Erste Fortsetzung

Die Lage Napoleons ward immer misslicher und misslicher, der Mangel täglich dringender, das Murren der Soldaten täglich lauter und der Friede täglich unwahrscheinlicher. Nach einem Aufenthalt von fünf Wochen beschloss Napoleon endlich, Moskau zu räumen; vor dem Aufbruche sagte er seinen Soldaten: „ich werde Euch in die Winterquartiere führen, finde ich die Russen auf meinem Wege, so werde ich sie schlagen, finde ich sie nicht, desto besser für sie." Mit dem Prophezeihen wollte es indessen nicht mehr recht gehen, denn der Erfolg zeigte, dass er die Russen fand und nicht schlug, und dass es besser für die Russen war, dass sie ihm begegneten. Der französische Kaiser hatte in Moskau im Kremlin, der alten Burg der Czaren, gewohnt, ein Teil seiner Garden hatte die Besatzung ausgemacht; ringsum war Alles niedergebrannt; die alte Burg hatte dagestanden wie eine Insel in einem Flammenmeere, von demjenigen seltsamer Weise erhalten, der das ganze Reich verderben wollte. Napoleon hatte indessen den Kremlin nur einstweilen für sich als Wohnung erhalten; nach seinem Abzuge ward auf seinen Befehl der ganze Bau mit Mauern und Türmen verbrannt oder in die Luft gesprengt. Man sucht in dieser Maßregel vergebens nach einem militärischen oder politischen Grunde, denn die militärische Wichtigkeit des Kremlins war höchst unbedeutend, und seine politische hatte in dem Augenblicke aufgehört, wo die Opferung der Hauptstadt beschlossen worden; es scheint demnach, als habe der französische Kaiser die Zerstörung in einer leidenschaftlichen Aufwallung angeordnet, um sich für seinen verfehlten Plan zu rächen.

Am Tage des Aufbruches selbst, am 6. Oktober alten Stils, ward 80 Werst von Moskau der König von Neapel bei Tarutino überfallen und gänzlich in die Flucht geschlagen, 26 Kanonen, 2000 Gefangene und eine Menge Bagage fielen dem Sieger in die Hände, der König selbst entging mit genauer Noch der Gefangenschaft. Wenige Tage vor diesem Treffen hatte die russische Armee eine ansehnliche Verstärkung an Kavallerie erhalten; noch ehe nämlich als das Aufgebot des Kaisers Alexander am Don ergangen war, hatte die Nachricht, dass der Feind bis zur Hauptstadt des Reichs verwüstend vorgedrungen sei, den ganzen Don aufgeregt: 36 Regimenter, 18.000 Mann, saßen freiwillig auf und schwuren feierlich das Vaterland und die Kirche zu rächen; sie marschierten 70 deutsche Meilen in 7 Tagen und trugen das ihrige zum Siege von Tarutino bei.


Napoleon marschierte auf der alten Straße von Kaluga. Aus seinen Anstalten scheint hervorzugehen, dass es ihm mit dem Vordringen über Kaluga kein rechter Ernst gewesen, sondern dass er vielmehr von Anfang an auf den Dnieper zurückzugehen dachte, wo sein Magazinsystem organisiert war, und dass er nur auf Kaluga marschierte, um die Russen zu schrecken und zu einer falschen Bewegung zu verleiten, worauf er sodann Zeit und Vorsprung gewonnen, und einen Weg, seitwärts der großen Straße von Smolensk, eingeschlagen haben würde, auf welchem noch nicht Alles aufgezehrt war. Statt jedoch den Fürsten Kutusow zurückzumanövrieren, fand er ihn sehr unerwartet mit der ganzen Armee bei Malo-Jaroslawetz, wohin der Fürst Abends, den 11. Oktober a. St., aus seiner Position aufgebrochen war. Man schlug sich den 12. in einem hitzigen Treffen, wobei russischer Seits nur das 6. und französischer Seits nur das 4. Corps im Gefecht waren, während beide Armeen, en reserve aufgestellt, sich beobachteten. Dieser für die russischen Waffen rühmliche Tag machte plötzlich allen strategischen Feinheiten Napoleons ein Ende, und durchkreuzte alle seine Pläne; statt den Russen zu imponieren, hatten diese ihm imponiert, statt sie aus dem Wege zu manövrieren, hatte er sie sich in eine unbequeme Nähe manövriert, statt in die Winterquartiere gemächlich zu marschieren, musste er sie in flüchtigem Rückzuge zu gewinnen suchen, und statt den Weg nach Gefallen zu wählen, musste er auf der großen Straße ziehen, d. h. durch eine Wüste, die er sich selbst bereitet hatte. Die französische Armee trat ihren Rückzug am 14. Oktober a. St. über Borowsk und Wereja nach Mojaiskan; 20 Kosaken-Regimenter unter General Platow, und 2 Armeecorps als Avantgarde unter General Miloradowitsch, folgten ihr auf dem Fuße; die große russische Armee selbst zog links seitwärts der großen Straße, wo Lebensmittel und Fourage in Fülle waren.

Die nächsten französischen Magazine waren in Smolensk; Malo-Jaroslawetz ist von Smolensk über 50 deutsche Meilen entfernt: diesen Weg ohne Brot und ohne Fourage, unter rastloser Verfolgung des Feindes, zurückzulegen, war die Aufgabe, welche die französische Armee zu lösen hatte. Die Schwierigkeit dieser Aufgabe hatte die Armee ihrem Kaiser zu danken, der diesmal in wunderbarer Verblendung nichts gerechnet, nichts vorhergesehen und jede Vorsorge, die der Feldherr seinen Soldaten schuldig ist, unterlassen hatte, und so seine Armee gleichsam absichtlich ihrem Untergange entgegenführte. Ein schneller Rückzug ist nur da anwendbar, wo mäßige Räume zu durchlaufen sind; bei großen Entfernungen wird jede Eilfertigkeit verderblich; denn jeder Rückzug demoralisiert den Soldaten schon an sich; je größer die Eil, je größer die Entfernung, um so größer die Demoralisation, ein schlimmeres Übel als jedes physische Ungemach. Napoleon handelte diesem Grundsatze entgegen, und bezahlte diesen Fehler mit dem Verluste seiner Armee und mit dem Verluste seines Ruhms. — Nicht lange, so stellte sich der Hunger bei der französischen Armee ein, die Regimenter lösten sich in Marodeurs auf, die einige Werste rechts und links der großen Straße Alles plünderten und verheerten, die Pferde starben zu Tausenden und täglich wurden eine große Menge Bagage- und Munitionswagen, die ohne Bespannung blieben, verbrannt. Alle Gemeinden im Moskau'schen und Kaluga'schen Gouvernement waren unter Waffen, zur Vergeltung der geübten Gräuel, und erschlugen täglich viele Tausende jener Marodeurs; hierdurch und von den verfolgenden Kosaken täglich mehr und mehr gedrängt, geschah es, dass die Franzosen fast gänzlich auf die große Straße beschränkt wurden; die ganze Armee lebte nun beinah von nichts als Pferdefleisch, schon starben täglich mehrere Hundert Soldaten vor Hunger und Ermüdung, schon nahm man der Kavallerie ihre Pferde, um nur die Artillerie fortzubringen, schon blieben Kanonen zurück und andere wurden vergraben, mit einem Worte, das Elend war bereits groß, und steigerte sich von Tage zu Tage in einer furchtbaren Progression.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Rückzug der Franzosen aus Russland.