Skizze aus dem Bürgerleben um 1800

Vor 50 bis 60 Jahren gestatteten die Verhältnisse dem tätigen, geschickten und haushälterischen Bürger, ein kleines Vermögen zu erwerben, durch welches bei eintretenden besondern Familienunfällen seine Existenz gesichert und nach seinem Tode seiner Familie ein, wenn auch dürftiges Auskommen aufbehalten wurde. Einer Meisterwitwe war es eine Schmach, die öffentliche Kassen in Anspruch zu nehmen; so selten kam es vor und so tief fühlte man sich dadurch herabgedrückt.

Der Grund davon war: die Preise der Arbeiter waren besser und das Leben wohlfeiler; die Kleider einfacher; die Freuden wohlfeiler, weil in der Häuslichkeit gesucht; die Sitten reiner. Seitdem hat eine maßlose, ja anarchische Konkurrenz die Preise bedeutend niedergedrückt; Luxus und Genusssucht steigen dagegen mit jedem Tage; der Handwerker hinterlässt in der Regel nur wenig; von erworbenem Vermögen ist selten die Rede; verlorenes dagegen bildet oft den Gegenstand der Unterhaltung. Der Bürger braucht die Anstrengung aller seiner Kräfte, um nicht zu fallen, um stehen zu bleiben; an Vorwärtsgehen wird selten mehr gedacht. Das Armenwesen nimmt in furchtbarem, stets wachsendem Maße die öffentlichen Kassen in Anspruch: der Krebsschaden der Gesellschaft, Pauperismus genannt, frisst überall immer weiter um sich.


Hier haben wir aber ein merkwürdiges Schauspiel. Die Moralität der höheren Klassen der Gesellschaft, der Klassen, die an manchen Stellen so knickerig und knauserig dem Bürger seinen verdienten Lohn abhandeln, tritt zwischen den armen Gefallenen und den Hungertod und sucht jenen mit großartiger Aufopferung gegen den letzteren zu verteidigen. Leider nur tun die hochherzigen Wohltäter dieses nicht oft direkt, und so entstehen denn Szenen, die wir jetzt betrachten in dem Bilde der Stadtarmen.

Die heillosen Akkordarbeiten an den Wenigstnehmenden, die nicht nur bei Staatsbauten, sondern auch bei Privaten überhand nehmen, sind der Ruin von vielen fleißigen und geschickten Handwerkern und sowohl der Staat als die Klasse der Reichen erziehen sich durch diese Manipulation die Armen selbst, die ihnen doch am Ende zur Last fallen. Fort also mit aller Akkord-Arbeit!

Ist aber einmal der Handwerker auf solche Weise ruiniert, so bricht das Unglück von allen Seiten ein. Sorgen und Missmut erzeugen nicht selten Krankheiten und, dass ein Arbeiter während seiner Arbeitszeit nicht für längere Zeit krank sein darf, ohne mit scharfen Schritten seinem Untergange zuzueilen, versteht sich von selbst. Vergeblich weint die tätige Hausfrau vor Scham; sie eines wohlhabenden Bürgers Tochter, hat ihr Vermögen, die Hoffnung ihrer alten Tage, auch mit hergeben müssen.

Sie geht nun zur Armenpflege, um etwas Brot und Holz zu bekommen, um das Leben und die Gesundheit ihrer Kinder für einen Tag zu stiften. Da steht sie denn neben einem Haufen rohen Gesindels; einige gealterte Dirnen, denen sie früher manches Stück Brot gegeben, setzen ihre bösen Zungen in weithin schallende Tätigkeit („die sondert sich ab von uns; die will etwas Besseres sein als wir; die hats auch auf dem Leibe etc. etc.“). Sie findet hier kein freundlich ermutigendes Wort; denn von allen Seiten wird der Vorstand überlaufen. „Kommen Sie morgen wieder,“ heißt es hier. — Morgen können meine Kinder freilich krank sein vor Hunger und Kälte, doch darf ich dem Manne nicht lästig werden. — Sie geht nach Hause, nimmt ihre zum Wechseln zurückgelassenen Kleider, trägt sie ins Pfandhaus und kauft Brot.

Indessen haben die Dirnen und anderes leichtsinniges Gesindel sich mit Brot, Holz und Geld, das sie erhielten, einen guten Tag gemacht und manche, durch irgend eine Connexion oder durch glatte Reden empfohlen, haben sogar ihren Teil ins Haus geschickt erhalten, vielleicht ohne dessen ganz bedürftig, vermutlich ohne dessen würdig zu sein.

In einem baufälligen Hause in einem vierten Stock wohnt eine arme Witwe mit vier Kindern. Sie schläft auf ein wenig halbverfaultem Stroh; die Hälfte ihrer dürftigen Kleidung gibt sie ihren frierenden Kindern; sie selbst kann den Frost nicht beachten; bei einem elenden Lämpchen hat sie bis 2 Uhr Nachts genäht, um morgen Brot für ihre Kinder zu kaufen. Im unteren Stocke stößt eine wohlbezahlte Sängerin die höchsten Töne aus und regaliert sich an Wein und köstlichem Backwerke. So nahe wohnt oft der Schmerz bei der Lust!

Die großartigen, bewunderungswerten Opfer der höheren Klassen der bürgerlichen Gesellschaft fließen oft — und zwar meistens ohne direktes Verschulden der Austeiler! — den Unwürdigen zu; die würdigen Armen, die verunglückten Arbeiter, ihre Witwen und Waisen, leiden bei aller Wohltätigkeit edler Menschenfreunde — Hunger, Kälte, kurz jede Art erdenklicher Entbehrung! Millionen Tränen braver, redlicher Menschen fließen täglich, trotz der größten Opfer edler Menschenfreunde! Die ungemessene Konkurrenz, der Mangel an Kredit für den Unbemittelten sind ihr unversiechlicher Quell. Die herabgedrückten Arbeitspreise, die steigenden Preise des Lebensunterhaltes richten den niederen und mittleren Bürgerstand zu Grunde; die Spekulanten und die Wucherer sind seine lachenden Erben.

Die Armenunterstützung unterscheidet nicht immer nach der größeren Würdigkeit; der freche Tagedieb schnappt dem redlichen verarmten Manne und die versunkene Buhldirne der armen Witwe und ihren Waisen tausendmal das kärgliche Brot weg, abgesehen davon, dass diese unter den Auswurf der Gesellschaft sich mengen und sich mit diesem verwechseln lassen müssen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Sammler - Band 17