Der Irrwisch.

Sobald Splitter sich so weit entfernt hatte, daß er von dem Schlehdornbusch aus nicht mehr sichtbar war, erhob sich der dort rastende Wanderer. Der träumerische Ausdruck, welcher kurz zuvor sein Antlitz charakterisirte, war durch den einer regen, jedoch nicht unfreundlichen Spannung verdrängt worden.

„Also auch Du,“ sprach er wie unbewußt vor sich hin, und einen herzlichen, theilnahmvollen Blick sandte er nach der Richtung hinüber, in welcher Lucretia hinter dem Weidendickicht verschwunden war. Dann begab er sich in den Leinpfad hinauf, und seine Schritte beschleunigend, lauschte er aufmerksam nach dem Fluß hinunter. Bevor er ein Zeichen von Lucretia's Nähe wahrnahm, erschien sie eine kurze Strecke vor ihm im Wege. Kaum im Freien, stellte sie die Schachtel auf die Erde, worauf sie sich mit dem Hut bekleidete.


Mit welcher Anmuth, welche dem sich nähernden Fremden ein bewunderndes Lächeln entlockte, schüttelte sie ihre von den Weiden beim Hindurchschlüpfen zerzausten Röcke, und jetzt erst warf sie einen Blick um sich. Als sie des nur noch wenige Schritte entfernten Fremden ansichtig wurde, erschrak sie. Einen Augenblick war sie unschlüssig; dann ergriff sie die Schachtel, und wie um jenen vorbeizulassen, bewegte sie sich langsam einher. Bald darauf befand der Fremde sich an ihrer Seite; doch anstatt weiter zu gehen, mäßigte er seine Eile. Lucretia gab sich das Ansehen, ihn nicht zu beachten, aber sie fühlte förmlich die Blicke, die auf ihr ruhten, und bis in die Schläfe hinaufstieg ihr jäh das bewegliche Blut.

Um die Lippen des Fremden spielte wieder das wohlwollende Lächeln. Es offenbarte sich in demselben das Bewußtsein, mit wenigen Worten die trotzige Scheu der holden Erscheinung brechen und dafür ein herzliches, freundschaftliches Einvernehmen herstellen zu können; allein er gewann es nicht über sich. Zu ergötzlich erschien es ihm, den frischen Jugendmuth seiner unfreiwilligen Begleiterin herauszufordern, durch harmlose Vertraulichkeit ihren Trotz anzustacheln und dann einen Blick in das vielleicht zornig erregte und daher sich ungeschminkt zeigende Gemüth zu werfen. Ohne sie anzureden, hielt er gleichen Schritt mit ihr. Er weidete sich an der zuversichtlichen Haltung und den anmuthigen Bewegungen, vor Allem an dem lieblichen Profil mit den spöttisch emporgekräuselten Lippen. So legten sie eine Strecke zurück, auf welcher Lucretia bald ihre Schritte beschleunigte, bald langsam einherschlich, dadurch verständlich an den Tag legend, daß sie der lästigen Begleitung enthoben zu sein wünsche. Als aber alle ihre Versuche, selbst das geringschätzige Achselzucken ohne Wirkung blieben, hielt sie plötzlich an. Wie vor Ermüdung stellte sie die Schachtel neben sich zur Erde und mit erheucheltem Gleichmuthe blickte sie nach dem jenseitigen Stromesufer hinüber. Sobald aber auch der Fremde stehen blieb, kehrte sie sich ihm zu, und wenn je Furchtlosigkeit und Trotz aus schönen Mädchenaugen sprühten, so geschah es hier, indem sie jenen fest anschaute. Das wohlgebildete, nichts weniger als unfreundliche Regungen verrathende Antlitz beruhigte sie zwar über ihre Lage, dagegen rief das eigenthümliche Lächeln desselben ihren Zorn in erhöhtem Grade wach. Einige Sekunden zögerte sie, dann sprach sie im drolligsten Plattdeutsch:

„Wenn Sie meine, dat ich mich vor Ihne fürchte, so irre Sie sich.“ Als dieselben Lippen, welche kurz zuvor in ihren Kundgebungen eine sorgfältige Erziehung verriethen, um den feindlichen Angriff zu verschärfen, sich plötzlich des breiten, ländlichen, etwas singenden Idioms bedienten, lachte der Fremde hell auf. In seinem Lachen aber offenbarte sich wiederum so viel Wohlwollen, sogar bewundernde Ehrerbietung, daß Lucretia sich vergeblich bemühte, ihre ernste Haltung zu bewahren. Wie aus drohendem Gewölk ein flüchtiger Sonnenstrahl, zuckte unter den düster gerunzelten Brauen ein lustiges Lächeln über das rosig erglühende Antlitz. Es war ersichtlich, der kühne Angriff, von welchem sie eine vernichtende Wirkung voraussetzte, erschien ihr jetzt selbst erheiternd. Sich jedoch dieser Regung schämend, biß sie flüchtig auf ihre Lippen, und sie stand wieder da, nach ihrer Ueberzeugung jeder Zollbreit eine Rachegöttin.

„Nichts lag mir ferner, als die Absicht, Ihnen Furcht einzuflößen,“ antwortete der Fremde auf die wenig ceremonielle Anrede höflich, „ich wünschte nur zu beweisen, daß wenn Zwei denselben Weg gehen, es für beide Theile unterhaltender, beisammen zu bleiben.“

„Danach hab' ich Sie nich gefrag, und Sie sin 'ne unverschämter Mensch,“ sprühte es wieder zwischen den Rosenlippen hervor, und ihre Schachtel ergreifend, schritt Lucretia eiligst davon und ihr zur Seite blieb der Fremde.

„Ich war im Unrecht,“ hob dieser an, sobald er entdeckte, daß der Zorn des schönen Mädchens von einer Empfindung der Besorgniß überflügelt wurde; „doch was ich verabsäumte, hole ich gern nach. Mein Name ist Perennis, eigentlich Matthias, und ich befinde mich auf dem Wege nach dem Karmeliterhofe, dessen Lage ich durch Ihre Güte zu erfahren hoffte.“

War es die Angabe des eigenen Zieles, was ihre Besorgniß schnell wieder verscheuchte, oder die Vertrauen erweckende Stimme: genug, Lucretia warf einen forschenden Seitenblick auf ihren Begleiter und antwortete sichtbar beruhigt:

„Ich selbst will nach dem Karmeliterhof,“ dann nach kurzem Zögern: „Kennen Sie Jemand auf dem Karmeliterhofe?“

„Niemand,“ erklärte Perennis bereitwillig, „meine ersten Kinderjahre verlebte ich daselbst, und da treibt mich das Verlangen, die alte Heimstätte einmal wiederzusehen.“

„Trotzdem fragen Sie nach dem Wege?“

„Es geschah, um überhaupt ein Gespräch mit Ihnen anzuknüpfen, und ich bedauere es nicht, seitdem ich weiß, daß unser Weg derselbe.“

Ohne ihre eilfertigen Bewegungen zu mäßigen, sah Lucretia vor sich nieder. Je näher sie dem Karmeliterhofe rückten, um so unruhiger wurde sie. Sie bereute fast, Sebaldus Splitter nicht mitgenommen zu haben. Lebte in ihrem Gedächtniß doch die Andeutung, daß in Zukunft Gesindel ihre nächste Nachbarschaft bilden würde.

Endlich sah sie wieder empor.

„Entsinnen Sie sich vielleicht eines gewissen Rothweil, des Besitzers des Hofes?“ fragte sie gespannt.

„Nur dunkel,“ antwortete Perennis mit einem bezeichnenden Lächeln, „ich war noch sehr jung, als ich ihn zum letzten Mal sah. Er soll sich seit vielen Jahren auf Reisen befinden.“

„Ein gewisser Wegerich verwaltet seitdem den Hof; ob der wohl ein umgänglicher Mann sein mag?“

„Ich höre seinen Namen heute zum ersten Mal, denke aber, Ihnen gegenüber müssen alle Menschen umgänglich sein.“

Lucretia zuckte ungeduldig die Achseln.

„Es soll Gesindel auf dem Hofe leben,“ wiederholte sie Splitters beängstigende Worte.

„Man muß den Leuten nicht Alles glauben,“ beruhigte Perennis, „daß der Karmeliterhof so weit heruntergekommen sein sollte, erscheint mir geradezu unmöglich.“

Wiederum eine Pause des Schweigens, und wiederum fragte Lucretia gespannt:

„Sie sind nicht verwandt mit dem Herrn Rothweil?“

„Rothweil ist mein Name,“ vermochte Perennis dem beunruhigten Mädchen gegenüber sein Geheimniß nicht länger zu bewahren. „Der Besitzer des Karmeliterhofes ist der Bruder meines verstorbenen Vaters. Widrige Verhältnisse zwangen diesen, den Hof aufzugeben, und da sein Bruder gerade ein recht stilles Heim suchte, einigten sie sich bald. Leider zogen meine Eltern sehr weit fort, und die große Entfernung war wohl Hauptursache, daß die beiden Brüder sich nicht viel um einander kümmerten.“

Während der letzten Mittheilungen war Perennis, dem Beispiele Lucretia's folgend, stehen geblieben. Diese hatte ihre Schachtel wieder auf die Erde gestellt und betrachtete erstaunend mit unverhohlener Freude den vor ihr Stehenden.

„So wären wir ja Verwandte?“ rief sie aus, sobald Perennis schwieg, „zwar etwas weitläufig, allein doch immer Verwandte. Mein Name ist Lucretia Nerden; ich gehöre, wahrscheinlich wie Sie selber zu denjenigen, welchen unser gemeinschaftlicher Herr Onkel den Karmeliterhof zur Verfügung stellte.“

„Zunächst meinen herzlichen verwandtschaftlichen Gruß,“ antwortete Perennis freudig bewegt, und indem er die ihm gereichte schmale Hand zwischen seine beiden nahm, meinte er, daß aus den lieben blauen Augen sich ein warmer Strahl bis in sein Herz hineingesenkt habe, „meinen tausendfachen herzlichen Gruß mit dem Versprechen, bis an mein Lebensende getreulich der heiligen Pflichten eines älteren Verwandten eingedenk zu sein.“

„Werden Sie ebenfalls auf dem Karmeliterhofe wohnen?“ fragte Lucretia zutraulich.

„Nur einen kurzen Besuch habe ich ihm zugedacht; da mich aber dringende Geschäfte auf einige Zeit an diese Gegend binden, hindert mich nichts, ihn sammt allen seinen Bewohnern wenigstens so lange im Auge zu behalten.“

Lucretia hatte ihre Schachtel wieder emporgehoben, duldete jetzt aber willig, daß Perennis ihr die Last abnahm. Eine kurze Strecke verfolgten sie ihren Weg schweigend. Perennis errieth, daß seine liebliche Begleiterin neue Ursache zur Beunruhigung gefunden zu haben meinte, und beobachtete sie aufmerksam. Die Genugthuung, einen Verwandten in der Nähe zu wissen, wurde bei ihr durch jene natürliche Befangenheit aufgewogen, welche sich jugendlich unerfahrener Gemüther bei einer nahe bevorstehenden Uebersiedelung in eine völlig fremde Umgebung gern bemächtigt. Bedachtsam gönnte er ihr daher Zeit, sich mit der neuen Lage, in welche sie durch das Zusammentreffen mit ihm gerieth, vertraut zu machen.

Sie erreichten eine Uferstelle, von welcher aus sie über die Weiden hinweg zwei sich kreuzende, scheinbar auf dem Wasser schwimmende und von einer Stange gehaltene Bogenstäbe entdeckten. Lucretia blieb wieder stehen, und schüchtern klang ihre Stimme, indem sie fragte, ob vor ihrer Einkehr auf dem Karmeliterhofe sie dem unten beschäftigten Fischer ein Weilchen zusehen möchten.

Perennis, nicht in Zweifel über ihre Stimmung, war sogleich bereit. Auf einem schmalen Pfade gelangten sie zu dem Fischer hinab. Derselbe saß auf einem ins Wasser hineingebauten Rasendamm und betrachtete starr die das Netz in der Tiefe haltenden Bogen. Sein Rücken war vom Alter gebeugt; weißes Haar lugte unter der abgetragenen, langschirmigen Mütze hervor und fiel bis auf den Kragen seiner Weste nieder. Die Annäherung der Fremden schien er nicht zu bemerken, zumal diese, um seinen Fang nicht zu beeinträchtigen, sich mit großer Vorsicht einherbewegten und, bis auf einige Schritte hinter ihm angekommen, stehen blieben.

Mehrere Minuten verrannen in tiefer Stille. Endlich griff der alte Mann nach der mit kurzen Holzknebeln durchschossenen Zugleine, und behutsam begann er, das Netz zu heben. Höher und höher stieg dasselbe, und als das bauchige Gewebe die Fluthen ganz verließ, sprangen zwei größere Fische in demselben.

„Wir haben Glück gebracht,“ redete Perennis nunmehr den Fischer an, „und es trifft uns nicht der Vorwurf, den Fang gestört zu haben.

Der Alte schob die Beute in den von seinem Halse niederhängenden Sack, warf das Netz wieder aus, und dann erst kehrte er sich den ihn Beobachtenden zu.

Einen finsteren Blick, als hätte er sie um ihre Jugend beneidet, warf er auf Lucretia, und mit der Hand über das von weißen Bartstoppeln besetzte Kinn streichend, antwortete er grämlich:

„Was sich fangen soll, fängt sich, ob Zwei zusehen, oder ein halbes Dutzend.“

„So hindert's nicht, wenn wir kurze Zeit hier verweilen?“ fragte Perennis, „unser Weg ist zwar nicht mehr weit, allein ein Viertelstündchen der Rast wäre mir so willkommen, wie der jungen Dame hier.“

„Mich hindert nichts,“ erklärte der alte Mann, indem er den Damm verließ und die beiden Fische in einen vom Wasser bespülten Netzbeutel steckte, „nein, mich hindert's nicht; das Ufer ist für alle, und ich habe kein Recht, Jemand fortzuweisen.“

„Sie wohnen in der Nähe?“ führte Perennis das Gespräch weiter, und nach einer einladenden Bewegung zu Lucretia, ließen Beide sich auf eine der von früheren Wasserständen herrührenden Erdabstufungen nieder.

„Nicht in der Nähe,“ hieß es mürrisch zurück, „zehn Minuten Wegs von hier, im Festungsgraben bei der Stadt. Aber auf dieser Stelle und 'ne Kleinigkeit aufwärts und abwärts, habe ich meine vierunddreißig Jahre 's Netz ausgeworfen. Hoffe, auch noch länger hier auszuhalten.“

Er setzte sich wieder auf seinen Damm, kehrte sich indessen halb nach dem Ufer um, dadurch andeutend, daß er bereit sei, das Gespräch weiter zu spinnen.

„Dreißig und einige Jahre sind eine lange Zeit,“ erwiderte Perennis, „es läßt sich voraussetzen, daß Sie mit den Verhältnissen auf dem Karmeliterhofe einigermaßen vertraut sind.“

Der Fischer warf einen argwöhnischen Blick auf den Frager, strich wieder über sein gebräuntes und tief gerunzeltes Gesicht, betrachtete das junge Mädchen einige Sekunden nachdenklich, und wie mit Widerstreben entwand es sich seinen eingefallenen Lippen:

„Den Karmeliterhof kenne ich gut genug, um zu wissen, daß nicht viel Segen d'rum und d'ran hängt. Der hat manchen Herrn gehabt in den letzten fünfzig, sechszig Jahren, aber lange ist keiner glücklich d'rauf gewesen. Es scheint 'n Bannfluch an dem alten Gemäuer zu kleben. Vielleicht haben's vor Zeiten die Mönche versehen, daß sie immer noch nicht zur Ruhe gelangen können und es dafür den Leuten anthun.“

„Unsinn alter Freund,“ versetzte Perennis heiter, um Lucretia zu beruhigen, deren Blicke ängstlich an dem verwitterten Greisenantlitz hingen, und die bei der unheimlichen Kunde unbewußt ihm etwas näher rückte, „wer einmal todt ist, dessen Schlaf kann durch nichts mehr gestört werden. Ging's aber mit dem Hofe abwärts, so lag es an den äußeren Verhältnissen.“

Der Fischer lachte höhnisch. Dann bemerkte er, wie zu sich selbst sprechend:

„Ich habe den Karmeliterhof gekannt, als er wie 'ne Brautjungfer aus seinen grünen Gärten über den Rhein schaute und lustige Gesichter aus- und eingingen. Jetzt sehen Sie zu, was aus ihm geworden ist. Die Mauern stehen noch, aber die lustigen Gesichter – wer weiß, wo die geblieben sind; mögen sich längst in die Erde gelegt haben, junge wie alte.“

Wie um sich trüber Visionen zu erwehren, griff er hastig nach der Zugleine. Weniger vorsichtig, als gewöhnlich, hob er das Netz – diesmal ohne Beute – und senkte er es in die Fluthen. Dann kehrte er sich den hinter ihm Sitzenden wieder zu. Perennis hatte das Haupt geneigt. Die so jäh wach gerufenen Erinnerungen schienen sich wie ein Alp auf sein Gemüth gewälzt zu haben. Lucretia's Blicke hafteten ängstlich an dem unheimlichen Alten. Jede einzelne seiner Bewegungen verfolgte sie, als hätten dieselben in engster Beziehung zu seinen Mittheilungen gestanden. Ihr sonst so schwer zu erschütternder Frohsinn hatte unbestimmten Befürchtungen seine Stelle eingeräumt. Verschärft wurden dieselben durch Perennis' sinnendes Schweigen. Auch er trachtete vergeblich, die Schilderungen des alten Mannes in das Reich wirrer Phantasien zu verweisen.

Dieser war im Begriff, das Schweigen zu brechen, als es plötzlich zwischen den Weiden rauschte und knickte. Gleich darauf trat mit wunderbar elastischen und lebhaften Bewegungen ein Mädchen ins Freie, welches durch seine auffallende Erscheinung schnell die Eindrücke verwischte, denen Perennis und Lucretia eben noch so gänzlich unterworfen gewesen. Man hätte dasselbe für eine Rheinnixe halten mögen, welche nach einem Spaziergange auf trockenem Boden herbeieilte, um den zur Verkleidung hervorgesuchten leichten Kattunrock von ihrem prachtvoll gebauten Körper zu streifen und sich kopfüber in das heimische Element zu stürzen. Der ungehemmte Einfluß der Sonne hatte ihr Antlitz, Hals und Arme leicht gebräunt. Das goldblonde Haar, ursprünglich am Hinterkopf lose zusammengesteckt, war seinen Banden entschlüpft und floß in schweren, unregelmäßigen Wellen tief über Nacken und Schultern nieder. Als einzige Fessel diente demselben eine geschmeidige Ranke von wildem Wein, welche sie in einem Anfall toller Kinderlaune zweimal um ihr Haupt geschlungen hatte. Unter den die etwas niedrige Stirn beschattenden Blättern aber schauten ein Paar großer dunkelblauer Augen hervor, deren Glanz man mit dem geheimnißvollen Funkeln von Diamanten hätte vergleichen mögen. Die Farbe der Gesundheit schmückte ihr regelmäßig ovales Antlitz und erhöhte den Ausdruck von Energie und Furchtlosigkeit, wogegen es um den lieblichen Mund wie Lust an Spott und Neckereien lagerte. Ein dünnes blaues Tuch hatte sie nachlässig um den Hals geschlungen. Auffallend weiße Hemdärmel bauschten sich eben so nachlässig unter den Schulterstücken des Kattunrockes hervor. Jede einzelne Falte verdankte ihr Entstehen dem Zufall, und doch rief es den Eindruck hervor, als wären sie peinlich geordnet gewesen. Selbst der feine Staub auf den kleinen gebräunten Füßen schien mit Bedacht aufgetragen zu sein.

„Guten Tag Großvater; da bringe ich Dein Mittagessen!“ hob sie an, indem sie das Weidendickicht verließ; dann stockte sie. Sie war der Fremden ansichtig geworden, die erstaunt zu ihr aufsahen, wie sich fragend, woher sie so plötzlich gekommen sei.

„Stell den Korb hin, Gertrud, und begrüße die Herrschaften,“ antwortete der Fischer, „Du siehst, ich bin nicht allein hier.“

Gertrud schob den Korb in die kleine Laubhütte, welche bei Unwetter dem alten Manne zum Schutz diente; dann sich Perennis zukehrend, richtete sie ihre großen Augen durchdringend auf ihn.

„Maria Joseph!“ rief sie aus, „die Herrschaften müssen von weit hergekommen sein, daß es ihnen hier am Wasser so wohl gefällt,“ und sich Lucretia zukehrend, betrachtete sie diese mit einer gewissen zudringlichen Neugierde.

„Von weit her,“ gab Perennis zu, und wie man wohl über ein freundliches Räthsel brütet, sah er auf das seltsame Mädchen, „ich wenigstens; die junge Dame hier antwortet wohl lieber für sich selbst.“

„Zwei Stunden bin ich heute schon gewandert,“ versetzte Lucretia freier, wie nach der ersten Ueberraschung durch die Nähe eines weiblichen Wesens mit neuem Muth erfüllt, „und woher ich komme – das ist weniger wichtig, als das Wohin. Ich will nach dem Karmeliterhofe.“

„Zu der verschrobenen Frau Marquise?“ fragte Gertrud, und in ihren glanzvollen klugen Augen blitzte es feindselig auf, als hätte sie Lucretia mit Gewalt von einem Besuch bei der genannten Person zurückhalten wollen.

„Verschrobene Marquise?“ wiederholte Lucretia peinlich berührt.

„Nun ja,“ erklärte Gertrud unbefangen, denn Lucretia's Frage mochte sie überzeugen, daß ihr erster Verdacht ein unbegründeter gewesen, „wer so lebt, wie die, kann nur verschroben sein. Ich möchte keinem rathen, unaufgefordert sich bei ihr einzudrängen.“

„Ganz so böse wird es nicht sein,“ bemerkte Perennis mit Rücksicht auf die Stimmung seiner holden Nachbarin beschönigend; „beinah jeder Mensch hat seine Seltsamkeiten, die nur zu gern ungünstig beurtheilt werden,“ und befürchtend, daß bei längerem Verweilen der bereits unfreundlich angeregten Phantasie Lucretia's noch mehr Nahrung zu düsteren Bildern geboten werde, erhob er sich. „Wir werden ja bald genug erfahren, wie es auf dem Hofe aussieht,“ fügte er hinzu, als Lucretia seinem Beispiel folgte, „in wenigen Minuten sind wir oben, und Sie, guter Freund, sind gewiß froh, Ihr Mittagbrod ungestört verzehren zu können.“

„Ich begleite die Herrschaften,“ nahm Gertrud das Wort, bevor der alte Mann etwas zu erwidern vermochte. „Großvater, sind Fische für die Frau Marquise da?“

„So viel wie die gebraucht, hab' ich gefangen, und nicht 'ne Flosse mehr,“ antwortete der Fischer noch grämlicher, als zuvor, „'s ist kein glücklicher Tag heute. Nimm's Netz mit Allem was d'rin ist, und handle nicht lange d'rum.“ Dann setzte er sich im Eingange der Laube nieder, und den Korb öffnend, begann er sein Mahl so gleichmüthig zu ordnen, als hätte er sich mit seiner Enkelin allein befunden.

Perennis beobachtete ihn schweigend. Gern hätte er länger mit ihm über die Vergangenheit geplaudert; doch einerseits schien der alte Mann seit Eintreffen seiner Enkelin weniger mittheilsam geworden zu sein, dann aber fuchtele er, neue Offenbarungen hervorzurufen, welche Lucretia's Stimmung vielleicht noch mehr trübten.

„So gehaben Sie sich wohl!“ rief er dem Alten zu, „sollte ich Sie zu sprechen wünschen, wo finde ich Sie und nach wem habe ich zu fragen?“

„Treffen Sie mich nicht hier, so fragen Sie nach dem Ginster, und Jeder auf dieser Seite der Stadt zeigt Ihnen den Weg nach meinem Hause,“ antwortete der Fischer.

„Also auf Wiedersehen, Ginster,“ versetzte Perennis, indem er die Schachtel wieder an sich nahm. Dann bog er in den engen Pfad ein und langsam bahnte er sich seinen Weg durch das Weidengebüsch nach dem Abhange hinauf. Lucretia schloß sich so dicht an ihn an, daß seine breiten Schultern ihr Schutz gegen die zurückschnellenden Zweige gewährten. Etwas weiter zurück folgte Gertrud. Sie trug das Netz mit den Fischen, dasselbe sorglos ab und zu schwingend. Als Perennis und Lucretia auf dem Uferrande sich nach ihr umkehrten, überwand sie die letzte Abstufung mit zwei Sprüngen. Dieselben führte sie mit einer Leichtigkeit und einer so vollendeten Grazie aus, daß es fast den Eindruck erzeugte, als wäre sie heraufgeschwebt. Sie selbst betrachtete diese Bewegung offenbar als etwas Selbstverständliches, wogegen Lucretia und Perennis sich gegenseitig mit Blicken anschauten, in welchen ihr ganzes Erstaunen über die ihnen unerhört erscheinende Kraft und Anmuth ausgeprägt war.

„Hier ist der Weg,“ bemerkte Gertrud, indem sie neben die beiden Gefährten hintrat und stromabwärts wies. Dann hielt sie sich beständig einen Schritt von ihnen, augenscheinlich um Lucretia mit Muße zu betrachten. Perennis entging dies nicht. Anfänglich meinte er, in dem schönen bräunlichen, malerisch von Weinblättern beschatteten Antlitz nur den Ausdruck bewundernder Neugierde zu entdecken. Allmälig aber verwandelte sich derselbe in den verhaltenen Mißvergnügens. Er errieth, daß nur seine Nähe das wilde Mädchen hinderte, die versteckten Empfindungen des Uebelwollens durch spöttische Fragen und beißende Bemerkungen an den Tag zu legen. Lucretia schaute wieder heiter; allein es war eine erkünstelte Sorglosigkeit. Es ging daraus hervor, daß sie dichter neben Perennis einherschritt und, wie von einem Instinkt geleitet, so oft sie einem der scharf prüfenden Blicken aus den glanzvollen Augen begegnete, scheu und befangen zur Seite sah.

Wiederum mochte Perennis seiner lieblichen Begleiterin Empfindungen errathen, und um dieselben freundlich zu beeinflussen, brach er das Schweigen mit den Worten:

„Gertrud ist also Dein Name, liebes Kind?“

„Gertrud Schmitz,“ antwortete diese gleichmüthig, „gewöhnlich nennt man mich den Irrwisch. Was kümmert's mich? Ich verlache alle Menschen,“ und hinauf flog sie nach einem der den Weg begrenzenden, wohl drei Fuß hohen Prellsteine, und nachdem sie einige Sekunden mit den Zehenspitzen auf dem äußersten Rande desselben das Gleichgewicht bewahrt hatte, schwebte sie auf der andern Seite, wie von den Schwingen eines Falters getragen, zur Erde nieder.

Lucretia und Perennis wechselten wieder Blicke des Erstaunens, dann kehrte Letzterer sich dem Fischermädchen zu:

„Also Gertrud Schmitz; doch warum Irrwisch?“

„Ich weiß es nicht; vielleicht weil ich überall und nirgend bin. Mögen sie mich nennen, wie sie wollen, anders machen sie mich deshalb noch lange nicht. Manche rufen mich auch Rheinhexe und Rheinnixe. Wenn ich nur eine Hexe wäre; ich wollte ihnen etwas Anders zeigen. Vielleicht kommt's noch.“

„Du verkaufst Deine Fische häufiger auf dem Karmeliterhofe?“

„Zweimal die Woche,“ antwortete Gertrud mit geringschätzigem Achselzucken; „die Marquise zahlt nicht sonderlich. Ich diene ihr als Aufwärterin, 's ist mehr eine Gefälligkeit von mir und weil ich ihre wunderlichen Reden gern höre.“

„Mag die Dame sein wie sie wolle; bösartig ist sie offenbar nicht,“ bemerkte Perennis überlegend.

„Es kommt d'rauf an, mit wem sie zu theilen hat,“ erwiderte Gertrud spöttisch, und abermals traf einer ihrer schadenfrohen Blicke Lucretia. Sobald sie aber gewahrte, daß diese ängstlich aufsah, fügte sie förmlich boshaft hinzu: „Hab' mir Manches von ihr gefallen lassen müssen, bevor wir uns aneinander gewöhnten. Sie ist falsch, wie eine Katze. Ich möchte keinem Fremden rathen, ihr die Tageszeit zu bieten.“

Sie hatten einen rauhen, wenig benutzten Fahrweg erreicht, welcher von einer alten Viehtränke aus aufwärts führte. Indem sie um einen Erdvorsprung herum in denselben einbogen, blieb rechts von ihnen ein verwilderter Akazienhain liegen, untermischt mit einigen Ahornbäumen. Zwischen den Stämmen hindurch war eine Rasenfläche von mäßigem Umfange sichtbar, deren andere Seite wieder von Baum- und Strauchvegetation begrenzt wurde. Von Einfriedigungen war nirgend eine Spur sichtbar. Perennis seufzte tief auf. Er fühlte, daß Lucretia's Blicke auf ihm ruhten.

„Das ist also der englische Garten,“ sprach er wie in Gedanken, „eine traurige Wildniß, wo einst peinliche Ordnung herrschte. Selbst die Vögel, welche diese Stätte so anmuthig belebten, scheinen dieselbe jetzt zu meiden.“

„Wer hörte je um die Mittagszeit Vögel singen?“ fragte Gertrud mit einem Ausdruck der Ueberlegenheit, und sie schwang das Netz mit den Fischen im Kreise, wie Lucretia beim Abschied von Splitter mit ihrem Hut gethan.

„Vollkommen richtig,“ erwiderte Perennis schwermüthig, und um den Eindruck seiner trüben Bemerkung auf Lucretia abzuschwächen, fuhr er heiterer fort: „aber ich sehe voraus, sie werden ihre Stimmen wieder erheben, sobald sie mit einem Antlitz vertraut geworden, auf welchem geschrieben steht, daß man ihrem Singen und Zwitschern mit herzlicher Freude lauscht,“ und ein theilnahmvoller Blick streifte das liebliche Haupt an seiner Seite.

Gertrud erfaßte den Blick. Sie verstand ihn, bezog aber schadenfroh die Bemerkung auf ihre eigene Person.

„Alle Tage gehe ich hier,“ sprach sie erheuchelt einfältig, „und alle Tage zeige ich ihnen mein lustigstes Gesicht, ohne daß auch nur ein Sperling auf mich achtete.“

Ueber Perennis' Antlitz flog eine Wolke des Mißmuthes. Er mochte sich fragen, was Lucretia bei ihrem längeren Aufenthalte auf dem Hofe im wiederholten Verkehr mit dem unbändigen Irrwisch zu erdulden haben würde. Er sann noch auf eine Erwiderung, als Gertrud ausrief:

„Hier ist der Karmeliterhof!“

Zugleich wies sie mit der das Fischnetz tragenden Hand nach der rechten Seite hinüber, wo zwischen den Baumwipfeln der Giebel eines zweistöckigen Wohnhauses sichtbar wurde.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Schatz von Quivira