Zweite Fortsetzung

Am 22. Oktober a. St. war bei Wiasma ein äußerst hitziges Arrieregarde-Gefecht; das 1. Corps unter Marschall Davoust und ein Teil des 4. Corps wurden mit einem Verluste von 25 Kanonen und von mehreren Tausenden an Toten, Verwundeten und Gefangenen durch Wiasma getrieben und bis in die Nacht verfolgt, die Stadt selbst ging, gleich den übrigen Städten und Dörfern, durch welche die Franzosen zogen, in Rauch auf. Um diese Zeit trat die erste heftige Kälte ein, und brachte neues Elend über die französische Armee: ohne andere Nahrung als gefrorenes Pferdefleisch, ohne stärkende Getränke, ohne gehörige Bekleidung auf Schnee und Eis zu bivouakieren, war mehr als menschliche Kräfte ertragen konnten; jede Nacht erfroren viele Hunderte, und am Tage starben eben so viel an gänzlicher Entkräftung; eine Reihe von Leichen bezeichnete den Weg, den die Armee ging. Die Soldaten warfen jetzt haufenweis die Gewehre weg, Ordnung und Disziplin hatten aufgehört, der Soldat bekümmerte sich weder um den Offizier, noch der Offizier um den Soldaten, jeder war so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass er auf Andere keine Rücksicht mehr nahm, und weder gehorchen noch befehlen wollte; in bunten Haufen von allen Regimentern durch einander gemischt, unterschieden sich nur noch die Corps durch Bagage-Kolonnen, die jeden Augenblick von den seitwärts streifenden Kosaken angefallen und geplündert wurden. Der Mangel an Vorsorge zu Beginn des Rückzuges war so groß gewesen, dass nicht einmal die Pferde, auf den Fall eines Frostes, in Moskau scharf beschlagen worden waren; auf der glatten Landstraße konnten die schon entkräfteten Pferde bald gar nicht mehr ziehen, 12, 14 schleppten an einer Kanone und dennoch war der kleinste Hügel beinah immer ein unübersteigliches Hindernis; die Kavallerie hatte schon keine Pferde mehr zu geben, sie war bis auf einige Regimenter Garden durchaus zu Fuß'; die Kanonen waren demnach bald ganz und gar nicht mehr fortzubringen. Bei Dorogobuje ließ das 4. Corps seine sämtliche Artillerie, mehr als 100 Stücke Geschütz, zurück, eben so das 1. und 3., so dass, als die Armee bei Smolensk anlangte, bereits gegen 400 Kanonen verloren gegangen waren. Die französische Armee, die von Moskau über 100.000 Mann stark ausmarschiert war, betrug bei Smolensk kaum noch 60.000 Mann, und von diesen war kaum die Hälfte unter Waffen. — In Smolensk verweilte die französische Armee zwei Tage in der fürchterlichsten Verwirrung unter Plünderung und Brand: die daselbst vorgefundenen Magazine waren von keiner großen Hilfe, denn der, jedem für einige Tage zugemessene Vorrat ward von den Heißhungrigen auf einmal verzehrt, und obendrein bestanden die Portionen nicht einmal in Brot, sondern nur in Mehl; viele Tausend gingen gar leer aus, denn ein jeder musste sich im Gedränge seine Gebühr halb und halb erkämpfen; es waren auch Munitions-Distributionen angekündigt, hierzu fanden sich indessen nur wenige Soldaten ein.

Napoleon ließ in Smolensk, im Vorgefühl einer noch langen Reise, einen Teil seiner Equipagen verbrennen, um den Kosaken nicht unwillkürlich einige Andenken in die Hände zu spielen; um aber denn doch die russischen Grenzen nicht ohne ein Denkmal im großen Stile zu verlassen, wovon die kommenden Geschlechter sich noch erzählten, so gab er den Befehl, beim Abzuge der Arrieregarde alle noch übriggebliebenen Häuser in die Luft zu sprengen; die schnelle Ankunft des Generals Platow, der ungesäumt die Stadt angriff und den Feind hinaustrieb, machte leider, dass jene Prachtscene nicht zu Stande kam und dass die Einwohner diesmal mit dem guten Willen Napoleons vorlieb nehmen mussten.


Die russische Armee war indessen von Jelnia aus, Smolensk vorbei, gerade auf Krasnoe marschiert, um dort dem Feinde zuvorzukommen, sie langte daselbst am 4. November a. St, des Abends an, und bezog 7 Werst von der Stadt ihr Lager. So wie nach der Räumung von Moskau der Flankenmarsch nach Lechtatschkowa dem Gange der Ereignisse eine neue Wendung gab, eben so gehört der Marsch der russischen Armee nach Krasnoe unter die entscheidenden Bewegungen des Feldzuges; sonst war man gewöhnt, die französischen Heere vorzugsweise manövrieren, und besonders unter Napoleons Anführung die Bewegungen ihrer Gegner bestimmen zu sehen; jetzt dagegen waren die Bewegungen der Franzosen, trotz ihres berühmten Anführers, äußerst passiv und kunstlos, und dagegen die Manöver des russischen Feldherrn ebenso energisch und intelligent. Von leichten Truppen fort und fort verfolgt, hatte Napoleon es sich auf keine Art träumen lassen, die russische Armee einen Vorsprung vor seiner Armee gewinnen zu sehen; er dachte sie sich vielmehr ihrer Avantgarde schwerfällig folgend, und verweilte deswegen zwei Tage gemächlich in Smolensk. Fürst Kutusow bereitete unterdessen dem französischen Kaiser ein unangenehmes Erwachen aus seinem Traum, und schwere Reue über seinen Irrtum, und zwar, wie es wahren Feldherren geziemt, durch Überbietung an Schlauheit und Tätigkeit.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Rückzug der Franzosen aus Russland.