Der Prozesshansl. (Siehe das Bild auf Seite 525.)

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1895
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Prozesssucht, Hass, Ehrgeiz, Grenzstreit, Rechthaberei, Nachgiebigkeit, Advokat, Vorschlag, Habsucht, Recht, Streit, Nachbarn, Leidenschaft, Trauerspiel, Zorn, Eifersucht,
Auf den Dörfern in den so friedlich scheinenden Häusern der Bauern wohnt keineswegs in höherem Maße der Frieden, gibt es durchaus nicht weniger Leidenschaften, als in den unruhigen Städten mit ihren Verlockungen zum freien Lebensgenuss. Man darf vielleicht eher das Gegenteil behaupten. Trotz der friedlichen Beschäftigungen des Landmannes leben in seinem Herzen dieselben Dämonen, welche die Städter plagen, und Hass, Neid, Habsucht, Zorn, Eifersucht, Ehrgeiz bewirken auf den Dörfern meist tiefer einschneidende Vorkommnisse, als diese bösen Geister das in der Stadt vermögen, weil der Bauernstand abgeschlossen lebt, sein Dasein in einem kleineren Kreise zubringt, weniger von der Außenwelt abgelenkt und deshalb umso heftiger von all' dem ergriffen wird, was ihn trifft und seine Interessen zu schädigen scheint. Eine der bösesten Leidenschaften unter dem Bauernstande ist die Prozesssucht, die mit der Habsucht und dem Ehrgeiz der Bauern zusammenhängt.

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Diese hat schon manche Trauerspiele auf den Dörfern hervorgerufen. Unser Holzschnitt auf S. 525 (nach einem Genrebilde von Anton Müller) führt uns einen derartigen „Prozesshansl“ vor. Es handelt sich um einen Streifen Wiesenland. Der Bauer behauptet, der Vater seines Nachbarn habe einst die Grenzfurche zu seinem Nachteil verrückt, und jetzt will er sein Recht und jenen Streifen Wiesenland haben und gut machen, was sein Vater, der damals, als dies geschah, zu alt schon gewesen, sich vergab. Er hat den Nachbar zur Herausgabe des Streifens verklagt. Der Nachbar konnte sich das nicht gefallen lassen. Er nahm einen Advokaten, und Prozesshansl, der schon in manchem solchem Streit gefochten und nicht leben konnte, wenn er nicht seinen Prozess hatte, zog gleichfalls seinen Rechtsbeistand zu Rate. Jetzt sehen wir den Prozesshansl in der Schreibstube seines Advokaten. Es hat schon ein Termin stattgefunden, und die Sache schien nicht gerade günstig für den Kläger verlaufen zu wollen, er hat deshalb eine Unterredung mit seinem Rechtsbeistande in der Stadt. Dieser lebt hauptsächlich von den Bauern, und solch' ein Prozesshansl, der in seine Hände fällt, ist ihm eine herrliche Einnahmequelle, er sucht die Leidenschaft seines Klienten in stetem Feuer zu erhalten, bestärkt ihn in seiner Rechthaberei und nährt dessen Sucht. Der alte Jurist ist eben ein Geschäftsmann — der Bauer hat noch Geld genug und will prozessieren — weshalb soll er nicht ebenso den Profit daran suchen, wie ein Anderer? Würde er so dumm sein und ihn abmahnen, ginge der Prozesshansl sicher zu einem Anderen, deshalb dient ihm der Advokat mit Eifer. Der Rechtsbeistand macht dem Kläger jetzt einen Vorschlag. Dieser aber passt der Rechthaberei des Bauern nicht, weil eine Spur von Nachgiebigkeit darin liegt, und — „Ich soll das tun!?“ sagt er, wie unser Bild das deutlich zeigt. Der Schreiber des Advokaten folgt der Darlegung seines Chefs mit großem Interesse, er hält in seiner Arbeit inne und denkt: „Darauf geht der alte Kunde sicher nicht ein, dafür kenne ich ihn schon.“ Es ist ein komisch-ernster Vorgang aus dem Bauernleben, den unser Bild sehr charakteristisch und anziehend hier wiedergibt.

Prozesshansl - Anton Müller

Prozesshansl - Anton Müller