Frankreichs und Englands Kriegs- und Seemacht

So weit ist es bereits mit der „Entente cordiale“ zwischen Frankreich und England gekommen, dass man auf beiden Seiten ernstliche Besorgnisse wegen einer möglichen Invasion des nachbarlieben Verbündeten hegt. Auf beiden Seiten will man die Küsten befestigen und auf beiden Seiten vergleicht man die Hilfsmittel des Nachbars mit den eigenen. Auf dem Meere ist freilich Englands Macht noch eben so groß und größer, als sie während der zwanzigjährigen Revolutionskriege war, aber sollte nicht der dreißigjährige Friede, verbunden mit den beiden großen Erfindungen desselben, dem Dampf und den Eisenbahnen, auch Frankreichs Seemacht einen ganz anderen Charakter verliehen haben, als sie unter Napoleon hatte? Darüber gibt uns eine Notiz, die wir in der „London Illustrated News“ finden, folgenden Aufschluss:

„Dampf und Eisenbahnen verleihen unseren möglichen Feinden keinen besonderen Vorteil, uns gegenüber. Wir haben Beides, und zwar in größeren Verhältnissen: unsere Eisenbahnen sind viermal so lang, als die in Frankreich, und unsere Dampfmacht ist der seinigen in einem noch größeren Verhältnisse überlegen. In der gesamten französischen Handelsmarine soll es nur ein einziges Schiff von 700 Tonnen geben, und was ihre Bemannung betrifft, so scheint der lange Friede, wie wir aus Ereignissen der neuesten Zeit schließen dürfen, nichts dazu beigetragen zu haben, unsere Nachbarn zu guten Seeleuten zu machen. Die Franzosen sind ein kriegerisches Volk; mit ihrer Armee würde es die unsrige allein schwerlich aufnehmen können: denn wir vermögen nicht aus einer Bevölkerung von 35 Millionen unsere Rekruten auszuheben, und keinerlei noch so große Gefahr würde den Engländer mit der Konscription befreunden.


Demnach ist allerdings jenseits des Kanals eine ungeheuere Kriegsmacht, sehr viele militärische Erfahrung und hinreichender Mut, der auch wohl durch den Nationalhass noch befeuert werden würde. Aber diese Macht kann für England nur dann fürchterlich sein, wenn sie an seinen Küsten landet. Auf ihr eigenes Gebiet beschränkt, kann uns eine halbe Million Soldaten eben so wenig schaden, als wenn sie sich im Monde befänden. Es kommt also bloß darauf an, das Meer unwegbar zu machen; der Kanal ist unsere Verteidigungslinie, und diese zu erzwingen, sind die Franzosen jetzt, des sind wir vollkommen überzeugt, noch viel weniger im Stande, als sie es je waren, während wir dagegen viel mehr Mittel als früher besitzen, den kühnsten Versuch, der gemacht werden könnte, zurückzuweisen. Wäre erst ein ausländisches Heer gelandet, dann hätte es freilich gewonnenes Spiel aber die Überschiffung und die Landung, das ist eben das Unmögliche. Haben doch die Franzosen jetzt, im tiefsten Frieden, nicht einmal eine Dampfboot-Linie zwischen Havre und New-York herstellen können? Vier Dampf-Fregatten, auf den königlichen Werften erbaut, sind der Gesellschaft überlassen worden, aber sie haben nicht einmal eine Reise eine jede gemacht; sie wurden jedes mal von Segelbooten überflügelt und haben alle Arten Unfälle erlitten, von denen der letzte der schlimmste war, indem de „Union“, nachdem sie acht Tage in See war, durch und durch leck nach Havre zurückkehren musste.

Diese Fregatten, miserabel gebaut und noch miserabler geleitet, haben auf das traurigste dargetan, wie wertlos die Materialien sind, aus denen die französischen Dampfschiffe bestehen, und dagegen auf das unzweideutigste bestätigt, dass die große Überlegenheit, welche wir vor der Anwendung des Dampfes besaßen, durch dessen Einführung in keiner Weise vermindert worden, sondern unter dem neuen Systeme noch vollständig vorhanden ist. Denselben Schluss dürfen wir auch aus den zahlreichen Schiffbrüchen ziehen, welche französische Kriegsschiffe im Lauft dieses Jahres erlitten und selbst die Aufmerksamkeit der französischen Presse erregt haben. Wir sind viel besser im Stande, Frankreich zu überfallen, als die Franzosen England, mit dem Unterschiede jedoch, dass wir keine disziplinierte Macht landen könnten, die nicht von der Masse drüben zu überwältigen wäre, so dass ein Versuch unsererseits bare Tollheit sein würde; während andererseits ein französisches Heer nichts als undiszipliniertes Volk fände, um seinen Marsch gegen London aufzuhalten. Allein die große Schwierigkeit für ein solches Heer würde immer sein, herüberzukommen überhaupt. So ist glücklicherweise auf beiden Seiten eine Unmöglichkeit vorherrschend, und die Umstände sorgen, wie es scheint, für beide Länder besser, als sie es selbst zu tun vermögen. Um darzutun, wie beiderseitig die Furcht ist, führen wir an, dass am vergangenen Montag erst eine Deputation aus Havre, aus dem Maire, so wie aus den beiden Präsidenten des Civil- und Handelsgerichts, bestehend, in Paris eintraf, um nachzusuchen, dass den Kammern ein Gesetzentwurf vorgelegt werde wegen Befestigungen der Küste und Beschützung des Hafens gegen Überfälle. Und die Einwohner von Havre haben recht, denn dieser Hafen und Toulon und andere französische Städte sind während der letzten Kriege mehr als einmal von britischen Schiffen bombardiert und schwer beeinträchtigt worden, während unsere Küste nie auch nur den Schall einer französischen Kanone gehört hat. Welche Seite des Kanals hat also mehr Ursache, besorgt zu sein?“
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Sammler - Band 17