Wände. Sie duckte sich damals, wenn es draußen im Nebel und der Finsternis pfiff oder wenn es am Fenster kratzte und hustete, scheu nieder und verkroch sich unter ihrer Decke. Wenn jedoch die Tür sich wieder hinter dem späten Besucher geschlossen hatte und der heimliche Jubel oder Geschäftsaustausch anhub, dann verstopfte sie beide Ohren mit den Händen, um sowenig als möglich von den Verhandlungen, den Zoten und Schelmenliedern zu vernehmen. Sie hörte trotz der verstopften Ohren genug davon, um das Dorf, die Pfarre und den Gutshof durch Kundmachung in die größeste Aufregung zu versetzen; allein niemand durfte es ihr verdenken, daß sie nichts davon laut werden ließ; weder vor Junker, Pfaff und Bauerschaft wäre das nicht ohne Gefahr und gewißlich nicht ohne die beschwerlichsten täglichen und stündlichen Martern, Unbequemlichkeiten, Quälereien und Kränkungen für sie abgegangen. Und jetzt – in den ruhigeren Tagen und seit der Zeit, in welcher sie allein das Armenhaus bewohnte, hatte es für sie weder Sinn noch Nutzen, die alten Geschichten wieder aufzurühren und andern Leuten zum Spaß oder zur Verwunderung das vergangene Gruseln und den alten Ekel wachzurufen. Ebensowenig, doch aus einigen andern Gründen dazu, sprach Jane Warwolf, die jetzt, das heißt seit drei Uhr morgens, im Anmarsch auf Krodebeck war, von den alten Geschichten und vergangenen Zeiten, es müßte denn sein im größesten Vertrauen und im heimlichsten Zusammenhocken mit Hanne Allmann.
Um die Zeit, in welcher die Gutsfrau auf dem Lauenhofe aus dem Bett fuhr, fuhr auch die Frau im Siechenhause aus dem einzigen Schlummerstündchen auf, das ihr in dieser Nacht zuteil geworden war und in welchem sie eine Vision von einem alten grauen Unterrock, aus dem sich vielleicht ein Unterröckchen für das Kind der schönen Marie machen ließ, gehabt hatte. Die abbröckelnden Wände der Hütte hätten kaum von einem behaglichern und zugleich leichter in die Wirklichkeit zu übertragenden Traum berichten können; doch die Wirklichkeit kratzte längst schon wie ein verhungernder Hund an der Tür, und lange ehe der erste Sonnenstrahl über den Horizont schoß, war Hanne Allmann auf aus dem Stroh und in den Kleidern. Die schöne Marie schlief um diese Zeit zuerst ruhiger, während das Kind, welches sich durch nichts hatte stören lassen, ruhig weiterschlief.
Unhörbar schlich das Mütterchen umher, die armselige Ausstattung der Wohnung in Ordnung zu bringen. Erst als dieses geschehen und für jetzt nichts mehr zu schaffen war, warf sie einen Blick aus dem Fenster in die stille Frühe und auf die dämmerige leere Landstraße nach beiden Seiten hin, doch ohne das Fenster zu öffnen. Leise kam sie sodann zurück und sah auf die beiden Schlafenden, auf die wegemüden Wanderer, die das Schicksal von dieser staubigen grauen Straße in ihr betrübliches, dumpfes, enges Reich geworfen hatte. Sie blickte von der Mutter auf das Kind und wog Tod und Leben wie je eine Norne unter dem Zeitenbaum am Urdarborn. Jetzt war sie wieder allein, ungestört und ruhig. Die Zweige und Blätter der großen, geheimnisvollen Wunderesche rauschten leise ob ihrem Haupte, und die Verheißung einer noch tiefern Ruhe, eines noch tiefern Friedens war in diesem Rauschen. In dieser stillen Stunde überwand sie den großen Schrecken, die schlimme Angst in ihrer Seele vollständig und gewann einen Sieg, dessen sich kein noch so berühmter Held hätte zu schämen brauchen: sie trat ein für das Leben, wie schwer ihr Wunsch sie auch nach der andern Seite hinüberziehen mochte.
„Oje, was lacht das Kind im Schlaf?“ murmelte sie. „Guck einer, dem ist’s noch einerlei, wohin es die Welt schob und was aus ihm werden mag. Ei, ei, hat das der liebe Gott noch auf meine alten Tage mit mir im Sinne gehabt? Guck, Hanne Allmann, das hättest du gestern um diese Zeit wohl nicht gedacht, daß er dir vor deinem End noch einen Sarg und eine Wiege zu versorgen geben würde.“
Sie hatte vorhin in der Hast ihre Strümpfe umgewendet angezogen und schob’s zum größten Teil darauf, daß ihr die Sache jetzt so leicht erschien; aber was auch die Meinung der Nation darüber sein mag, wir haben jetzt von dem größern Trost zu berichten, der nun vom Harz her heranmarschiert war, und zwar unter einer Form und Gestalt, welcher die meisten scheu ausgewichen wären.
Mit dem ersten Strahl der Sonne, als auch das Dorf sich schon regte, doch der Tau noch in voller Frische an Blatt, Gras und Spinngeweb haftete, klopfte dieser Trost an das Fenster des Siechenhauses und sah hinein – ein braun, runzlig Altweibergesicht, mit Stoppeln um das Kinn und Stoppeln um die Mundwinkel, gefurcht gleich einem übelgepflügten Ackerfeld, mit schneeweißen Augenbrauen, doch vollem, rotbraunem Haupthaar, das nach cheruskischer Sitte nach dem Hinterkopf hinübergezogen und in einen Knoten geschlungen war, mit grauen tiefliegenden Augen, die früher noch schärfer gesehen haben mochten, aber auch jetzt noch jedenfalls ihren Weg klar vor sich sahen!
Dieses war Jane Warwolf, und als die Alte in der Hütte ihr Gesicht am Fenster erblickte, verklärten sich ihre Mienen, und mit einem Ausruf der Freude humpelte sie wieder dem Fenster zu.
„Glück auf, Hanne!“ rief die Alte draußen, ungeduldig einen kurzen Wirbel an den Scheiben trommelnd.
„Still, Jane, sie schlafen!“ flüsterte Hanne Allmann mit einem Blick über die Schulter auf die schöne Marie und das Kind. Im nächsten Augenblicke stand sie vor der Tür, und wie die eine Hexe nun der andern die Hand schüttelte und die Zahnstumpfen zeigte, da mochte die rote Morgensonne ihre helle Freude an den beiden haben.
Die wandernde Frau war vielleicht nur um zehn Jahre jünger als die Frau aus dem Siechenhause, allein obgleich sie jetzt unter einer schweren Last gebückt stand, so sah man doch, daß sie sich in jedem Augenblick hoch genug aufrichten konnte. Und obgleich sie sich schwer auf den hohen Weißdornstock mit der künstlich geschnitzten Knopffratze stützte, so unterlag’s doch nicht dem geringsten Zweifel, daß sie im Notfall mit eben diesem Stabe tüchtig dreinschlagen würde. Auf dem Rücken trug sie ihre Harzkiepe voll hölzernen Geschirrs, voll Löffel und Teller und Kinderspielzeug und trat damit jedermann frei unter die Augen. Auf dem Grunde des Tragkorbs jedoch führte sie einige Flaschen, welche sie bedächtig den Augen der hohen Medizinalbehörden entzog. Sie enthielten sehr gesunde Tränke, erprobt seit Jahrhunderten gegen die mannigfaltigsten Gebresten des Leibes, und konnten sich den zu Goslar gebrauten nach Heilkraft und Wohlgeschmack kühn an die Seite stellen.
„Da bist du! Und willkommen bist du wie ein Mairegen!“ rief Hanne.
„Glück auf, junge Frau!“ wiederholte Jane. „Freilich bin ich da, und den ganzen Weg von Wildemann her hab ich mich auf dies alte Drudengesicht gefreut; und richtig, ein Gesicht macht sie wie der Uhu vor dem Blitz – ganz wie ich’s mir vorstellte, und ganz und gar nichts häßlicher. Nanu nur lustig! Wie steht’s im flachen Land? Was macht Bratpfanne und Kuchenblech im Armenhaus zu Krodebeck? Aber nun sag einmal, Hanne, wie steht’s denn mit unserer Reise? Raus aus der Schüchternheit! Sie werden allgemach ungeduldig da oben auf dem Blocksberg. Sie recken nun schon manch liebes Jahr die Hälse nach uns, und länger als bis zur nächsten Walpurgisnacht wollen sie unter keinen Umständen warten. He, he, Hanne Allmann, wie ist’s mit dem Besen und der Ofengabel? Und wer geht noch mit aus euerm Dorf? Jaja, ich habe da eben im Vorbeihinken mehr als einen Schornstein angesehen; da kann man sich schon freuen auf das nächste Auffahren. Es werden wenige Besen in der Nacht in Krodebeck zurückbleiben, und wer von den Gevattern einer Ofengabel benötigt sein sollte, der wird dann wohl danach ein wenig bergauf zu steigen haben.“
Die alte Hanne duckte sich auch unter diesem Redestrom und ließ ihn über sich hinschießen. Sie wußte, daß die alte Jane sich aussprechen müsse, wenn sie angefangen hatte zu sprechen. Erst als die wandernde Frau ihre Last auf dem Rücken zurechtschob, nahm sie das Wort in der eintretenden Pause oder versuchte wenigstens, die Rede auf etwas anderes zu bringen.
„Von Wildemann kommst du, Jane?“
„Von Wildemann? Hab ich das gesagt, dann wird’s freilich wohl seine Richtigkeit damit haben. Aber wo bin ich gewesen! Rund um den Erdball herum in der schlechten Welt in diesen letzten vierzehn Tagen! Oben und unten! In Rübeland und in Wernigerode, in Harzburg, Ilsenburg und in Klaustal, in Goslar und in Wieda, in Sachsa und in Walkenried – als ob es bei unsereinem darauf ankäme, woher er käme und wohin er ginge! Das Volk bleibt überall gleich, und Hunger und Durst hat man überall umsonst; die Hunde hängen sich einem überall an den Rock, und die hölzernen Bänke wollen mein Lebtage zu keinen seidenen Polstern unter mir werden. So will ich denn den Weg mal wieder ins Platte nehmen; das ewige Bergauf, Bergab kriegt man endlich auch satt, und es hat’s nicht jeder so gut wie die gnädige Frau vom Siechenhaus zu Krodebeck. Ja freilich, die Hanne Allmann kann es mitansehen! Die sitzt hier in Saus und Braus und wartet im Lehnstuhl auf ihre Zeit und lacht auf dem Stockzahn und ziert sich; denn sie hat’s schriftlich, daß der Junker mit der roten Feder endlich doch einmal vierspännig vorfährt, um sie durch die Lüfte mit sich zu nehmen.“
„Man könnte dir trotz aller Freundschaft gram werden, wenn man dir auf dein Maul nicht ein gut Stück zugute täte! Nun sage, wohin geht der Weg jetzund? Und wenn du alles los bist von der Seele, so höre an, was ich dir zu sagen habe.“
„Wohin der Weg jetzund gehet? Nach Braunschweig zur Sommermesse. Als ob dieses sich nicht von selber verstände! Hannchen, Hannchen, etwas mehr Einsicht in den Handel mit hölzernen Löffeln wäre dir doch zu wünschen! Aber still – nun horch, junge Frau, jetzt kann dein Glück blühen, wenn du wenigstens Verstand und Einsicht genug auftreiben kannst, um den richtigen Wunsch aus dem Bettelsack hervorzuholen. Ich habe mir nunmehro fest vorgenommen, dir mitzubringen, was dein Herz begehrt, und sollt’s mich eine Million in barem Gelde kosten. Für alle sechs Nullen darfst du dir was wünschen, nur mit der nichtsnutzigen Eins davor mußt du mir aus alter Liebe, Freundschaft und Gefälligkeit vom Leibe bleiben. Das wäre also gesagt, und da ich dein dankbares Gemüte kenne, so komme ich auf etwas anderes und stelle die höfliche Frage: was kosten die Zichorien in Krodebeck, und was hat der hochgelobteste Gemeinderat fürs erste Frühstück im Korb ohne Boden, im Hotel zum Falschen Mariengroschen ausgeworfen?“
„Komm herein, du sollst dich wundern!“ rief Hanne Allmann.
„Das wird mir lieb sein; denn so leicht wundere ich mich über nichts mehr in der Welt. Aber weißt du, Hannchen, umsonst nehme ich nichts an – unter keinen Umständen! Dafür hat mein seliger Herr Vater gesorgt – der trug ein ganzes, wirkliches und wahrhaftiges Bergwerk auf dem Rücken mit allen Silbergängen und Goldgängen und wurde ein reicher Mann dabei, wie du weißt, daß er mit seinem Mammon von Tür zu Tür zog und großes Aufsehen erregte.“
„Dieses ist wahr, und er wußte wahrhaftig gut dazu zu reden, Jane.“
„Und das Kupferbergwerk trug er in seiner Tasche – das war ein Mann, Hanne, – und ich bin seine Tochter, Hanne, und habe von ihm gelernt, was sich schickt und womit man sich den Leuten am angenehmsten macht. Es wär doch auch eine rechte Schande, sich lumpen zu lassen, wenn man ganz Peru und Paphlagonien auf dem Buckel mit sich herumschleppt!“
„Nun höre sie einer an! Wo sie nur all die grausamen und gelehrten Worte herkriegt? O Jane, Jane, jetzt laß aber auch mich einmal sprechen!“
„Alter Schatz, du tust ja nichts anderes seit einer Viertelstunde, und es scheint dir nur ein heimtückischer Spaß, daß ich dir währenddem mit Jammer und Klage den Sehnsuchtswalzer um eine Tasse Kaffee vorpfeife.“
Hanne Allmann, fast zum Äußersten gebracht, faßte die Schwätzerin an der Schulter und flüsterte ihr einige Worte ins Ohr. Da horchte Jane Warwolf denn doch hoch auf und stieß mit dem Wanderstock einige Male ziemlich fest auf den Boden. Dann ließ sie, wenn auch nicht den Sehnsuchtswalzer, so doch einen langen, bedeutungsvollen Pfiff hören und trat der alten Gastfreundin nach über die Schwelle des Siechenhauses von Krodebeck – ein ganz anderes Weib, als wie sie sich bis jetzt gezeigt hatte.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Schuedderump