Fünfte Fortsetzung

Es ist gewiss der Triumph polizeilicher Wachsamkeit, dass überall, wo französische Truppen waren, man auch nicht das Geringste von dem Unglücke der französischen Armee bis dahin erfahren hatte. Wilna als Mittelpunkt der neukonföderierten Provinzen, als der Sitz aller französischen Behörden, genoss einer vorzüglichen Aufsicht, und ward am längsten in Unwissenheit erhalten; das Publikum glaubte ganz treuherzig an die Wahrheit des 25. Bulletins. Man erschrak zwar, als man vernahm, dass die Moldau-Armee Minsk genommen habe und gegen Borisow zöge, jedoch beruhigten sich die Gemüter wieder so ziemlich, als die Wilna'sche Zeitung erzählte , dass der Marsch jener russischen Armee ganz in dem Plane Napoleons läge, und nichts als eine Falle wäre, in die sie zu ihrem Verderben ginge. Als gleich darauf alle Kuriere von der Armee ausblieben, so fingen die Bewegungen im Publikum von Neuem an; nach 12 Tagen gänzlichen Mangels aller Nachrichten schickte der Herzog von Bafsano einen jungen Polen, wie man sagt, als Frau verkleidet., der Armee entgegen. Dieser kehrte nach 5 Tagen zurück und brachte zur allgemeinen Freude aller Franzosen die Nachricht mit, die sogleich die Zeitungen verbreiteten, dass er den Kaiser an der Beresina gefunden habe, in der besten Laune von der Welt, und. im Begriff, auf General Tschitschagow loszugehen, der vollkommen in die ihm gelegte Falle gegangen wäre; der Kaiser hätte übrigens nur die Hälfte der Armee bei sich, die andere Hälfte habe er, weil er ihrer nicht bedürfe, bei Smolensk zurückgelassen. Einige Tage später kam Napoleon selbst, und seine heimliche Reise um die Stadt lieferte den gehörigen Kommentar zu allen jenen Nachrichten.

Die dritte Periode des Rückzuges geht von der Beresina bis zum Niemen, und von da weiter ins Preußische. Obgleich sie für die Franzosen, der Steigerung aller Übel wegen, die schrecklichste war, so hat sie doch unter allen das wenigste militärische Interesse, denn sie zeigt nichts als eine Jagd längs der großen Straße. Ungefähr 40.000 Mann mit einer noch ziemlich bedeutenden Artillerie waren über die Beresina gekommen: aber in welchem traurigen Zustande waren diese Truppen! Ein neuer heftiger Frost gab ihnen völlig den Rest. Alles warf jetzt beinah die Waffen weg, die Meisten hatten weder Schuhe noch Stiefeln, sondern Decken, Tornister oder alte Hüte um die Füße gebunden. Jeder hatte das erste Beste, was er gefunden, sich um Kopf und Schultern gehangen, um eine Hülle mehr zu haben gegen die Kälte; alte Säcke, zerrissene Strohmatten, frisch abgezogene Häute etc., glücklich, wer irgendwo ein Stückchen Pelz erobert hatte; mit untergeschlagenen Armen und tief verhüllten Gesichtern zogen Offiziere und Soldaten in dumpfer Betäubung neben einander her, die Garden unterschieden sich in nichts mehr von den Übrigen, sie waren wie diese zerlumpt, verhungert und ohne Waffen; alle Gegenwehr hatte aufgehört, der bloße Ruf: Kosak! brachte ganze Kolonnen in kurzen Trab, und mehrere Hundert wurden oft von wenig Kosaken zu Gefangenen gemacht. Der Weg, den die Armee zog, füllte sich mit Leichen, und jedes Bivouak glich am andern Morgen einem Schlachtfelde; so wie Einer vor Ermattung hinstürzte, fielen die nächsten über ihn her und zogen ihn, noch ehe er tot war, nackt aus, um sich mit seinen Lumpen zu behängen; alle Häuser und Scheunen wurden verbrannt; und auf jeder Brandstätte lagen ganze Haufen von Toten, die, um sich zu wärmen, genaht waren, und aus Kraftlosigkeit dem Feuer nicht mehr hatten entfliehen können. Die ganze Landstraße wimmelte von Gefangenen, die Niemand mehr beobachtete und hier sah man Szenen des Gräuels, wie sie noch nie erlebt worden sind; von Rauch und Schmutz ganz schwarz, schlichen sie wie Gespenster auf den Brandstätten unter ihren toten Kameraden herum, bis sie hinfielen und starben. Mit bloßen Füßen, in denen der Brand schon war, hinkten Manche noch auf dem Wege bewusstlos fort, Andere hatten die Sprache verloren und Viele waren vor Hunger und Kälte in eine Art wahnsinniger Betäubung gefallen, in welcher sie Leichname rösteten und verzehrten, oder sich selbst Arme und Hände benagten. Manche waren schon so schwach, dass sie nicht einmal mehr Holz herantragen konnten, diese saßen auf ihren toten Gefährten, dicht gedrängt um irgend ein kleines Feuer, das sie gefunden, herum, und starben so wie dieses erlosch. Im Zustande der Bewusstlosigkeit sah man sie freiwillig ins Feuer hineinkriechen und wimmernd sich verbrennen, in der Meinung sich zu wärmen, und Andere ihnen nachkriechen und den nämlichen Tod finden.


Von Wilna war die aus Königsberg angelangte Division Loison, ungefähr 10.000 Mann stark, meistens deutsche Truppen, der Armee bis Oschmiana, 7 Meilen von Wilna, entgegen geschickt worden, um von dort aus den Rückzug zu decken. In vier Tagen war diese Division, ohne sich geschlagen zu haben, durch Märsche und Bivouaks bis auf 3.000 Mann geschmolzen, und dieser Rest ward vor Wilna teils zusammengehauen, teils gefangen. Drei Regimenter neapolitanischer Garde, worunter zwei zu Pferde, wurden zwei Tage später als jene Division dem Kaiser entgegen geschickt; am Tage des Ausmarsches war 22 Grad Kälte, die armen Südländer defilierten schon halb erstarrt en parade zum Tor hinaus, nach einigen Stunden war schon der dritte Teil der ganzen Schaar halb tot zurück gebracht, mit erfrorenen Händen, Füßen und Nasen.

Napoleon, der Wiederhersteller Polens, dessen Bulletins noch vor wenigen Wochen gesagt hatten, dass der Donner des französischen Geschützes bereits in Asien gehört werde, ging den 24. heimlich und in geringer Begleitung durch Wilna. Die Armee defilierte vom 26. bis zum 28. früh in der fürchterlichsten Unordnung durch die Stadt, alle Straßen mit Leichen und Sterbenden füllend, und von den Einwohnern bejammert und verspottet zugleich; ja, als der bekannte Schreckensruf: Kosak den 28. Morgens erscholl, und die Soldaten aus den Häusern liefen und nach dem Tore flüchteten, fielen die Juden mit der ihnen eigenen schreienden Lebhaftigkeit über sie her, und erschlugen deren eine große Anzahl. Dieser abenteuerliche Kampf kostete besonders vielen Garden das Leben, denn unter allen Truppen hatten diese ganz vorzüglich die Juden gequält und ihre Rache gereizt. Die Garden hatten in dem ganzen Feldzuge keinen Schuss getan, ihr erster und letzter Strauß war mit erzürnten Juden, das Schicksal fügte es so zur Züchtigung des Stolzes und Übermutes. In der Eil des Durchzuges blieb die Stadt von Brand und Plünderung verschont, sie war die erste seit Moskau, die der Verwüstung entging. Von Wilna zogen die Franzosen nach Kowno; kaum 25.000 Mann kamen über den Niemen, der größte Teil der noch übrigen Artillerie war schon vor Wilna stehen geblieben, der Rest ging bei Kowno verloren. Das Resultat des Rückzuges durch alle drei Perioden betrug weit über 100.000 Gefangene, worunter allein 50 Generale und gegen 900 Kanonen.

Seit Kowno geht die Verfolgung der Kosaken ihren gewöhnlichen Gang, Wenige nur werden die Weichsel erreichen, und die, welche sie erreichen, werden ihre Rettung nicht lange überleben; die Kräfte der Soldaten sind zu sehr erschöpft, um nicht selbst der Erholung und der Ruhe zu erliegen, wie man es täglich an den Gefangenen erfährt, die oft sogleich nach der ersten guten Mahlzeit sterben.

So endete die stolze Unternehmung Napoleons, so erfüllten sich die Verheißungen, die er im Anfange des Feldzuges mit prophetischem Munde ausgesprochen zu haben vermeinte; nicht Russland, sondern ihn traf das unvermeidliche Schicksal, das Europa durch seinen Sturz der Freiheit entgegen führt. Sein Ruhm, sein Glück sind gescheitert an der gerechten Sache, die Kaiser Alexander mit so heroischer Ausdauer verteidigte; und über seine Armee ist Gericht gehalten worden nach dem Maße ihrer Ruchlosigkeit.
Geschrieben zu Wilna, den 10. Dez. a. St. 1812.

Nachstehende Beiträge hätten vielleicht besser in die Geschichte des Rückzuges selbst verwebt werden können, um indes den raschen Gang der Erzählung nicht aufzuhalten, werden sie hier nachgeliefert.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Rückzug der Franzosen aus Russland.