Viertes Kapitel. - Herr Johannes Rathenow wohnte, Haus und Straße haben uns ...

Herr Johannes Rathenow wohnte, Haus und Straße haben uns die Chroniken nicht aufbewahrt, unfern der Kirche des heiligen Nikolaus, so die älteste ist der alten Stadt Berlin. Das Haus, schmal und hoch, mit Schmuck und Zier aus einer vorausgegangenen Zeit, denn es war dazumal schon alt, lag, als zu vermuten, in einem der Winkel um die Kirche, wo heutzutage kein Bürgermeister seine Wohnung aufschlüge, und auch kein Patrizier, so es deren in Berlin gäbe. Doch in den frommen Tagen, als es erbaut wurde, suchten die reichsten Familien ihre Ehre darin, nahe ihrer Pfarrkirche zu wohnen, die engen, kleinen Fenster auf die hochgewölbten des Gotteshauses gerichtet. Ging's jenen an irdischem Lichte ab, dafür strahlte aus den hohen bunten Scheiben mit hundert Heiligenbildern, Glaubenslicht ihnen entgegen. Wahrscheinlich hatten die Rathenow, die in frühern Zeiten reicher waren als in der, wo unsere Geschichte sich ereignet, großen Anteil gehabt an der Erbauung dieser Haupt- und Stadtkirche. Aber in eckigten Winkeln, an abschüssigen engen Gassen zu wohnen, war überhaupt in jenen frühen Zeiten kein Zeichen der Armut und Niedrigkeit. Stürme und Strömungen brachen sich daselbst leichter als in breiten, langen Straßen. Und was war die Geschichte einer Stadt im frühen Mittelalter anders als fortlaufende Reibungen, Stürme und Strömungen zwischen den Gewerken und Geschlechtern, untereinander und gegeneinander, so Rechte suchten, oder die sie hatten, verteidigen und erweitern wollten! Je enger, verschlungener, ineinander genestelt sie wohnten, desto behaglicher, sicherer dünkten sie sich. Die Wohnung, die Stadt war das Nest, das weite Feld umher der Flugkreis für die Emsigen und Mutigen.

Es sagen die Klugen und Gelehrten, daß in alten Zeiten die großen Städte nicht gebaut wurden, sondern daß sie wuchsen wie der Baum am Wasser: hat er viel Wasser, so wird er groß, hat er wenig, bleibt er klein. Aber kein Mensch, und sei er ein großer König und Heerführer, kann sagen: hier soll eine große Stadt stehen, und dann wird sie es. Und wie eitel auch alle Klugheit der Gelehrten ist, als wir wissen, so sprechen hier dafür doch auch die Bücher des alten Bundes, sintemalen der Turmbau zu Babylonien darum nicht zustande kam, weil sie in eitel menschlichem Dünkel eine große Stadt bauen wollten, wo kein Handel war und keine Nahrung für die vielen Menschen. Darum trieb sie der Herr auseinander, und ließ jeden sich ansiedeln da, wo es ihm not that. Also sind entstanden, und nicht von einem gegründet, die großen Städte Paris und Troja und Neapolis und Alt-Brandenburg, Wer sagt's, wer die erbaut hat? – Aber in den Marken gegen die Slaven, sagen sie, ging es anders zu. Da seien die Städte, so wir jetzt kennen, nicht alte Ansiedelungen gewesen und Dörfer, welche allmählich durch großen Handel und Verkehr zu Städten aufwuchsen. Vielmehr es seien Niederlassungen freier deutscher Männer, denen der Landesherr Briefe und Privilegien gegeben, eine germanische Stadt im Lande der Slaven zu gründen. Weiß wohl, daß es Kluge und Gelehrte giebt, die auch das wieder abstreiten – denn um was streiten sich nicht die Gelehrten! – und beweisen möchten, daß auch unsere Städte, so deutsch klingen und es jetzt sind, vordem schon waren, zur Wendenzeit, und groß und reich, und hätten die Deutschen ihnen nur einen deutschen Rock angezogen. Aber da es heißt: Kleider machen Leute, und wir sie nur in dem Kleide kennen, müssen wir sie schon nehmen, wie unsere Väter sie vorfanden und beschrieben haben.


Diese freien und guten Leute nun, denen die Landesherren Briefe geschenkt, baueten in Frankfurt und Prenzlow und in Berlin ihre Wohnhäuser eng zusammen um das gemeinsame Gotteshaus, das, auf einem hohen Punkte gegründet, weit hinausschauen mußte ins flache Land, und weit gesehen werden von den zerstreuten Landbewohnern. Die Ehre einer germanischen Stadt im Mittelalter war mit ihrem Münster eins; es war ihr Dom, ihre Kathedrale das Kleinod der Stadt. Je höher er leuchtete im Morgenlicht und Abendschein, je weiter seine hellen Glocken schallten, je größere Ströme Andächtiger seine wunderthätigen Bilder, seine ehrwürdigen Hallen anzogen, um so größer das Ansehen der Stadt. Mit ihren Priestern zankten sich die Bürger unterweilen, schlugen sie auch wohl tot und verbrannten sie, wenn ihre Habgier ihnen verdrießlich, ihr unzüchtig Leben ihnen ärgerlich wurde. Ruhm und Ansehen der Kirche minderte das nimmer. Mit dem Besten, Silber, Gold, Kerzen, Decken und kostbaren Steinen statteten sie die Dome aus, die herrschenden Familien und Zünfte gründeten Altäre und bestellten und besoldeten Altaristen, und Ländereien und Renten wurden diesen Altären geschenkt; alles zu Ehren Gottes und der Heiligen, zu Gunsten des Seelenheils und der Geschenkgeber, aber noch mehr zu Ehren der Stadt selbst. Und was mehr an Bedeutung hatten diese deutschen Kirchen im Lande heidnischer Wenden, die vom Glanz geblendet, von den Glocken bekehrt, von der Würde, Pracht und Ordnung des Baues selbst zur Sittigung und zu bürgerlicher Ordnung geleitet werden sollten.

So die Wohnhäuser um diese Kirche nur warm waren und sicher, und groß genug für das Nötigste; mehr sollt es nicht zum alten Berlin. Anders in Köln. War es als wendisch Dorf älter, so war es als deutsche Stadt doch jünger. Die deutschen Kolonisten, so sich da des Herrenrechtes bemächtigt und reich wurden, oder es schon waren, suchten ihren Reichtum in stattlichern und geräumigern Wohnhäusern auszulegen, und darum mußte es auch davor räumlicher sein. So schossen in die Höhe die ansehnliche Breite- und Brüderstraße; obschon die wenigsten der heut alten Gebäude darin selbst nur auf die Zeit unserer Geschichte zurückreichen. Johannes Rathenows Haus an der Nikolai-Kirche war eng und düster, Bartholomeus Schumms Wohnhaus in der Brüderstraße war groß, geräumig und für jene Zeit auch hell. Ein weiter Flur, eine breite, eichene Treppe, ein Hofraum mit Speichern, Ställen und Kranen; Ballen, Tonnen, Leitern, Keller, geschäftige Diener, deuteten darauf, daß außer dem Landgüterbesitz auch noch der Handel im großen die Quelle war, aus der der Reichtum des Hauses noch immer sprudle. Aus Reichtum entsteht Macht, das ist ein uralt Gesetz, und hat's gegolten bei Heiden und Christen. Aber wie einflußreich die Schumms diesseits wie jenseits der Spree auch waren, dennoch haftete ein gewisses Etwas auf dem Hause und seinen Herren, was bei allem dem schlechtern, düstern Hause der Rathenows größer Ansehen gab. Solange man denken konnte, und das reichte weiter zurück als man in Berlin schreiben konnte, galten die Rathenows als freie, unabhängige Männer, so nur von Grund und Boden gelebt, der ihr eigen war, und an ihren Händen war keine Schwiele vom Pfriem, vom Meißel und der Bürste, noch von der Elle und dem Meßstock. Die Schumms waren große Handelsherren, Was ihrer patrizischen Würde zwar keinen Eintrag that; aber es schlich die leise Sage um, daß ihre Vorvorväter in Hamburg und Rostock durch Bierbrauerei den Grund gelegt zu ihrem Reichtum. Ein Familienfluch schleicht fort, von Geschlecht zu Geschlecht, ohne daß eine Lippe ihn ausspricht; eine dunkle Erinnerung läßt sich durch den Glanz der Gegenwart in die Rumpelkammer schieben; vernichtet kann sie nicht werden.

Darum aber denke Dir das Haus, in welchem der Bürgermeister wohnte, nicht als unansehnlich und unbehaglich. Grad im Gegenteil, es hatte so viel Behagliches, als niedrige Stuben, kleine Thüren, Treppchen und Gänge, die dazwischen laufen, nur gewähren mögen; und das fühlt sich zu Winterszeiten am besten heraus. So war auch das kleine Zimmer, in welchem am kalten Februarmorgen heut Herr Johannes Rathenow im Lehnstuhl saß, ganz wohnlich angethan. Zwar war es nur so hoch, daß seine Tochter, wenn sie auf den Zehen stand, die Balken mit der Hand berühren konnte. Aber die Balken waren wie die Lehmdecke sauber beklebt mit bunten Bilderbogen aus Nürnberg, Städte und Gegenden, Helden und Heilige vorstellend. Die Wände des Zimmers waren zwar nur übertüncht; doch war kaum ein Fleck, wo man den weißen Kalk durchschimmern sah. So besetzt waren sie mit zierlichen Tischen und Schränken und Ebenholz und Nußbaum, ausgelegt mit kostbaren Figuren von Elfenbein und Perlmutter. Unterschiedliche Uhren und alte Schildereien hingen darüber, und in zwei gewölbten Nischen standen in Holz geschnitzte Bilder der Jungfrau Maria und des heiligen Nikolaus. Auf dem Boden lag eine prachtvolle, bunte Decke aus Brügge, darauf zu sehen war mit lebensgroßen Figuren, wie Gottfried von Bouillon barfuß zum heiligen Grabe in Jerusalem wallfahrtet. Die Hauptzierde der Wohnstube aber blieb der mächtige schwarze Ofen, vielfach ausgeschweift mit Eckchen und Türmchen und bunten Kacheln, darauf der Bau des Turms von Babylon verzeichnet stand. Das Beste indes an diesem kalten Morgen war das helle, frische, prasselnde Feuer, welches aus der geöffneten Thür in die Stube leuchtete.

Sein roter Schein fiel auf die hohe Stirn des Hausherrn, der in seinem Sammetpelze am Fenster saß, in Gedanken versunken. Die gruben manche tiefe Runzeln auf seine Stirn. Welche städtische Sorgen auf ihm lasten konnten, davon sprachen die besiegelten Pergamente, die Skripturen und Bücher vor ihm auf dem ebenholzenen Tische; wohl noch nicht Berge, wie heut auf dem Tische eines Bürgermeisters, doch beträchtliche Hügel, welche, angesehen, daß man damals schwerer schrieb und mit mehr Mühe Geschriebenes las, ebenso drücken mochten. Doch war Herrn Johannes Auge nicht darauf gerichtet; vielmehr schweifte es zum Fenster hinaus, und schien die Schneemassen zu erwägen, welche auf den Kirchendächern, den Strebepfeilern lasteten, und die steinernen Schultern des großen Roland ganz bedeckten.

In der Kirche wurde die Frühmette gesungen, und die bunten Fenster leuchteten von den Kerzen drinnen. Eins dieser Fenster gehörte seiner Familie; das heißt die kostbare Glasarbeit mit Schildern und Bildern war von seinen Vorfahren der Kirche verehrt, und die Rathenows trugen die Sorge, wie die Ehre ihrer Erhaltung. Dicht daneben ein anderes Fenster, prachtvoller in Farben, aber, wie es schien, minder gut erhalten. Eine blutsverwandte Familie, mächtig einst im alten Berlin, die Wardenberge, waren die Stifter. Der bunte Widerschein aus beiden Fenstern fiel auf den Roland, und sein ungeschlachtes Gesicht schien grimmig zu lachen. Auch funkelte blutigrot das eiserne Schwert in seiner plump vorgestreckten Hand.

Wer unbemerkt dem Bürgermeister da ins Gesicht gesehen, hätte ein unheimliches Zucken in seinen Mienen wahrgenommen. Wenn es um die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts in der Mark Brandenburg Sitte gewesen, Selbstbetrachtungen anzustellen und Selbstgespräche zu halten, so hätte es unfehlbar jetzt Herr Johannes gethan. Aber die Zeit war nicht dazu. Er strich mit der Hand die Runzeln von der Stirn, und als er das Gesicht wandte, stand vor ihm eine, so zwar schon vorhin im Zimmer gewesen, aber sie hatte nur am Feuer gehockt und die Eichenkloben zurecht gestoßen. Da hatte er sie nicht beachtet.

Es war eine alte Frau, unscheinbar angezogen, aber doch nicht in der Tracht dienender Mägde. Und wenn auch das rauhe Wams und die grobe Schürze dazu gepaßt, die verblichene Pelzhaube auf der faltenreichen Stirn und den greisen Haaren gehörten einer Matrone, die einst Herrin war. In ihrem Auge lag etwas Irres, ein schmerzlicher Zug schlängelte sich durch die Furchen ihres aschgrauen Gesichtes.

»Schaust Du den Roland Dir an, Herr Johannes Rathenow?« sprach sie. »Der steinerne Mann blickt so, wie vor vierzig Jahren. So hat er vor achtzig Jahren auch geschaut, vor hundert auch, o und noch länger. Immer derselbe große, häßliche Mund, die starren, stieren Augen, und nicht ein einzig Mal hat er das lange Eisenschwert nur so viel gesenkt.«

»Geht wieder in Euer Bett, Muhme Gertraud; ist noch früh. Ich werde selbst nach dem Ofen sehen.«

»Das sagten sie auch vor vierzig Jahren, die Herren: Gehet zu Bett, Frau Gertraud, es ist noch früh, wir wollen selbst zum besten sehen. Und als ich aufstund, hatten sie ihm den Kopf abgeschlagen.«

»Das sind alte, vergessene Dinge!« brummte der Hausherr.

»Alt! Aber vergessen? Seht doch, der Mann, der's gethan, steht noch da wie damals, und noch hebt er das Schwert wie damals, und ist immer fertig zum Schlagen. Nehmt Euch in acht, Herr Johannes, geht nicht zu nahe vorüber.«

»'S ist Vollmond!« murmelte Herr Johannes Rathenow für sich.

»Wißt Ihr, was mein Mann, als sie ihn zum Richtplatz führten, gesprochen hat zu den stolzen Herren? Euer Hochmut, rief er noch vor dem Block, wird gestraft werden, das Blut, das Ihr vergießt, wird über Euch kommen; wie Ihr seid stolz und unbarmherzig, werden sie auch gegen Euch sein stolz und unbarmherzig.«

»Ihm geschah nur recht,« murmelte der Hausherr.

»Recht! Recht!« rief die Matrone, die Hände ringend. »War das auch recht, Herr Johannes, daß Euer Vater Matheus saß zu Gericht über seinen eigenen Vetter, und den Blutbann aussprach über ihn? Auch recht, daß er den Stab brach über ihn? Auch recht, daß er's geschehen ließ und nicht um Gnade bat? Mein seliger Mann Martinus hat um Gnade gebeten, gerufen hat er nach Kaiser und Reich; aber Kaiser und Reich hörten nicht. Sie konnten nicht hören; sie waren zu weit, und sie hatten ihm ja den Mund verbunden, die stolzen Herren. Weise Leute sagten: sie thun unrecht, sie sind Kläger und Richter in einer Person; aber sie sagten: wir thun recht, denn wir haben den Blutbann.«

Der Bürgermeister wies stumm auf das Rolandsbild. Frau Gertraud entgegnete:

»Das soll ein Königssohn gewesen sein aus Franken, sagen die Leute, und er hatte kein Herz, nur einen Arm, damit er alles abwog, ob es schwer war oder leicht; danach schlug er los. Darum als er vors jüngste Gericht trat, schickte ihn Sankt Peter zurück und sagte: Du bist Stein. Solche von Stein kommen nicht in den Himmel. Da faßte er sich an, und er war wirklich Stein, und so mußt er zurück auf die Erde und Schildwache stehen auf den Märkten und vor den Rathäusern, wo sie Recht sprechen, wie die Heiden auch thaten. Aber die Heiden hatten kein Herz, und sie wägen und richten und sprechen in den Rathäusern auch ohne Herz. Ehe nicht seines einmal weich wird und sein Sinn gerührt, darf er nicht fort, der steinerne Roland, und kommt nicht in den Himmel. Ja, er wird dort ewig stehen, so lange als die stolzen Herren zu Rate sitzen.«

»Ewig!« wiederholte der Bürgermeister dumpf vor sich hin.

»Nein, er wird nicht ewig da stehen,« sprach die Matrone. »Er wird eher zu Schutt und Staub fallen, denn daß sein Herz weich wird wie der Schnee auf seinen Schultern. Schaut Ihr, Johannes, wie das Fenster der Wardenberg jetzt so matt glimmt? Die Fliegen haben es beschmutzt, und die Spinnen umzogen, und wo sind die Hände, die es wieder rein kehrten und wüschen? Sie reichen nicht aus dem Grabe so hoch hinan. Und ich habe es noch leuchten gesehen wie Rubinenglanz und Smaragd. Eures wird auch dunkel einmal, Herr Johannes. Die Hand wird fehlen, es zu waschen und zu putzen. Hagel und Sturm und Schloßen werden die Scheiben zerschlagen, und die Lade wird dann leer sein, den Glaser zu bezahlen, und den Maler zu lohnen. Der Wind wird durchwehen, und die Gläubigen werden frieren auf den nackten Bänken.«

»Wir alle sind Staub,« sagte Herr Johannes. »Doch auch der Staub dauert lange Menschenalter. und die Häuser, wo Gerechtigkeit drin wohnt, werden die Ungerechten überdauern.«

Sie lachte: »Die Gerechtigkeit der Welt, Herr Johannes, ist keine Staubfaser vor dem Throne des Allmächtigen! Wie schön gezimmert stand das Haus der Wardenberge, mit den roten Balken und den bunten Schilden! Drei Türmlein sprangen in die Gassen, und zwei spitze Erker dazwischen, mit Fähnlein, schauten gen Himmel, daß sie stillstanden, die vorübergingen, und fragten: Wes ist das schöne Haus? O, es war lustig anzuschauen, wenn die Abendsonne auf den Fenstern blinkte. Und zween Riesen standen an der Schwelle und hielten das Thor, der Heide Herkules und der Jude Simson. Hei, die starken Ritter, konnten sie's schützen und bewahren, als das wütende Volk kam, mit Stangen und Eisen? Die Treppen stürmte es herauf, und auf die Dächer kletterte es. Da flogen die Schindeln und Ziegel, da krachten die Sparren, und die Scheiben klirrten, schöne geschliffene Scheiben aus Venedig und Augsburg. Und waren's zween Tage, waren's zween Stunden nur, da stand es wüst, und der Staub flog hoch, höher als Sankt Mariens Turm. Und es stand doch über der Thür geschrieben:

Dies Haus steht in Gottes Hand,
Zum Recht der Wardenberge wird's genannt.

Wo steht es nun, Herr Johannes? Die Hand Gottes war drüber gekommen! Wo ist das Recht der Warbenberge hin?«

Herr Johannes war aufgesprungen, und Zorn und Würde des Bürgermeisters leuchteten auf seiner Stirn: »Gott zog seine Hand ab, weil er sie strafen wollte, und das Recht der Wardenberge war verwirkt, weil der Sohn die Schuld des Vaters erbte und Wucher mit dem Pfund der Sünde trieb. Darum ließ der Rat den Martinus enthaupten, wie er den Tile verstieß um Unrecht und Verrat.«

Wenn Herr Johannes so auftrat, zog sich die Matrone in den Winkel zurück und bedeckte ehrerbietig das Gesicht mit der Schürze. Es war der regierende Bürgermeister, nicht ihr Verwandter. Dennoch hub sie mit schwacher Stimme aus ihrem Versteck wieder an, als Herr Johannes mit festen Schritten das Zimmer maß, und ihr Selbstvertrauen wuchs, je weiter sie sprach:

»Aber die Wardenberge waren Blutsfreunde der Rathenow. Ein Bruder soll gegen den andern nicht zeugen, ein Bruder den andern nicht richten. Die Flecken von Bruderblut gehen nimmer aus. Ach, Herr Johannes, und unser Großvater, Albertus Rathenow, war er nicht mit verwickelt in die Sache, um die Tile Wardenberg verstrickt ward, und verhört und abgesetzt.«

»Sein Sohn Matheus aber, mein Vater,« fiel der Bürgermeister ein, »nahm nicht Rache wie Wardenbergs Sohn Martinus, um was seinem Vater recht geschehen; er söhnte sich aus mit dem Rate, ward wieder hineingewählt und starb in Ehren und Recht. In Ehren und Recht wurzeln wir und stehen und werden so stehenbleiben. Dann komme, was will.«

»Und kam nicht schon vieles auch uns, Vetter Johannes? Wo sind die Säcke mit Silberpfennigen, die Dein Ältervater ausstreuen ließ, als Markgraf Woldemar einritt in Berlin? Wo ist der Stall mit dreiundzwanzig Rossen, alle mit Scharlachdecken und blinkendem Rüstzeug, als er von Tangermünde kam? Hat der Tod nicht gelockert an den alten Mauern des Hauses? Er ist nicht gekommen mit Mauerbrechern, leise wie der Wurm hat er genagt, und nagt. Hattest Du nicht vier Brüder, und wo sind Deine drei Erstgeborenen? Auf vier Augen steht Dein Haus. Zween davon sind alt, und zween eines Mägdleins. Wenn des Mägdleins Augen alt sind wie Deine, suchen sie vielleicht umsonst nach der Schwelle und den Pfosten, wo das Haus seiner Väter gestanden hat. Auf Gerechtigkeit ist es gebaut. Das denkst Du und sprichst es alle Tage, und betest es alle Abend. Ach, Johannes Rathenow, Eure Gerechtigkeit ist Hochmut, Ihr schreibt mit Blut Eure Urteil, und Euer Siegel darunter ist ein Totenkopf. Und war Gerechtigkeit der Grundstein, darauf Du Dein Haus gebaut, wer sagt Dir, daß der Mörtel und die Steine es auch sind! Ein unrechter Stein, und er verdirbt die ganze Mauer. Du schlägst viel Bücher nach mit den Schöffen, um das Recht zu finden; schlage nach das Buch, Johannes, darin Dein Leben geschrieben steht, und erst wenn Du keine Seite findest, darauf eine Schuld geschrieben ist, dann kreuze Deine Arme und frage Deinen Herrn und Heiland: Bin ich denn gerecht?«

Die Glocke von Sankt Nikolas läutete die Frühmette aus. Und damit schwieg auch das unermüdliche Glöcklein auf Muhme Gertrauds Zunge. Es klang ein Mal wie das andere Mal, unheimlich und krank; aber wer an der Kirchen wohnt, gewöhnt sich auch an das Totenglöcklein. Sie faltete andächtig die Hände und senkte Knie und Blicke. Herr Johannes wischte den Schweiß, den die Hitze des Feuers aus der niedrigen Stuben an die Scheiben getrieben, vom Glase; schaute hinaus auf den Zug der Frommen, welche die Kirche verließen. Jetzt trat eine Jungfrau an die Thür und tauchte, sich beugend, die Finger in das Weihwasserbecken. Es war eine Gestalt so schlank und wohlgethan, und ein Gesicht, als hätte der Februar Rosen darauf gestreut, daß auch ein anderer als ihr Vater sich freuen mochte. Ja, man konnte viel vergessen. So kam es denn auch, daß, ob es gleich noch auf der Schwelle der Kirche war, wo die Leute andere Gedanken haben sollten, alt und jung stillestand, um die Jungfrau zu sehen.

In dem Kreise, der sich unwillkürlich um die schlanke Gestalt gebildet, stand auch ein junger Mann wie in ihrem Anschaun verloren. Als sie sein ansichtig wurde, flog eine Röte über ihre Wangen, auch mochte sie leicht über die Stufe straucheln, und das Gebetbüchlein fiel ihr aus der Hand. Der junge Mann faßte danach, indem er sich auf ein Knie niederließ, und so überreichte er es ihr auch. Sie schien zu lächeln, als sie es annahm, zog das faltenreiche Steppkleid mit der andern Hand zusammen, daß sie ihn nicht im Vorbeigehen streife, und nickte ihm freundlich aber stolz zu, indes sie weiterging.

Unter den vielen, die ihr nachsahen, wie sie jetzt stolz aufgerichtet, gleich einer Königin, und doch zart und lieblich, wie eine achtzehnjährige Jungfrau, ihre Schritte grad nach dem Hause des Bürgermeisters richtete, unbekümmert um die Bewunderung, und doch im stillen zufrieden damit, sah ihr keiner mit mehr Teilnahme entgegen, als der Bürgermeister selbst; denn er war ihr Vater. Aber die Teilnahme war's nicht allein. War auch etwas wie Unwille dabei. Er machte eine abweisende Bewegung mit der Hand, die keiner verstanden hätte, der nicht zugleich gesehen, daß es grade da geschah, als der junge Mensch ihr das Gebetbüchlein überreichte, und sie nahm es von ihm an. Herr Johannes nickte erst wieder zufrieden, als die Jungfrau, ohne sich umzusehen, ihres Weges ging, und setzte sich dann in den Lehnstuhl zurück, um sie mit der Ruhe und Würde zu erwarten, welche einem Vater ziemt, der zugleich Bürgermeister ist.

Sie trat herein; und war's doch, als trete Anmut und Hoheit da in eine niedere Hütte. Aber wo sie weilen, dehnen sich die Räume. So wuchs auch die Stube, das Unbedeutende darin trat zurück, und das Wohlgefällige und Zierliche hob sich und trat heraus, als wie die unscheinbare Seeflamme beim Sonnenschein sich aufhaucht zu einer herrlichen Glocke. Aber diese Hoheit, die sich selbst fühlte, sank augenblicklich zusammen, als sie sich dem Vater näherte und, zu ihm herabgebeugt, die Hand des Alten ergriff und sie ehrerbietig an die Lippen drückte. Er ließ es geschehen und streichelte sanft die Stirn und das gescheitelte Haar.

Er fragte sie nach dem und jenem, und sie gab bescheidene, kurze, aber treffende Antworten. Die Vaterfreude leuchtete immer deutlicher auf der Stirn, und um die Mundwinkel des Alten schwebte ein Lächeln. Er winkte der Muhme, daß sie das Zimmer verlasse, und erst als sie gehorcht, drückte er einen Kuß auf die Stirn der schönen Tochter.

Es war anders, wie ein Kind zu seinem Vater stand, im fünfzehnten Jahrhundert, als im neunzehnten. In demütiger Unterwerfung lauschte es auf seine Worte, die untrüglich waren und keine Gegenvorstellungen duldeten. Dennoch schien hier etwas Besonderes zwischen beiden. Die hellen, klugen Augen der Jungfrau, die schelmisch aufgeworfenen Lippen, die hohe Stirn, umwunden von den blonden Lockenflechten, die aufrechte Haltung des schön gewölbten Nackens, wenn sie ihn ansah, übten eine Macht, welcher auch eine streng väterliche Gewalt zu Zeiten nachgeben muß. Der Ernst, welchen ihr Kirchenbesuch über ihr Wesen verbreitet, war bald verschwunden. Sie spielte mit ihm und er ließ mit sich spielen. Sah man's ihm doch an, die heitere, schöne Gegenwart that ihm wohl.

Alle Welt weiß, die Frömmigkeit jener katholischen Zeiten vertrug sich mit recht großer Lustigkeit. Deshalb wird es auch unsere Leser kein Wunder nehmen, wenn die schöne Kirchgängerin schon in der nächsten Viertelstunde alle Kirchengedanken abgeschüttelt hatte, und ihr Herz ausschüttete. Das schien von lauter Sonntagsgedanken und Spielereien heute voll. Es war auf heut abend ein großes Bankett und Tanz angesagt, bei dem reichen Thomas Wyns, dem Ratmanne, dazu war aus Berlin und Köln geladen, was sich bei solchen Festlichkeiten zeigen durfte. Schön Elsbeth erzählte dem Vater, wie die Töchter des Hauses in sammetnen Kleidern kommen würden, welche Hüte die Mechthilde Bergholz, welchen Schmuck die Konrade und Eva Schumm am Halse, und die Hoppenradeschen Töchter aus Köln am Scheitel tragen würden. Und da war es denn doch natürlich, daß die Tochter des Bürgermeisters auch etwas thun müsse. Denn was würden die Leute sagen, wenn die Töchter der Ratmannen in Gold und Silber, in Sammet und Seide gingen, und die Tochter des Bürgermeisters käme wie eines Bürgers Kind.

Herr Johannes seufzte; doch war's nur ein leichter Seufzer, und die Tochter verstand, was es deutete, als er, den Kopf schüttelnd, sich umschaute.

»Weiß, weiß, allerliebster, allerbester Vater, daß es böse Zeiten sind. Unsere Kisten und Truhen sind nicht mehr voll als in alten Tagen. Andere sind reicher als wir, aber das schöne, schöne Halsband, das liegt doch noch im Wandschrank!«

Solchen blauen Augen, die, wie Sterne in einen dunkeln See, in seine schwarzen schauten, solchen zarten Fingern, die um seine gebräunten Wangen spielten und den rauhen Bart, der sie umfloß, solcher lockenden Miene einer hoffnungsvollen Tochter, die vor ihm auf den Zehen schwebte, widerstand auch ein Bürgermeister aus dem Mittelalter nicht. Sprach indes noch etwas bei ihm für die Tochter. War ihm doch ihre Unbefangenheit in dem Augenblicke werter, als der Schmuck selbst; und das war viel!

Nun wandte er freilich noch manches ein. Wo giebt ein Vater, der noch dazu Bürgermeister ist, sich sogleich gefangen, und die Tochter bat um etwas, das er ihr noch immer abgeschlagen. »Du weißt, mein Kind –«

»Weiß, Vater, was der Schmuck wert ist, weiß, daß Kaiser Karl von Böheim ihn unserer Eltermutter schenkte, in Tangermünde, weiß auch von Frau Fides' Traum – aber werd ich ihn denn verlieren? Die Kette wird nicht verloren gehen, wie werd ich die Kette verlieren!«

Er sprach von den strengen Ratsverordnungen, wodurch dem übertriebenen Schmuck der Frauen sollte gesteuert werden. Es war genau bestimmt, wie viel an Wert Gespänge, Ketten und Ringe haben durfte, die eine Witib, eine Frau und eine Jungfrau trug. –

»Doch trug meine selige Mutter das Halsband. An allen Ehrentagen trug sie's, ich weiß es, Vater. Hat keiner da etwas gegen zu sagen gewagt?«

»Die Zeiten waren andere, mein Kind.«

»Und jetzt bist Du Bürgermeister.«

»Die Verordnung ward erst nach Deiner Mutter Tode gegeben.«

Die Jungfrau sprach: »Ei, wer sie gab, nimmt sie auch wieder zurück.«

Der Bürgermeister schüttelte lächelnd den Kopf.

»Wie, Vater,« fuhr die Jungfrau fort, »willst alle Ratsfrauen strafen! Eine jede trägt mehr um Haar und Hals!«

»So zahlt jede Buße, wenn ein Angeber auftritt.«

»Wer wird denn gegen uns auftreten!« sprach Elsbeth, und schaute auf wie eine Bürgermeisterstochter. »Ist das nicht recht, daß wir uns putzen dürfen, als uns gefällt und wir können? Die anderen Frauen, für die seid Ihr so gut und weise, und sorgt durch Gesetze, was sie tragen und wie sie sich putzen sollen. Die sind Euch Dank schuldig, und ihre Männer und Väter, daß Ihr Hoffart und Verschwendung hindert. Aber mir läßt Du die Kette, nicht wahr, Väterchen, nur diesen einen einzigen Abend?«

Der Vater sprach, er habe den seltenen Schmuck für den schönsten Ehrentag versparen wollen, von dem er hofft, daß er bald eintreten und seiner Elsbeth einen Schmuck bringen werde, der schöner stehe einer sittigen Jungfrau, als Geschmeide und Gold – den ehrenwerten Myrtenkranz.

Sie senkte den Kopf und zupfte an der Miederschleife: »Der Tag kommt ja doch, lieber Vater. Und die Kette verliert darum nichts, weil ich sie schon einmal trug. – Der Melchior ist ja über Land. Und wenn er's sähe –«

Der Vater blickte sie scharf an: »Wenn er sähe, Elsbeth, was ich vorhin sah, der Melchior ist jähzornig.«

»Was, Vater?« – Die Jungfrau horchte hoch auf.

»Den Henning Mollner, wie er Dich allerwegen noch immer umschleicht. Sogar an der Kirche unterstand er sich, Dir in den Weg zu treten.«

»Was sollte er nicht. Die Kirche ist für jedermann.«

»Es gefällt mir nicht, Elsbeth.«

»Daß der Henning Mollner mich gern ansieht? Ei, Vater, was siehst Du so bös? Warum soll er mich nicht gern ansehen? Er war mein lieber Spielkamerad.«

»Elsbeth!« sagte der Bürgermeister. »Der Ruf einer Jungfrau ist köstlicher als die köstlichste Perle des Morgenlandes. Aber schon das Gerede müßiger Buben befleckt ihn. Ich weiß, Du bist dem dreisten Knaben nur darum gut, weil Deine selige Mutter ihn im Hause aufzog, weil er Dein Spielgenoß war, und Deine Eltern gaben ihn Dir. Doch erröten würdest Du vor Unwillen, so Du hörtest, was die Tagediebe in der Stadt schwatzen, und die eitlen Frauen sich in die Ohren zischeln: daß er um Deine Gunst buhle. Noch mehr: er erdreiste sich, um Dich zu werben. – Elsbeth, es giebt Leute, die das sagen, und es giebt Leute, die es glauben. Und was sagst Du?«

So er glaubte, daß sie vor seinem Blick, der als ein Pfeil auf sie gerichtet war, erschrecken und erröten werde, da hatte er sich getäuscht. Elsbeths blaue Augen sahen ihn so heiter und unbefangen an als vorhin.

»Würd' es mich freuen, Vater, wenn es wahr ist, daß der Henning Mollner so kühn denkt.«

»Er unterstand sich, es Dir ins Angesicht zu sagen?«

»Das unterstand er sich nicht.«

»Und wenn er es thäte, würdest Du –«

»Ihm lachen ins Gesicht und ihm sagen: Du bist nicht gescheit, Henning; freuen würd's mich aber doch.«

»Und Du würdest ihn züchtigen mit Wort und Rede für seine Frechheit, und ihm drohen mit dem Zorn Deines Vaters, mit der Strafe der Stadt –«

»Behüte Gott! Auslachen würd' ich ihn und sprechen: Lieber Henning Mollner, sieh Dich künftig besser vor. Gleich und gleich gesellt sich: aber Du und ich wir schicken uns nicht. Wärst Du von den Geschlechtern oder ich eines zünftigen Vaters Kind, so wollten wir die Sache überlegen. Da der liebe Gott uns aber nicht gleich gemacht hat, so ist's das Beste für Dich, Du schließest Dein Auge vor mir und siehst Dich nach einer hübschen Bürgerstochter um, davon es in den Gewerken und Gilden zu Berlin und Köln ebenso viel giebt als in den Geschlechtern.«

Der Bürgermeister küßte die Stirn der schönen Tochter. Da sah sie mit Verwunderung, wie es ihm nahe ging, und nun sprach sie auch ernst:

»Vater! Du konntest doch nicht anders denken von Elsbeth Rathenow! Ei, lieber Vater, das hoffe ich nicht. Denn wo vergaß Deine Tochter jemals wer sie ist, und wer ihr Vater ist! Und wäre ich ihm noch dreimal so gut! Ich weiß, wer die Rathenow sind, und weiß, wer die Wardenberg waren. Die häßliche Falte küss' ich Dir von der Stirn.«

Und er sprach: »Ich wußt' es wohl – Aber der Henning –«

»Der wird's weit bringen,« unterbrach sie ihn, »das versichr' ich Dich, Vater. Es ist ein mutiger Junge. Aber ich wünschte ihm, er würde – was er verdient und wünscht, und ein Raschmachergeselle werden kann. Aber die Hand, die einmal Wolle kratzte, – es ist recht schlimm, Vater –« Und sie reichte ihm die schöne, weiße Hand, daran manch buntes Ringlein blitzte, und der Vater drückte des Fräuleins Hand.

Dann nahm er das Schlüsselbund aus dem Kästlein im Schreibtisch und öffnete die schön verzierte, mit schweren Schlössern und künstlichem Druckwerk verwahrte Lade, darin der Schmuck lag. Ein freudiger Schrei preßte sich von den Lippen der Jungfrau, als sie die funkelnden Rubinen, eingewirkt in die schwere Goldkette, in den Händen wog. Mit einer raschen, geschickten Bewegung hatte sie die Kette um den Nacken genestelt, und der erste Schrei des Entzückens löste sich in ein wohlgefälliges Zittern, als sie im Spiegel die Edelsteine um den Hals funkeln sah. Holdselig lächelnd nickte ihr das Spiegelbild zu, und unwillkürlich flüsterte sie: »So müßte mich erst der Henning sehen!«

Der Vater hatte nicht mehr Zeit, darauf zu achten, wenn er es gehört. Der Ratsknecht war eingetreten. Mit wichtiger Miene und doch sehr unterwürfig; wollte, wie es Pflicht ist alle Morgen, Bericht abstatten, wie es in der Stadt aussah, und des Bürgermeisters Befehle einholen. Ein Knecht war freilich zu allen Zeiten ein dienend Geschöpf; so man aber abwägt, was einer zu thun hatte, der dazumalen in den finsteren Zeiten Knecht hieß, und bedenkt, daß Berlin eine Stadt war, welche sich frei dünkte und selbst regierte, so hätte der Knecht der Herren der Stadt, welcher jeden Morgen beim regierenden Bürgermeister zutrat, ohne Meldung, und Neuigkeiten zutrug, die nicht jeder zu wissen brauchte, zehn steht wohl gegen eins, daß solch ein Knecht in unsern hellern Zeiten einen Titel hätte, und davor etwas »Geheimes«.

Die Jungfrau hatte hier nichts zu thun, sie war in ihr Kämmerlein hinaufgehuscht, und Herr Johannes hörte dem Knechte in seinem Armsessel auf den Ellbogen gestützt zu; bald nickte er mit dem Kopfe, bald schüttelte er ihn. Nur dann und wann unterbrach er den vertraulichen Vortrag. Denn von Akten war hier nicht die Rede.

»Also sprechen sie viel über den Streit neulich! Was Wunders, wo so viel geschrieen wurde, muß es Nachgerede geben. Und die Gemeinheit ist unzufrieden! Sie hat recht. – Wer ist denn aber die Gemeinheit?« setzte er etwas spöttisch hinzu.

»In allen Winkeln und Ecken stecken sie die Köpfe zusammen, gnädiger Herr. Und wo zween stehen bleiben, tritt der dritte gewiß dazu, und ein Auflauf ist fertig.«

»Ist das etwas Neues in unserm guten Berlin?«

»Wohlweisheit! Diesmal sind's nicht allein die Straßenläufer und Müßigen in den Kellern und Stuben; es wurmt bei den Reichen und Angesehenen zumeist. Sie schimpfen schrecklich auf den Rat, und es müsse anders werden, Kölner wie Berliner stehn darin zusammen.«

»Freilich möchten sie's, daß es anders wird. Das wollten sie schon vor zehn, vor zwanzig, vor fünfzig Jahren. Wir wichen damals nicht, als es draußen schlimmer stand. Werden auch diesmal festhalten.«

»Die reden anders,« fuhr der Knecht fort, »Sie haben Zettel, worauf alles verschrieben steht, was, als sie meinen, der wohlweise Rat versündigt hat, seit beide Städte eins worden.«

»Haben sie auch drauf verschrieben,« fuhr der Bürgermeister auf, »was wir ihnen Gutes thaten, was wir gewirkt für die Stadt und erworben?«

»Das, meinen sie, hätten die Herren von den Geschlechtern nur für sich gewirkt und erworben. In die Säckel der Allgemeinheit wäre wenig davon geflossen.«

»Was sind die Säckel! Sind ihre schönen, festen Häuser, ihre Keller und Speicher, die Kähne auf der Spree, die Fuhrwagen auf den Landstraßen, sind Wiese und Wald, Teiche und Bienenstöcke nicht bessere Säckel als die ledernen in ihrer Tasche? Blüht nicht wieder der Handel der Stadt, werden die Wege nicht alletag sicherer? Daß wir das für sie alle wirkten, vergessen die Undankbaren, daß wir sie reich machten, reicher als wir selbst sind!«

»Grade darum, weil sie reich sind, meinen sie, daß sie mitsprechen dürfen,« entgegnete der Knecht. »Es wird ihnen schon eingeredet in den Badestuben und Schenken. Heut kommen die Gewandschneider und die Knochenhauer zur Morgensprache zusammen. Meint man, sie werden nicht vom Wurstmachen und Judenfleisch sprechen. Die Burschen laufen von Meister zu Meister mit Bestellungen. Es heißt, sie wollen alle ihre Beschwerden gegen den Rat aufsetzen, Punkt um Punkt, und eine große Schrift. Der Herr Ratmann Garnekofer wird 'nen schweren Stand haben.«

»Da werden wir die Woche wohl schlechte Wurst essen,« warf Herr Johannes hin. »Hat ihnen der Rat nicht schon genug gewährt? Dringt ihre Stimme nicht schon laut genug in unsere Sitzungen? Haben wir nicht die Viehhändler vom Auslande fast verscheucht, dadurch, daß unsere Väter Gesetze über Gesetze zu Gunsten der Zunft machten? Sollen wir sie vorkaufen lassen in Ewigkeit und annehmen, was ihnen gut dünkt? Genug davon, Andreas. Wenn die Schlächter Morgensprache halten, hört man's ohnedem durch beide Städte. – Wer macht denn jetzt den Wortführer?« setzte er hinzu.

»Bartz Kuhlemey ist voran, gnädiger Herr, des Schwester des Henning Mollner Mutter war. Sie meinen, bei den Gewandschneidern werde es erst gar laut hergehen. Die ganze Innung wolle sich der Sache des Henning annehmen.«

»Wollen sie!« – sprach der Bürgermeister für sich. »Ich denke, sie sollen sich nicht die Köpfe drum brechen. Sonst nichts Neues, Andreas?«

»Werden heut die beiden Frauenzimmer ausgepeitscht, die eine wird gebrannt und aus dem Thor gewiesen.«

»Hätt' ich's doch bald vergessen! Wie heißt sie doch, das schlimme Weib?«

»Hat keinen Namen, Gestrenger. Ist nur 'ne Wendin aus dem Storkowschen. Das Volk heißt sie die rote Hanne.«

»Die rote Hanne, richtig. Sie bespricht das Vieh.«

»Und laßt nichts liegen, Gestrenger, was sie finden thut. Und bloß gebrannt dafür durch die Zähne und ein bißchen ausgepeitscht.«

»Wer ist die andere?«

»Die andere? Das ist ja die Salome mit den langen Ohrlappen, die an der Unehre sitzt. Der haben's viele schon gegönnt. Nun kriegt sie's weg. Solche Dirne, und so frech zu sein! Hat manchen ehrbaren Bürgersohn mit ihren schwarzen Augen ausgezogen.«

Der Bürgermeister machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand. Er schien genug gehört zu haben. Der Ratsknecht mochte aber nicht der Meinung sein, daß er schon genug gesagt habe. –

»Solche freche Person, meines Bürgermeisters ehrbare eheliche Tochter auf dem offnen Markt bei Tageslicht ins Gesicht zu grüßen! und als die Jungfer Elsbeth sich ehrsam abwandte, ihr nachzurufen: »Ei, ist die Jungfer Rathenow nicht meine liebe Schwägerin, und will mich doch nicht kennen!« Kann wohl sagen, gestrenger Herr, die Bürgerfrauen sind außer sich, daß die Dirne nur gepeitscht und nicht auch gebrannt und gezwickt wird. Sagen: wenn das sittsamen Jungfrauen und ehrbaren Weibern auf freier Straße geschehen könne, und die Schöppen und Richter thäten nichts als auspeitschen lassen, so könne es ja in Sodom und Gomorrha nicht ärger zugehen als in Berlin, sagen sie. Dem Konrad Schütz von Magdeburg thaten unsere Vorfahren anders, sagen sie. Als der eine ehrbare Frau unzüchtig auf dem Markte fragte, richteten sie ihn und schlugen ihm den Kopf ab auf offnem Markte, und war doch geheimer Kanzler des Erzbischofs.«

Johannes Rathenow schüttelte den Kopf. Bei sich sprach er:

»Und hat die Dirne so ganz unrecht! Mein Sohn hat sie verführt.« Laut sagte er: »Wer von den Ratmannen wird dabei sein?«

»Herr Dietrich Wyns ist an der Reihe.«

»Der läßt immer so hart schlagen,« sprach der Bürgermeister. »Kann Er's nicht wirken, Andreas, daß Herr Dietrich die Reihe abgiebt –«

»An Herrn Markuß Trebus,« sagte der Ratsknecht nachsinnend, »der wär dann an der Reihe. Herr Dietrich ist gar zu gern dabei, wenn Weiber ausgepeitscht werden; heut aber läßt er's doch vielleicht. Denn er hat drei Schneider bestellt, und kann mit den geschlitzten Puffhosen doch nicht fertig werden, die er am Abend beim Bankett seines Bruders tragen will.«

Herr Johannes war an die Lade gegangen, hatte sie aufgezogen und reichte ein paar Silbergulden dem Knechte: »Gieb ihr das, Andreas, wenn der Büttel sie losläßt. Sie hat einmal treu gedient in meinem Hause, und sie soll den Staub schütteln von ihren Schuhen und weit fortziehen vom alten Berlin. Ich laß es ihr sagen.«

Der Knecht schien das Geld mit Schaudern in seiner Hand zu betrachten, und zauderte es einzustecken. Für sich murmelte er: »Die Schuh wird man ihr auch lassen, um sie abzuschütteln! Das Geld werd ich ihr in den Weg werfen. Da kann sie es auslangen. Und wenn er mich foltern läßt, zwingen kann mich kein Bürgermeister, einem gestäupten Weibsbilde was in die Hand zu geben.«

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Roland von Berlin – Erster Band