Der Rückzug der Franzosen aus Russland.

Aus dem Nachlasse des verstorbenen Königlich preußischen Generals der Infanterie Ernst von Pfuel
Autor: Pfuel, Ernst Heinrich Adolf von (1779-1866) preußischer General der Infanterie, Reformer, preußischer Ministerpräsident und Kriegsminister, Erscheinungsjahr: 1867

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russland, Russen, Moskau, Kosaken, Napoleon, Franzosen, Rückzug, Befreiungskrieg, Frost, Hunger, Kälte, Winter, Vernichtung, Stadtbrand, Freiheit, Krieg, Frieden,
Herausgegeben mit Gedenknissen aus dem Leben des Verstorbenen von Dr. Fr. Förster.

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Vorwort des Herausgebers.

In einem engeren Kreise von Gesinnungs- und Schicksalsgenossen des am 3. Dezember d. J. zur ewigen Ruhe Heimgegangenen Königl. Preußischen Generals der Infanterie Ernst v. Pfuel aufgefordert, demselben durch Mittheilungen aus seinem vielbewegten Leben ein ehrendes Gedächtnis zu stiften, habe ich zunächst den, von dem Verstorbenen 1813 veröffentlichten, Bericht über den Rückzug des französischen Heeres aus Russland in dem Winter 1812 gewählt.

Die Vorlegung der von Faber-Dufour, einem Augenzeugen jener Schreckensszenen, gemachten Zeichnungen in der Versammlung des wissenschaftlichen Kunstvereins am 16. März 1863 gab dem General v. Pfuel, als Mitglied des Vereins, Veranlassung, zur Erläuterung dieser Zeichnungen ausführliche Mitteilungen aus seinen Erlebnissen jener denkwürdigen Tage in lebendigster Darstellung zu machen. In dem Protokollbuche des Vereins finden wir in dem Berichte von dieser Sitzung bemerkt: „General v. Pfuel, 1812 kaiserlich russischer Major, welcher sich in Tschernischefs Kosakenkorps an der Spitze der Verfolgungsschaaren befand, fügte zu Faber-Dufours Zeichnungen ergänzende Erläuterungen hinzu. Mit erwärmendem Jugendfeuer gab der würdige, Vierundachtzigjährige Veteran eine lebendige Schilderung der Vernichtungsszenen, welche Frost, Hunger und Pestilenz, — an Cornelius apokalyptische Reiter erinnernd, — unter den fliehenden Feinden mehr noch, als die Lanzen der Kosaken, angerichtet." —

Bei seinen Mitteilungen legte der General vornehmlich diese von ihm verfasste kleine Schrift zum Grunde, fügte jedoch noch mehrere Ergänzungen hinzu, deren Veröffentlichung er mir bei Abfassung meiner Geschichte des Befreiungskrieges gestattete, wobei er mir auch das einzige, noch vorhandene Exemplar jenes Berichtes zu jedem beliebigen Gebrauche übergab. Einen angemesseneren glaubte ich nicht machen zu können, als den, ihn als ein teures Vermächtnis; und zugleich zu ehrendem Gedächtnis des Dahingeschiedenen in einer, durch Anmerkungen am Schlusse vervollständigten, Ausgabe den Freunden der vaterländischen Geschichte zu übergeben. — Zu näherer Charakteristik des, um das Vaterland hochverdienten, von allen wahrhaften Vaterlandsfreunden hochgeachteten Ehrenmannes, sollen in einem Anhange einige Erinnerungen aus meinen eigenen Erlebnissen im näheren Umgange mit dem, mir in Kriegs- und Friedenszeiten wohlgeneigten, Freunde mitgeteilt werden.

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Der letzte Schlag, unter welchem die Freiheit Europas erliegen sollte, hatte sich französischer Seits durch Zurüstungen und Vorbereitungen aller Art mit einem Pompe und mit einer Festlichkeit angekündigt, die den Stolz der Soldaten und die Erwartungen aller Anhänger des französischen Systems ungemein in die Höhe trieben, und Manchen schon über die Trümmer des russischen Reiches hinaus, von romantischen Zügen nach Persien und Indien träumen ließ. Napoleon hatte öffentlich erklärt, dass ein unvermeidliches Schicksal Russland seinem Untergange entgegenreiße, und gab sich unverholen für den Vollstrecker jener höheren Bestimmungen aus, nach welchen die Moskowiter, als europäischer Kultur feindselige Barbaren, nach den Steppen Asiens zurückgewiesen werden sollten. Sein Ruhm, sein Glück und eine ungeheure Armee gaben seinen Worten das gehörige prophetische Gewicht. Dergleichen vermessene Reden waren aufs Imponieren berechnet, und in der Tat schloss das denkende Publikum daraus auf einen hohen Grad von Sicherheit seiner politischen und militärischen Kombinationen, während das nichtdenkende dadurch im Glauben an seine Unfehlbarkeit bestärkt ward.

Die prophetischen Worte Napoleons schienen in Erfüllung gehen zu wollen. Sobald die französischen Heere über den Niemen setzten, zogen sich die Russen von allen Seiten zurück und überließen dem Feinde die nördlichen Provinzen Polens, die sogleich die Fahne des Aufruhrs erhoben und sich den Franzosen anschlossen. Napoleon hatte seinen Soldaten versprochen, dass er sie nach Moskau führen würde; dort, hatte er ihnen gesagt, sei das Ziel aller ihrer Anstrengungen, dort erwarte sie ein rühmlicher Friede und jede Art Erholung und Genuss. Der französische Kaiser, stets die Augenblicke der Betäubung und des Schreckens zu seinen Friedensschlüssen benutzend, hatte alle seine Operationen auf die schleunige Einnahme Moskaus berechnet, denn dort war er des Friedens nicht minder gewiss als seine Soldaten. Seine Rechnung bewährte sich bis auf einen gewissen Punkt; Moskau kam in seine Gewalt; doch hier zeigte sich ein kleiner Irrtum, der Friede nämlich blieb aus, wodurch alle seine weisen Kombinationen eine ziemlich missliche Wendung erhielten. Ein Umstand, der früher schon nicht ganz mit der Unfehlbarkeit seiner Berechnungen zutraf, war die Schlacht von Borodino, wo die Russen den alten sieggewohnten Banden Napoleons (ein Lieblingsausdruck französischer Bulletins) so gut zu begegnen wussten, dass diese in ihrer Gewohnheit zu siegen ganz irre gemacht wurden, indem man sie anwies, zwei Meilen rückwärts des Schlachtfeldes ihren Kaiser als Sieger zu begrüßen. Die französischen Bulletins halfen da zwar nach, wo die alten sieggewohnten Banden nicht ausreichten, denn nichts widersteht der Tapferkeit französischer Bulletins; doch das war nur für diejenigen berechnet, die bei der Schlacht selbst nicht gewesen waren. Ruhig und mit Ordnung setzten die Russen ihren Rückzug fort; sie wussten was sie taten. Die Franzosen zogen kopfschüttelnd nach; die Ordnung des Rückzuges deutete mehr auf einen Plan, als auf eine durch Niederlage erzeugte Notwendigkeit, und die öden Städte und Dörfer längs der großen Straße stimmten nicht besonders mit den offenen Armen zusammen, mit denen, wie Napoleon gesagt hatte, die Einwohner sie empfangen würden.

Dass Napoleon Moskau ohne Schwertschlag gewann, schien ein Bürge mehr für die Richtigkeit seiner Berechnungen zu sein; doch Moskau hatte aufgehört die Hauptstadt des Reichs zu sein, denn ihre Einwohner waren bis auf wenige Tausende ausgewandert; nichts als eine öde Steinmasse kam in die Hände des Feindes, und bald ward auch diese, als freiwilliges Opfer, in einen Aschenhaufen verwandelt, zum Wahrzeichen eines Kampfes auf Leben und Tod, und als Bürge unerschütterlicher Ausdauer des Kaisers und der Nation.
Die russische Armee, unter Befehl des Prinzen Kutusow Smolenskoi, hatte sich indessen durch einen kühnen Flankenmarsch zwischen Kaluga und Moskau bei Lechtatschkowa aufgestellt, zur Deckung der südlichen Provinzen, und während ihr von allen Seiten Verstärkungen zuströmten, ermüdete und schwächte sie den Feind in täglichen Gefechten. Die russische Armee war zahlreich und voll guten Mutes, und auf allen Punkten des Reiches entwickelte der Patriotismus neue Kräfte, während französische Bulletins überall aussprengten, Russland läge bereits in den letzten Zügen, die Armee sei so gut wie vernichtet, sie bestehe nur noch aus neu geworbenen herangezwungenen Milizen, und Schrecken und Verwirrung habe sich aller Gemüter bemächtigt.

Der Marsch des Fürsten Kutusow nach Lechtatschkowa ist für jeden denkenden Militär von ganz vorzüglichem Interesse, und in mehr als einer Beziehung als meisterhaft zu nennen. Napoleon ward dadurch plötzlich in Moskau festgebannt, und wie sehr er sich auch durch Bewegungen mancherlei Art und durch Vorschiebung von Kolonnenspitzen in verschiedenen Richtungen das Ansehen gab, fortwährend zu manövrieren: so mussten doch alle seine Operationen fruchtlos in sich selbst zurückkehren, und sich in vergeblichen Kreisen ohne Zweck und ohne Erfolg um einen und denselben Punkt herumdrehen. Nach Petersburg konnte er nicht vordringen, ohne Moskau wieder Preis zu geben, und die ganze russische Armee hinter sich her zu ziehen, wodurch sogleich seine Verbindungslinie mit Polen unterbrochen, und das Heil seiner Armee auf eine seltsame Spitze gestellt worden wäre; auf den Straßen von Jaroslaw und Wladimir konnte er eben so wenig marschieren, denn der politische Endzweck seiner Invasion war bereits in Moskau erreicht, und fernere Invasionsmärsche konnten keinen andern Gewinn bringen, als das Vergnügen, einige Städte und Dörfer mehr zu verbrennen, und einige tausend Flüche mehr auf sich zu laden. Blieb er aber in Moskau stehen, so musste es mit ängstlich rückwärts gewendetem Gesicht sein, denn die russische Armee stand seitwärts in seinem Rücken und täglich ward seine Operationslinie durch Parteigänger unterbrochen, die ohne Unterlass die Gegend durchstreiften, seine Armee umschwärmten, und ihm durch Wegnahme der Transporte, Auffangen der Kuriere, Verhinderung der Fouragierungen und Aufhebung aller kleinen Detachements, Patrouillen und Marodeurs unersetzlichen Schaden zufügten. Es blieb ihm also auf die Länge nichts übrig, als entweder sich mit Macht gegen die südlichen Provinzen Russlands zu wenden, wo er immer erst die russische Armee aufsuchen und schlagen musste, und doch auch in diesem Falle wieder Moskau den kleineren auf den Straßen von Twer und Wladimir aufgestellten Corps Preis gab, oder ganz und gar zurückzumarschieren, welches wegen der drohenden Stellung des Fürsten Kutusow auch seine Schwierigkeit hatte. Unterdessen hatte Napoleon in seiner Milde freundliche Einladungen an die Bewohner Moskaus und der umliegenden Gegend ergehen lassen, zurückzukehren zu ihren Häusern und sich des Schutzes der großen Nation zu erfreuen: man begreift in der Tat nicht, warum alle diese Einladungen ganz und gar ohne Wirkung blieben, denn die früheren Kriege hatten ja gezeigt, wie heilig jede Art des Privateigentums den Franzosen sei; und was die Schändung der Kirchen und Altäre anbetrifft, so war dies gewiss mehr ein zufälliger Leichtsinn als absichtliche Ruchlosigkeit. Als zu gleicher Zeit auch einige Versuche, den Frieden einzuleiten, misslangen, glaubte Napoleon, dass es den Russen nur um Moskau zu tun sei, und erbot sich, großmütiger Weise, die Brandstätte unter Bewilligung eines Waffenstillstandes zu verlassen und sich bis Wiasma zurückzuziehen, wo dann von weitern Unterhandlungen die Rede sein sollte; dieser Vorschlag ward jedoch ebenfalls abgelehnt, und dabei gesagt, dass man sich wundere, von Frieden und Waffenstillstand zu hören, da jetzt vielmehr der Krieg für die Russen erst anginge. Die Lage der französischen Armee war seltsam genug, in einem weiten Kreise, auf den Straßen von Twer, Wladimir, Riäsan und Kaluga, um das brennende Moskau wie um einen flammenden Mittelpunkt gelagert, befand sie sich in einer menschenleeren Wüste; täglich strömten die Soldaten zu Tausenden aus dem Lager nach der Stadt, um zu plündern, und diele tausend Andere zerstreuten sich in der Gegend umher und suchten nach Brod und Fourage. In den Wäldern und Morästen lagen Schaaren bewaffneter Bauern im Hinterhalte und erschlugen jeden Tag viele Hunderte von jenen Herumzüglern, und wer den Bauern entging, fiel in die Hände der Parteigänger und Kosaken.

Pfuel, Ernst von (1779-1866) General der Infanterie, preußischer Ministerpräsident und Kriegsminister

Pfuel, Ernst von (1779-1866) General der Infanterie, preußischer Ministerpräsident und Kriegsminister

Der Rückzug der Franzosen aus Russland, Titelblatt

Der Rückzug der Franzosen aus Russland, Titelblatt

Der Rückzug der Franzosen aus Russland, Vorwort 01

Der Rückzug der Franzosen aus Russland, Vorwort 01

Der Rückzug der Franzosen aus Russland, Seite 30

Der Rückzug der Franzosen aus Russland, Seite 30

Der Rückzug der Franzosen aus Russland, Seite 49

Der Rückzug der Franzosen aus Russland, Seite 49

Der Rückzug der Franzosen aus Russland, Seite 83

Der Rückzug der Franzosen aus Russland, Seite 83

Die Trümmer der französischen Armee bei ihrer Rückkehr ins Vaterland. 4

Die Trümmer der französischen Armee bei ihrer Rückkehr ins Vaterland. 4

Die Trümmer der französischen Armee bei ihrer Rückkehr ins Vaterland. 2

Die Trümmer der französischen Armee bei ihrer Rückkehr ins Vaterland. 2

Die Trümmer der französischen Armee bei ihrer Rückkehr ins Vaterland. 3

Die Trümmer der französischen Armee bei ihrer Rückkehr ins Vaterland. 3

Die Trümmer der französischen Armee bei ihrer Rückkehr ins Vaterland. 1

Die Trümmer der französischen Armee bei ihrer Rückkehr ins Vaterland. 1

Grenadier der Alten Garde Napoleons, Ölbild von Edouard Detaille

Grenadier der Alten Garde Napoleons, Ölbild von Edouard Detaille

Napoleon Bonaparte (1769-1821) französischer Kaiser

Napoleon Bonaparte (1769-1821) französischer Kaiser

Bei Borodino 7. September 1812

Bei Borodino 7. September 1812

Napoleon in Angesicht Moskaus im Jahre 1812

Napoleon in Angesicht Moskaus im Jahre 1812

Die Franzosen auf dem Rückmarsch 1813

Die Franzosen auf dem Rückmarsch 1813

Napoleon in Moskau

Napoleon in Moskau

Russische Grenadiere 1812/13

Russische Grenadiere 1812/13

Napoleon mit seinen Generalen: Bertier, Murat, Rapp

Napoleon mit seinen Generalen: Bertier, Murat, Rapp