Abschnitt 6. Der Befehl wurde rasch ausgeführt und Tom vom Mast heruntergerufen. Hier blieb ihm auch wirklich kaum Zeit, ...
Der Befehl wurde rasch ausgeführt und Tom vom Mast heruntergerufen. Hier blieb ihm auch wirklich kaum Zeit, sein notwendigstes Geschirr zusammenzuraffen und in das Boot zu springen. Das hatte die übrige Mannschaft indes mit allem Nötigen versorgt, und sie stießen gleich darauf von Bord ab, um das Wrack zu untersuchen. Unten auf dem Wasser konnten sie es aber noch nicht erkennen, und von der großen Rahe aus gab ihnen ein dort hinaufgeschickter Matrose die Richtung an, in der sie steuern mussten, bis sie selber nahe genug kamen, es von der blitzenden Flut, die ihren Horizont begrenzte, zu unterscheiden.
„Legt euch in die Riemen, meine Burschen“, ermunterte der Harpunier die Leute. „Es wird sonst dunkel, eh wir hinkommen; die Sonne geht ja schon unter. Regt ein bisschen die faulen Knochen – wer weiß, ob nicht in dem Kasten da drüben mehr steckt, als zwei Walfische wert sind.“
Das Letztere war jedenfalls die beste Anregung für die Leute. Mit aller Macht legten sie sich in die Ruder, und das schlanke treffliche Boot sprang leicht über die kaum bewegten, aber von einer frischen Brise dunkel gekräuselten Wellen der blauen See, sodass sie bald das ersehnte Ziel erreichten.
Es war in der Tat ein kleiner inländischer Kutter, wie ihn die Weißen hier und da für die Eingeborenen auf den Inseln bauen, und womit auch oft Europäer, besonders Franzosen, zwischen den verschiedenen Inselgruppen herumfahren und Perlmutterschalen, Kokosöl, Limonensaft oder andere Produkte gegen europäische Waren, seltener gegen Geld eintauschen. Jedenfalls hatte ein Sturm das kleine Fahrzeug erfasst, und die Mannschaft, wenn sie nicht verunglückt war, sich in ihrem Kanu zu retten gesucht. An Deck lagen nur einige Kokosnüsse, die Alohi, ohne weiter einen Befehl deshalb abzuwarten, in das Boot warf. Außerdem war aber von dem Takelwerk noch manches zu gebrauchen, der Anker z. B. allein schon etwas wert, und der Harpunier ließ sich jetzt die Laterne anzünden, um in den innern Raum, der nur teilweise mit Wasser gefüllt schien, hineinzusteigen und nach Papieren oder sonst wertvollen Sachen zu suchen. Die Mannschaft sprang indes sämtlich an Deck des kleinen Fahrzeugs, um so viel wie möglich wenigstens von dem Tauwerk zu bergen, falls sich die Ladung als wertlos erweisen sollte. Die Sonne war allerdings schon unter, und die Nacht fing an, sich von Osten her langsam über die weite, leise wogende See auszubreiten. Die Dämmerung ist in jenen Meeren ungemein kurz, und dem Tag folgt fast unmittelbar die Nacht.
„Hierher, Zimmermann; gebt einmal ein Beil herunter“, rief der Harpunier, der mit dem Bootsteuerer nach unten geklettert war, an Deck hinauf. „Und bringt einen Meißel mit.“
Tom stieg in das Boot, das in See vom Kutter angebunden hing, um das kleine Kästchen mit Handwerksgerät heraufzuholen, als plötzlich jemand zu ihm in das Boot sprang und dieses ein Stück vom Kutter abschoss. Er richtete sich überrascht empor und erkannte Alohi, der mit einem trotzigen Lächeln über den dunkeln Zügen, ein Messer in der Hand, mit dem er eben das Tau durchschnitten hatte, einen Augenblick stolz und hoch aufgerichtet vorn im Boot stand. Es war aber auch wirklich nur ein Augenblick, denn im nächsten Moment schon warf er das Messer von sich und griff einen Riemen auf.
„Hallo – das Boot ist flott!“, rief einer der zurückgebliebenen Leute. „Auf der andern Seite, Kanaka 1), musst du den Riemen einsetzen – du schiebst es ja noch immer weiter ab.“
„Was tust du, Alohi?“, rief Tom erschreckt.
„Was ich tue, Tomo? Ich will nach Tubuai fahren – und nun Segel auf und fort, denn es dauert noch wenigstens eine Viertelstunde, ehe es vollkommen Nacht ist. Die anderen Boote werden bald hinter uns her sein.“
„Aber Alohi!“, rief Tom, „mit diesem Boote sollen wir die Entfernung -“
„Und wenn’s ein Kanu wäre“, lachte der Indianer wild vor sich hin. „Besser hier zugrunde gehen als länger bei jenen weißen Teufeln ausharren. Alohi bleibt nicht mehr bei ihnen.“
„Nun denn mit Gott!“, rief Tom laut aufjubelnd, indem er mit raschen Griff den kleinen Mast in den dazu bestimmten Platz setzte. „Land werden wir schon irgendwo treffen, und nun hinaus in die See!“
„Oh Tom – O Kanaka!“, riefen indessen die beiden zurückgelassenen Matrosen erschreckt durcheinander. „Hallo, Mr. Elgers, das Boot ist fort!“
„Den Teufel auch!“, schrie dieser, indem er rasch nach oben sprang. Aber in die gotteslästerlichsten Verwünschungen brach er aus, als die beiden Flüchtlinge seinen Anrufen nicht gehorchten, sondern mit geblähtem Segel, scharf am Winde hin, das Weite suchten. In wilder Hast und Wut schwang er dabei die Laterne hin und her, als einzig mögliches Zeichen für das Schiff, von dort so rasch als möglich Hilfe herbeizuholen.
An Bord hatten sie indessen von oben aus ebenfalls, wenn auch nicht das Abstoßen des Bootes, denn dazu war es nach Osten hin zu dunkel geworden, aber doch das gesetzte Segel entdeckt. Der Mann, der als Ausguck oben saß, rief es an Deck hinunter. Nichtsdestoweniger zerbrach er sich den Kopf, weshalb das Segel nicht gerade auf das Schiff zuhielte und auf dem Wrack noch immer jemand die Laterne schwenkte. Seiner Pflicht nach rapportierte er das endlich ebenfalls, und der erste Harpunier lief rasch an der Want hinauf, um sich von dem Tatbestand zu überzeugen. Mr. Hobart brauchte indessen keine lange Zeit, den wahren Verlauf zu durchschauen.
„Mein Boot aufs Wasser!“, schrie er in dem nämlichen Augenblick an Deck hinab und glitt dann selber an einer von den Pardunen nieder.
„Was ist vorgefallen, Mr. Hobart?“, rief der Kapitän, der unten neben dem Steuerrad stand. „Ist das Boot verunglückt?“
„Halb und halb“, lachte der Harpunier mit einem derben Fluch zur Bekräftigung. „Für uns wenigstens hier. Es geht mit voll geblähtem Segel nach Lee zu, und ich müsste mich sehr irren, wenn Tom und der Kanaka nicht eine Vergnügungstour darin vorhätten.“
„Verdammnis!“, schrie der Kapitän, das Deck stampfend.
„Sie hätten ihn sollen laufen lassen, als es noch Zeit war“, sagte der Harpunier, seinen dicken Rock, der schon für die Nachtwache bestimmt auf dem Gangspill lag, aufnehmend und anziehend. „Jetzt werden uns die Burschen wieder zu einer verteufelten Hetze zwingen und – verdenken kann ich’s ihnen auch nicht – ich täte dasselbe an ihrer Stelle.“ Er war dabei auf die Bulwarks gesprungen und glitt an dem Tau draußen nieder, in das hinuntergelassene Boot.
„Sehen Sie sich vor, Mr. Hobart, dass Sie das Schiff im Auge behalten“, ermahnte ihn der Kapitän. „Ich werde Laternen an den Tops aufhängen lassen.“
„Ay, ay, Sir“, rief der Harpunier zurück, murmelte aber in den Bart: „Werde den Teufel tun und in Nacht und Nebel dem Schiff aus Sicht laufen – keine Furcht, Alter. Nur zu, Jungen, greift aus!“, rief er den Leuten zu, und die vier Riemen tauchten zu gleicher Zeit in die Flut und machten das Boot rasch davonschießen. – Aber die beiden Flüchtlinge hatten, obgleich es rascheren Fortgang machte als sie, nicht viel von ihm zu fürchten. Es war nämlich unter der Zeit so dunkel geworden, dass der Mann im Ausguck dem verfolgenden Boote nur noch die ungefähre Richtung des flüchtigen Segels angeben konnte, und der musste es folgen, so gut es eben ging.
Zugleich mit ihm hatte Kapitän Rogers auch das zweite Boot – und zwar in Ermangelung eines zweiten Harpuniers unter dem Befehl des Böttchers – nach dem Wrack abgeschickt, die noch dort befindlichen Leute abzuholen. Von oben war das Licht zu erkennen, und einen darüber befindlichen Stern annehmend, konnten sie dadurch leicht ihren Kurs halten.
Die Lucy Evans setzte jetzt alle Segel, brasste auf und lief eine Strecke hinter den Flüchtlingen her.
Als jedoch der Schein der Laterne auf dem Wrack immer schwächer wurde und endlich ganz verschwand, blieb ihr nichts anderes übrig, als beizudrehen und auf ihre beiden Boote zu warten, die der Lucy Lichter besser erkennen konnten. Im Westen zeigte sich außerdem eine aufsteigende Wolkenschicht, und der Kapitän durfte seine Mannschaft in den Booten draußen, die nicht einmal mit Provisionen versehen waren, nicht der Gefahr aussetzen, verloren zu gehen.
In zwei Stunden etwa kehrte der Böttcher mit den Leuten vom Wrack zurück, und eine halbe Stunde später auch Mr. Hobart mit seinem Boot. Von den Flüchtlingen hatte er aber nichts mehr finden können, und als am nächsten Morgen die Sonne, mit einer scharfen Brise, die ihre weißen Schaumwellen über die weite blaue, aufgewühlte Fläche warf, dem Horizont entstieg, war nichts mehr von ihnen zu entdecken. Sie mussten die Verfolgung aufgeben – die Segel wurden wieder umgebrasst, und der Walfischfänger wandte seinen Bug aufs Neue der Heimat zu.
Eine Nacht voll Todesangst verbrachten indessen die beiden Flüchtlinge, denn wohl wussten sie, dass das Schiff ihrer Bahn folgen würde, und zufällig konnte es ja doch immer dieselbe Richtung beibehalten, wie sie. Befanden sie sich aber bei Tagesanbruch noch in Sicht und wurden sie entdeckt, so waren sie jedenfalls verloren.
Eine volle Stunde behielten sie nichtsdestoweniger ihren Kurs bei, um nur erst den Blicken der Nachsetzenden entzogen zu werden, dann aber kreuzten sie auf Toms Rat, so wenig Fortgang sie auch dabei machten, gerade in den Wind auf. Dadurch behielten sie die Wahrscheinlichkeit für sich, dass sie das Schiff im Dunkeln passieren würde, und an ein Wiederfinden war dann nicht leicht zu denken. Mit der Morgendämmerung, um keine Vorsicht außer Acht zu lassen, nahmen sie das weiße Segel ein, das sie vielleicht hätte verraten können, und suchten sorgfältig den ganzen Horizont nach irgendeinem Schiff ab. – Es war nichts zu sehen. Da, voll guten Mutes, setzten sie bei der frischen Brise das Segel wieder, das sie jetzt in vollem Flug nach Westen der Heimat entgegentrug.
Noch waren sie keineswegs außer Gefahr, denn wenn sie auch das Schiff nicht mehr zu fürchten hatten, befanden sie sich doch in einem dünnen, leicht zerbrechlichen Boot, ohne Provisionen, nur mit dem kleinen Fässchen voll Wasser, das in allen Walfischbooten liegt, mitten auf dem weiten Ozean, und sollten ihr Ziel ohne Instrumente fast auf gut Glück nur finden. Aber ihr Mut verließ sie nicht, und wie sie, von der kräftigen Brise getragen, lustig über die tanzenden Wogen glitten, jubelten sie ihre Lust und Seligkeit laut und jauchzend hinein in die wiedergewonnene freie, herrliche Welt.
So ganz ohne alle Hilfsmittel waren sie aber auch nicht. Da die Boote eines Walfischfängers oft in der Verfolgung eines Fisches weit abgezogen werden, oder auch halbe und ganze Tage lang draußen bei einem gefangenen Fisch liegen müssen, bis das Schiff bei ihnen aufkreuzen kann, so befindet sich hinten im Spiegel bei allen ein kleiner Verschlag, zu dem der Harpunier den Schlüssel hat und in dem meist immer ein kleiner Taschenkompass, ein Feuerzeug, Fischangeln und Leinen, ein paar Dutzend Schiffszwieback und nicht selten auch einige Bücher weggestaut sind.
Diesen Verschlag brach jetzt Tom, während Alohi steuerte, mit seinem Handbeil auf und fand sich hier reichlicher versorgt, als er geglaubt hatte. Der Kompass besonders konnte ihm die besten Dienste leisten. Das Wichtigste aber, was er neben dem Schiffszwieback in dem Verschlag fand, war ein kleines, von dem Rev. Russell über die Südsee-Inseln herausgegebenes Buch, an dem sich eine allerdings sehr unvollkommene, aber doch eine Karte der Inseln befand. Wenn auch nur die Lage der einzelnen Gruppen darauf angegeben war, sah er doch, dass sie sich, seit sie Tahiti verlassen, gerade etwa westlich von ihren Inseln befinden müssten, und dadurch Alohis Meinung, der diesen Kurs genommen haben wollte, vollkommen bestätigt.
Drei Tage und Nächte fuhren sie so ihre lange, einsame Bahn und lebten von Kokosnüssen, die Alohi von dem Kutter ins Boot geworfen, den paar Zwiebacken und einigen Bonitos, die sie unterwegs fingen. In Toms Seele begannen dabei schon Zweifel aufzusteigen, ob sie nicht am Ende gar südlich unter allen Gruppen wegsteuerten und nicht besser täten, mehr nördlich aufzuhalten. Alohi wollte aber davon nichts wissen – wenigstens noch nicht für diesen Tag. So brach der Abend herein, und als die Sonne im Westen sank und den Horizont dort mit durchsichtigem Licht erfüllte, hatte des Indianers scharfes Auge einen Punkt südwestlich von ihnen entdeckt, der vielleicht ein Segel, möglicherweise aber auch eine Landspitze sein konnte. Ihr Plan war bald gefasst. Da die Dunkelheit ihnen nur zu bald den Gegenstand entzog, hielten sie einige Stunden lang der Richtung zu und nahmen hierauf das Segel ein, um ihr Boot bis zum nächsten Morgen treiben zu lassen. Fanden sie mit Tageslicht den dunkeln Punkt nicht mehr, so war es ein Segel gewesen, und sie beschlossen dann weiter nach Norden aufzuhalten. Wie aber die Sonne im Osten ihr erstes Licht sandte, schrie Tom mit freudigem Entzücken: „Land – Land, Alohi! Dort drüben liegt Land!“, und Freudentränen liefen dem starken Mann die sonnverbrannten Wangen nieder.
Noch war freilich nichts weiter zu erkennen als ein stumpfer, aus dem Wasser vorragender Bergkegel. Wie sie aber rasch das Segel wieder gesetzt hatten und jetzt mit der frischen Brise darauf zuhielten, tauchte er auch schnell höher und höher empor, und „Bavilu!“ rief da plötzlich Alohi, sein Steuerruder loslassend und von seinem Sitz emporspringend. „Bavilu!“
Es war die Nachbarinsel von Tubuai, nur etwa noch zwanzig Seemeilen von ihr entfernt, und ihre Richtung lag von hier fast ganz West. Nichtsdestoweniger hielten sie auf die Insel zu, wenn das auch ihre Rückkunft verzögerte, um sich dort erst wieder zu erholen und besonders Früchte und Kokosnüsse an Bord zu nehmen.
Noch an demselben Morgen gewannen sie das Land – für sie der Freiheit Boden, aber nicht eine Nacht litt es sie unter den Palmen, ihre Rast war erst in der Heimat. Sowie die Sonne deshalb sank und die Luft kühler wurde, schifften sie sich, mit allem reichlich versehen, was sie jetzt brauchten, wieder ein, und mit der Morgendämmerung konnten sie auch in der Ferne das hohe breite Land von Tubuai erkennen, das sie an demselben Nachmittag erreichten.
Das war ein Jubel, das ein Jauchzen auf der kleinen Insel, als die für immer verloren Geglaubten mit voll geblähtem Segel in die Einfahrt der Riffe liefen und von weitem schon die Tücher schwenkten. Intaha jauchzte, wie das Boot nur den Sand berührte, an des Gatten Brust, und die Kleinen – nicht die Seinigen allein, sondern fast die ganze kleine Bevölkerung der Insel drängte herbei, umfasste seine Knie und suchte ihn zu sich niederzuziehen.
Tom Burton war wieder in seiner Heimat, und nie im Leben schien es ihm, als ob die Palmen so traulich gerauscht, die Blüten so süß geduftet, der Himmel so blau und wonnig ausgesehen hätte, wie an dem Tag. Aber er blieb auch dort und betrat nie wieder, bis zu jener Zeit, als ich ihn kennen lernte, ein europäisches Schiff.
Manche legten dort wieder an – eins sogar einmal mit seinem alten Freund Mr. Hobart an Bord, der ihn zum ersten Mal gefangen nahm. Die beiden Männer schüttelten auch einander die Hände und lachten über jene Zeit, aber an Bord ging Tom doch nicht, so freundlich ihn Mr. Hobart, der jetzt selber Kapitän geworden, auch einlud, und so heilig er ihm das Versprechen gab, ihn nicht einmal mit einem Gedanken zurückzuhalten.
„Das ist alles recht schön und gut“, sagte Tom. „So lange wir das hier auf festem Grund und Boden abmachen. Da seid ihr Seeleute auch ganz andere Menschen; auf dem Wasser aber, auf eurem eigenen Schiff – der Teufel trau euch, und ich für mein Teil hab an der Spazierfahrt damals gerade genug gehabt.“
1) Der Name bedeutet eigentlich einen Sandwich-Insulaner, aber die Seeleute geben ihn gewöhnlich allen Eingeborenen der Südsee.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Schiffszimmermann