Pius IX. und die Reform

Die neueste Allokution des Papstes gibt der „Weser Zeitung“ Anlass, sich über sein Verhältnis zur Reform in folgenden tiefgedachten und treffenden Worten auszusprechen:

„Papst Pius IX., der größte Reformer unseres Jahrhunderts, ist eine tragische Person, weil seine Stellung und seine Handlungsweise den inneren Widerspruch zu ihrer Voraussetzung haben. Dieser innere Widerspruch wird vielleicht über kurz oder lang hervorbrechen; ja es ist nicht unwahrscheinlich, dass schon jetzt ein geheimes Bangen dem Träger der dreifachen Krone die Brust beschwert, wenn er die Folgerungen sieht, welche aus seinen eigenen ersten Handlungen hervorzugehen beginnen. Es geht ihm, wie es allen Reformern geht, deren Liberalismus mehr aus dem Herzen und dem Gemüt als aus dem Verstände und der prinzipiellen Einsicht und ihrer unerbittlichen Konsequenz hervorgetrieben wird. Er beginnt zu erschrecken bei dem Anblick und bei der weiteren Aussicht auf die Konsequenzen, welche die Nation bereit ist aus Prinzipien oder vielmehr aus Tatsachen zu entwickeln, zu denen der Humanismus seines Handelns den Anstoß gegeben bat, ohne dass er die Kraft besaß, die letzte Bedeutung und die Folgen dieses Handelns zu berechnen.


Warnende Einflüsterungen von hundert Seiten her werden dazu kommen, diese Beängstigung des wohlwollenden Herrschers zu vermehren, und der Hinblick auf eine öffentliche Meinung, die in politischer Hinsicht schon mehrmals von dem „schlecht beratenen an den besser zu beratenden Papst“ appelliert hat, mag die Stimmen der Jesuiten und Finsterlinge, der Schwachen und Kleinherzigen, der Verehrer des Alten, weil es alt und hergebracht, kurz aller Derer verstärken, die in Pius IX. Reformen von Anfang herein ein Werk übler Vorbedeutung für die Hierarchie und für die Macht und das Ansehen ihres Regiments erblickten.

Dafür sind allerdings die letzte Allokution und einige ihr vorausgehende Veröffentlichungen des heiligen Vaters, z. B. in der Schweizer Angelegenheit, deutliche Beweise. Pius IX. beginnt eine Ahnung zu empfinden, dass der Dualismus, die Scheidung des Weltlichen und Geistlichen, die sein Herz zu machen wünscht, unmöglich sei, dass jede Bewegung und Veränderung aus dem einen Gebiete eine entsprechende Veränderung und Bewegung auf dem andern herbeiführen müsse. Und diese bange Ahnung für das Geschick der „Kirche“ und ihrer Macht ist es, welche ihn seit einiger Zeit dahin drängt, wieder und immer wieder auszusprechen, dass er weit davon entfernt sei, durch seine liberalen und reformistischen Neigungen und Maßregeln auf dem weltlichen und bürgerlichen Gebiete den geistlichen Status quo der Kirche, irgendwie ändern zu wollen.“
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Sammler - Band 17