Vierte Fortsetzung

Am Rolandseck bei Bonn verlässt der Rhein das Gebirge und tritt nun zum dritten Male in eine Tiefebene hinaus, um endlich seine Fluten dem Meer zuzuführen. Die Nordsee ist ein so junger Einbruch, dass der Rhein noch während der diluvialen Eiszeit durch das alte Flusstal des Kanales zwischen Frankreich und England nach dem Atlantischen Ozeane hinausströmte. Seitdem sinkt der Boden der Nordsee und sinken unsere Küsten derartig, dass die Ingenieure ihre Deiche immer höher und kräftiger bauen müssen, um die Küsten, und vor allen die flachen Inseln vor dem gänzlichen Untergange zu retten.

Wir haben, meine Herren, bei unserer Betrachtung gesehen, dass der Rhein drei verschiedene Gebirgssysteme in seinem langen Laufe durcheilt, dass er drei aufsteigende Gebirge, die Alpen, den Jura und das Schiefergebirge, mit starkem Gefälle, mit Wasserfällen und Stromschnellen durchschneidet, dass er in flachen Betten drei immer tiefer absinkende Tiefebenen durchfließt, die Tiefschweiz, die oberrheinische und die niederrheinische Tiefebene. Diese eigentümlichen geologischen Verhältnisse des Rheinstromgebietes bedingen, dass die Überschwemmungsgefahren, welche bei jedem Fluss naturgemäß am stärksten in seinen tiefliegenden Deltaablagerungen auftreten, sich im Rheingebiete dreimal wiederholen: die Tiefschweiz wird selbst durch das große Becken des Bodensees nicht genügend bewahrt vor den Überschwemmungen des alpinen Rheinlaufes; die Reuss wird im Vierwaldstätter See, die Limmat im Züricher See gebändigt; die Aare ist künstlich durch einen Kanal vor 16 Jahren in den Bieler See eingeleitet worden, um in diesem See ihre Gerölle und ihre Wildheit zu verlieren, ehe sie durch den Jura dem Rheine zufließt.


In der niederrheinischen Tiefebene, soweit sie auf deutschem Boden liegt, wird die Gefahr der Überschwemmungen dadurch etwas gemäßigt, dass der Rhein und seine Zuflüsse sich Talrinnen in die dort stark angehäuften Ablagerungen der diluvialen Gletscherzeit einschneiden konnten.

Für uns dagegen hier am Mittelrhein ist die Überschwemmungsgefahr in jeder Beziehung am größten.

Ich erinnere Sie an die große Überschwemmung der Rheinebene im November und Ende Dezember 1882: von der Pfalz und von Baden her bis Mainz stand die Ebene in mehr als halber Breite unter Wasser; die Rheindämme waren an mehreren Stellen gebrochen; Groß-Gerau und viele Dörfer lagen im Wasser, Häuser wurden zerstört, die Bahnlinie von Groß-Gerau nach Mainz mehrfach zerrissen; von unsern Höhen hier bei Darmstadt sahen wir auf den neu erstandenen See, dessen Wasser vor dem Engpasse des Binger Loches sich gestaut hatten.

Immer wieder und immer stärker bedrohen solche Überschwemmungen unsere Rheinebene; denn die Ebene sinkt, während der Taunus und Hunsrück steigen; alles Wasser des Rheines und seiner Zuflüsse, auch alles Grundwasser der Tiefebene kann sich nur entleeren über die ansteigende Schwelle des Binger Loches; und es ist eine harte Schwelle, es sind die härtesten Gesteine, die im Schiefergebirge vorkommen, die Quarzite, deren Bänke wiederholt von Bingen an bis St. Goar quer durch das Rheinbett von einem Ufer zum andern durchziehen; selbst die gewaltigen Wassermassen, die in den dortigen Stromschnellen durchschießen, haben nicht vermocht, die festen Quarzitriffe in dem gleichen Maße durchzusägen, in welchem die Schichten mit dem ganzen Gebirge aufsteigen.

Daher muss der Mensch dem alten Vater Rhein in seiner schweren Arbeit zu Hilfe kommen: es ist die erste Forderung, um die Überschwemmungsgefahren hier am Mittelrhein zu vermindern, dass die Quarzitriffe im Binger Loch und in den Talengen unterhalb desselben tiefer und breiter ausgeschossen werden, als es bisher geschehen ist.

Andrerseits ist die Überschwemmungsgefahr für unsere Rheinebene seit Jahrzehnten durch die Eingriffe des Menschen in die natürlichen Stromverhältnisse in manchen Richtungen vermehrt worden:

Der Lauf des Rheines, welcher in der oberrheinischen Tiefebene von Basel an abwärts bis Mainz naturgemäß ein vielfach gewundener war, mit vielen großen Schlingen, mit viel Sumpf- und Wiesengelände, deren Flächen große Wassermengen bei Hochwasser aufnehmen konnten, dieser Lauf ist in den letzten 75 Jahren fortdauernd reguliert worden; der Rhein wurde möglichst gerade gestreckt: indem man die meisten Schlingen abschnitt, wurde seine Länge bedeutend verkürzt und sein Gefälle vermehrt, so dass sich die Hochwasser jetzt viel rascher als früher auf den Mittelrhein werfen und stärker vor dem Binger Loch anstauen. Ebenso sind die Zuflüsse des Rheines in Baden sämtlich reguliert und senden ihre Wasser viel schneller als früher dem Rheine zu.

Die Rheindämme selbst sind oft zu nahe an die Flussufer verlegt worden; sie brechen daher leichter vor der nahen Gewalt des Hochwasserstromes. Früher breiteten sich zu beiden Seiten des Rheines weite Wiesengelände aus, deren Flächen dem Hochwasser preisgegeben und zugleich durch den abgesetzten Rheinschlick trefflich gedüngt wurden; hinter den vorgeschobenen Rheindämmen breiten sich jetzt Getreidefelder aus; der fruchtbare Rheinschlick fließt mit dem eingezwängten Strome hinab nach Holland und wird dort in die Poltern eingelassen, deren saftige Wiesen den Reichtum der Niederlande, die Viehzucht, bedingen. Bei uns klagt die Landwirtschaft über die niedrigen Getreidepreise, vermehrt trotzdem die Ackerflächen und vernachlässigt die Wiesenkulturen, so dass die Händler ihr Vieh und ihre Mastochsen zum großen Teil aus der Schweiz, aus Österreich und aus Ungarn statt aus der Heimat beziehen müssen.

Dabei haben wir es hier in unserer Rheinebene nicht nur mit dem Rheine, sondern auch mit den alten Neckarbetten zu tun; große Strecken Landes liegen in diesen Gebieten versumpft und wenig nutzbar da; andere allzu trockene Flächen harren der richtigen Bewässerung, Seit Jahrzehnten wurde die Regulierung der Rheindämme und wurde die Entwässerung des Riedes verlangt und geplant; unsere Staatsregierung hat seit Jahren die Projekte für diese beiden großen Aufgaben ausarbeiten lassen und den Landständen, sowie den betreffenden Gemeinden vorgelegt und unterbreitet. Es ist sehr zu bedauern, dass die so notwendigen Vorlagen immer noch nicht angenommen wurden, und einige renitente Gemeinden die nützlichen Arbeiten im Ried verhindern konnten. Denn die Zustände in unserer Rheinebene werden von Jahr zu Jahr schlimmer, und großer Gewinn entgeht unserer Landwirtschaft.

Wie bisher im Großherzogtum unter der weisen Leitung unserer Landesfürsten, welche stets ihr höchstes Interesse den großen Erfordernissen moderner Kultur zugewendet haben, und unter der bedächtigen Fürsorge unserer Staatsregierung stets alle erforderlichen Aufgaben zu günstiger Lösung gebracht wurden, so werden auch diese schwierigen und kostspieligen Aufgaben des Wasserbaues, welche hier im Ried und am Mittelrhein vorliegen, unzweifelhaft einer guten Lösung entgegengeführt werden. Unser junger Landesfürst, der heute sein 28. Lebensjahr beginnt, hat sich, folgend seinen erlauchten Vorfahren, mit großer Energie und sicherem Verständnis in die Aufgaben der Staatsverwaltung eingearbeitet und unterstützt kräftig die wohlvorbereiteten Schritte seiner Ministerien. Selbst in unserem konstitutionellen Staate kann ja der Fürst unendlich wohltätig wirken und persönlich eingreifen: ein Wort von ihm am rechten Orte und zur rechten Stunde vermag bei den Vertretern unserer Stadt- und Landgemeinden oft mehr zu erreichen als jahrelange Verhandlungen.

Die technische Hochschule ist unserem Großherzog für die ausgezeichnete Gnade und Huld , welche er der Hochschule in hohem Maße vergönnt hat, zu größtem Danke verpflichtet; vor wenigen Wochen haben wir die Ehre gehabt, Seiner Königlichen Hoheit persönlich hier in der Aula bei dem Feste der Einweihung unserer neuen Gebäude unseren tiefgefühlten Dank darzubringen.

Heute hier zur Feier seines Geburtstages versammelt, lassen Sie uns den Wunsch aussprechen, dass seine Regierung unserem Lande zum Segen gereichen, dass es ihm insbesondere gelingen möge, alle die großen Aufgaben der inneren Verwaltung eines modernen Staates, und speziell diejenigen Aufgaben, welche die auf unserer Hochschule ausgebildeten Ingenieure zu leisten haben werden, in richtiger und zweckentsprechender Weise durchzuführen und zu vollenden. Die Dankbarkeit des Volkes wird seinen hohen Entschließungen folgen.

An demselben Tage feiert auch Ihre Königliche Hoheit die Großherzogin ihren 19. Geburtstag. Die Anmut und Aufmerksamkeit, mit welcher Ihre Königliche Hoheit bei dem Feste der Einweihung unsere neuen Gebäude und alle Einrichtungen in denselben besichtigte, wird uns unvergesslich sein und ganz besonders unserer studierenden Jugend gefallen haben.

Meine Herren, werte Kollegen und Kommilitonen, lassen Sie uns alle unsere Wünsche, welche wir für unseren gnädigen Landesherrn und seine erlauchte Gemahlin an ihrem heutigen Geburtstag hegen, in den Ruf zusammenfassen:

Seine Königliche Hoheit
der Großherzog Ernst Ludwig
und Ihre Königliche Hoheit
die Großherzogin Viktoria Melita
leben hoch!
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Rheinstrom und seine Überschwemmungen