Der Kärner.

Geheimnißvolle Stille verlieh der noch im Festkleide des Hochsommers prangenden Natur einen träumerischen Ausdruck. Leichter Höhenrauch erfüllte die Atmosphäre; milchweiße Wolkenreste folgten planlos den Strömungen in den oberen Luftschichten, während tief unter ihnen sanft ersterbende Windstöße aus fast entgegengesetzter Richtung über einen prächtig bestandenen Forst hinhauchten. Wie verloren gegangene Fleckchen Sonnenschein contrastirten einzelne gelb und röthlich belaubte Zweige zu dem vollen kräftigen Grün der stolzen Buchenwipfel. Die Sonne selbst neigte sich stark dem Westen zu; ihre Strahlen trafen daher nur theilweise die Chaussee, welche in gerader, unabsehbarer Linie den schönen Hochwald durchschnitt.

Schlank gebaute Rehe und breitgeweihte Damhirsche, durch die Abendkühle ermuntert oder aufgescheucht durch peinigende Insecten, traten hin und wieder auf die mit weißem Staub bedeckte Straße hinaus. Furchtlos spähten sie aufwärts und abwärts; die Aussicht auf einen mit gemäßigter Eile einherrollenden Frachtwagen flößte ihnen nicht mehr Scheu ein, als der Anblick eines einfältig und regungslos gen Himmel weisenden zweifarbigen Schlagbaumes, der ihnen die Lage einer für sie höchst ungefährlichen Hebestelle bezeichnete. Sonst war auf der ganzen langen Wegestrecke nichts sichtbar, das auf die Anwesenheit oder Nähe menschlicher Wesen hingedeutet hätte. –


Im Dickicht, festgeklammert an geborstener Rinde, hämmerte noch immer fleißig der Specht; die Wandertauben gurrten in den schattigen Baumwipfeln; spielend und ein seltsames Rascheln erzeugend sprangen die munteren Eichhörnchen auf dem mit moderndem Laub und noch grünenden Pflanzen bedeckten Erdboden umher, während schon kleine Heerden von Wanderdrosseln flatternd der Chaussee nachfolgten und die in bestimmten Entfernungen von einander gepflanzten Ebereschen ihrer bereits röthlich glühenden Beeren beraubten.

Lustig zirpten und pfiffen die sorglosen Vögel auf ihrem Plünderungszuge, gerade, als hätten sie dem einzigen ihnen sichtbaren Menschen, dem Begleiter des Frachtwagens, lehren wollen, wie man es anfangen müsse, um das Reisen und Wandern recht leicht und genußreich zu machen.

Doch der Kärrner sah nicht aus, wie Jemand, der ein sonderlicher Freund vom Pfeifen und Singen. Weit eher hätte man derartige Neigungen seinen drei plumpen, holsteiner Gäulen zugetraut, die ihre wuchtigen, langbehaarten Hufe mit einer Gewalt niederschmetterten, als wären sie eigens beauftragt gewesen, die etwa noch vorstehenden scharfen Chausseesteine tiefer in ihre Fugen und Lagen hineinzutreiben, oder auch zu feinem Staub zu zermalmen. Selbst der Leinwandverdeckte Wagen, welcher, aus der Ferne gesehen, lebhaft an einen geheiligten weißen Riesenelephanten erinnerte, zeigte in seinem Aeußeren gefälligere, freundlichere und Zutrauen erweckendere Formen, als sein breitschultriger, hochgewachsener Besitzer, dessen mit drittehalb Hundert dickköpfiger Nägel beschlagene, ungelenkige Schnürstiefel kaum mit geringerer Schwere auf die Straße fielen, als die Hufe der drei ehrlichen Holsteiner.

Wie die meisten Kärrner vom Fach, trug auch dieser auf seinem Haupte einen Hut von steifem Glanzleder, wie sie bei den Postillonen gebräuchlich, nur daß er solche an Höhe und Umfang weit übertraf. Unter dem Hute nun sah ein breites, unregelmäßig gebildetes Gesicht hervor, dessen kleine graue und blinzelnde Augen durch zwei mächtige gelbe Brauen verschleiert wurden, welches im Uebrigen aber sich vorzugsweise durch einen großen, schiefgezogenen Mund und die brennend rothe Hautfarbe, eine natürliche Folge von Witterungseinflüssen, auszeichnete. Ein feuerrother Backenbart, der auf beiden Seiten bis in die Mundwinkel hineinlief und der sich ausnahm, als sei er mittels des enggeschnürten, roth und gelb geblümten Tuches künstlich an seinem Halse befestigt gewesen, konnte ebenfalls nicht als Zierde des nichts weniger, als schönen Gesichtes gelten, wenn er auch, vermöge seiner Länge, Farbe und wunderbaren Struppigkeit vollkommen zu demselben paßte. Seinen gewaltigen Oberkörper umhüllte ein olivenfarbiger Rock, von welchem indessen nur der Kragen und eine Viertelelle der Schöße sichtbar. Alles Uebrige verbarg ein blaues Staubhemde, welches sich so dicht um Nacken und Handgelenke legte, daß es fast unbegreiflich erschien, wie es gelungen, das starke Haupt und die mächtigen Fäuste, ohne den Stoff zu zerreißen, durch die runden, festgesäumten Oeffnungen zu zwängen.

An das Staubhemde, oder vielmehr an die Rockschöße schlossen sich nach unten manchesterne Kniehosen an, die ihre Fortsetzung in blau und grau gestreiften Gamaschen fanden; diese aber, anstatt schützend über die Füße zu fallen, verloren sich in die halblangen Schnürstiefel, welche mittels starker Riemen so eng um die Knöchel zusammengepreßt worden waren, als hätten, wie bei den Pferden, Sohlen, Leder und Fuß aus einem einzigen Stück bestanden.

Was nun sonst noch im Allgemeinen die äußere Erscheinung eines rechtschaffenen Kärrners charakterisirt, das fehlte auch diesem nicht. Da sah man die kurze Tabackspfeife, die aus der linken Brusttasche seines blauen Kittels neugierig in die Welt hinausschaute und dabei munter ihre verschossenen seidenen Quasten wiegte und schüttelte, während die rechte durch eine mit echtem Virginia–Kanaster gefüllte Schweinsblase weit aufgebauscht wurde. Da sah man ein verwelktes Blümlein in dem den Hut umschlingenden Bande, und zwei silberne Stifte, welche die Stelle von Ringen vertraten, in den durchbohrten Ohrläppchen; ferner bemerkte man die Peitsche mit dem dicken, elastischen Stiel und der langen Schnur, die müßig unter dem linken Arm ruhte, und endlich den Hund, welcher seinem Herrn überallhin auf Schritt und Tritt so dicht und genau nachfolgte, daß man glauben konnte, die grau und blau gestreiften Gamaschen hätten zwei unförmliche, starke Magnete umschlossen, durch welche des getreuen Thieres gußeiserne Doppelnase beständig angezogen wurde.

Im Uebrigen wetteiferte der Hund mit seinem Herrn an Häßlichkeit. Halb Dogge, halb Dachs, halb Schlächterhund, schien er im Wachsthum nach oben zurückgeblieben zu sein und sich dafür desto mehr in die Breite ausgedehnt zu haben. Sein braun und schwarz getigertes Haar war kurz und schloß dicht und glänzend an die kräftige Musculatur an, und nicht viel länger, als das Haar, ragten die letzten Knorpelrestchen der ungleichmäßig abgeschnittenen Ohren über den breiten Schädel empor. Ebenso entdeckte man bei aufmerksamer Prüfung nur noch einen spitzen Haarwirbel, der höchst unzuverlässig die Stelle bezeichnete, auf welcher vor der wunderlichen Verstümmelung vielleicht eine langgebogene Schweifruthe, ähnlich dem getigerten Schlagbaum, in einem Winkel von fünfundvierzig Graden ausdruckslos gen Himmel gewiesen haben mochte. Zum Ueberfluß war das arme Thier von der launischen Natur mit einem sogenannten Glasauge mit weißer Iris bedacht worden, welches ihm, im Gegensatz zu dem andern, einen so furchtbar grimmigen Ausdruck verlieh, daß man sich scheute, ihm einen Bissen Brod zu reichen, aus Furcht, mit Haut und Haar verschlungen zu werden.

Doch wie schon angedeutet: Kärrner, Hund, Pferde und Wagen paßten ganz vortrefflich zu einander, und mochte die Welt über sie denken, wie sie wollte, eine größere Eintracht, als zwischen ihnen, konnte selbst im Paradiese vor dem Sündenfall nicht geherrscht haben. Es verrieth sich sogar eine gewisse Zuneigung in den Blicken, welche ‚Hechsel‘ – so hieß nämlich der Hund – gelegentlich von den blau gestreiften Magneten an der Hünengestalt seines Herrn emporsendete, und in dem Ausdruck, mit welchem dieser wieder, das eine Auge zukneifend und den einen Mundwinkel tief gesenkt, seine drei Holsteiner betrachtete.

Und recht stattliche, wohlgenährte Holsteiner waren es in der That, der schwarze sowohl, der die Spitze führte, wie die beiden Braunen, welche durch die Deichsel von einander geschieden wurden; trugen sie doch ihre riesenhaften, mit klingenden Messingzierrathen und rothen Zeugstreifen geschmückten Kummete so leicht, als wären es Perlenhalsbänder gewesen, wogegen von den übrigen Geschirrtheilen nur wenig sichtbar, indem dieselben, zum Schutz gegen Bremsen und sonstiges fliegendes Ungeziefer, dicht mit reichbelaubten Buchenzweigen besteckt worden waren. –

Knirschend rollten die breitbeschlagenen Räder auf der festen Straße einher, und dazu klirrten und rasselten Ketten und Ringe, daß es eine Lust war. Der grimmig dareinschauende, vierschrötige Kärrner hatte eben einen Sprung Rehe durch einen Doppelknall seiner Peitsche tiefer in den Forst hineingescheucht, und wohl tausend Schritte trennten ihn noch von dem Schlagbaum, als er plötzlich mit einigen langen Schritten neben das Vorderpferd hintrat und dann stehen blieb, um, wie eine Parade abnehmend, das Fuhrwerk an sich vorüber poltern zu lassen.

Das rechte Auge schloß sich, der linke Mundwinkel zog sich niederwärts, der lackirte Hut neigte sich mit dem Haupte zur Seite, und sichtbar weidete sich das alte Fuhrmannsherz an all den Herrlichkeiten, welche sich im Vorbeirollen seinen Blicken darboten. Dem kleinen grauen Auge entging nichts; es beobachtete die Pferde mit ihren Geschirren bis in die kleinsten Einzelheiten hinein und prüfte zugleich die silbern glänzenden Hufeisen; dann überflog es den Wagen, und ein leichtes Nicken des Hauptes bewies, daß Alles noch stimmte und sich fein säuberlich in gewohnter Ordnung befand: Die Leinwand und die Leiterbäume, die Achsenstützen und die Spannketten, der Hemmschuh, die Winde und das schwebende Gerüst unterhalb des Wagens, welches mit Fug und Recht den Namen Rumpelkammer verdient hätte; selbst die wohlverschlossene Schmierbüchse, die in ihrer äußeren Form nicht wenig an einen altmodischen Tschakot erinnerte, entging nicht dem scharfen Blick des blinzelnden grauen Auges. Und als der Wagen dann endlich vorüber war, da trat der Kärrner auf die andere Seite desselben, und seine Schritte verlängernd, wodurch die seltsame, wiegende Bewegung seiner Schultern noch erheblich verstärkt wurde, gelangte er nach kurzer Zeit, immer prüfend und beobachtend, neben das Handpferd.

Seine Blicke trafen den vorspringenden Erker des Chausseehauses.

„Immer successive!“ knurrte er den drei Holsteinern zu, die, das Wort auf eigene Art deutend, ihre Schritte beschleunigten. Dann führte er während des Gehens eine so tiefe Verbeugung aus, wie sie nur je ein vor innigster Devotion ersterbender Unterbeamter vor einer betreßten Excellenz zu Stande brachte.

Als er sich wieder emporrichtete, wurde es indessen klar, daß am allerwenigsten scheinheilige Unterwürfigkeit oder gar der Anblick des gestrengen Herrn Schlagbaums ihn zu der ehrerbietigen Bewegung veranlaßt hatte. Der Lackhut war nämlich in seinen Händen zurückgeblieben, und indem er ein roth und gelb geblümtes Taschentuch aus demselben hervorzog, um Schweiß und Staub von seiner Stirne zu entfernen, zeigte es sich, daß die wasser- und feuerfeste Kopfbedeckung eigentlich die Stelle eines geheimen und sichern Schubfaches bei ihm vertrat; denn in demselben lagen wohlgeordnet eine Anzahl Frachtbriefe, eine große lederne Brieftasche, ein kleiner Handspiegel nebst Kamm und Bürstchen, kurz, lauter Gegenstände, welche er zugleich gegen Regen zu schützen und jederzeit zur Hand zu haben wünschte.

Nach flüchtiger Benutzung des Tuches, nach ebenso flüchtiger, jedoch sehr gewandter Benutzung des Kammes, der Bürste und des Spiegels, in Folge deren die Haare der Schläfen und des Hinterkopfes sich über einer handgroßen kahlen Platte mitten auf dem Scheitel heuchlerisch die Hände reichten, wanderte der Hut mit einer neuen tiefen Verbeugung auf den Kopf zurück, die rechte Faust holte die Peitsche unter dem linken Arm hervor, und nachdem dieselbe in der Luft pfeifend einige Kreise beschrieben, folgten drei so heftig knallende Doppelschläge nach, daß ein mißtrauischer Wildwärter dadurch hätte getäuscht werden können.

Auf die Pferde übte das Peitschengeknall keinen andern Eindruck aus, als daß sie die Ohren spielend an den Kopf legten und eins nach dem andern zu schnauben begannen.

Sie wußten, was es bedeutete, sie wußten es wenigstens eben so gut, als der Chausseeeinnehmer, der nach kurzer Frist, anstatt sich mit dem Stockbeutel zu bewaffnen und den Schalter zu öffnen, vom Hofe auf die Straße hinaustrat, bereit, den guten Bekannten, der sich schon von weitem angemeldet hatte, zu begrüßen.

Bald darauf trafen die alten Freunde unter dem Schlagbaum zusammen; der Kärrner ließ Pferde und Wagen ihrer Wege gehen, und des Einnehmers Hand ergreifend, erkundigte er sich angelegentlich nach dessen Familie.

„Alles wohlauf,“ antwortete dieser, ein munteres Männchen, dessen Aeußeres auf einen früheren subalternen Staatsbeamten deutete, „Alles wohlauf, lieber Braun; Frau und Kinder fleißig im Garten, der Herbst rückt heran, Aepfel, Kartoffel und Pflaumen reifen – aber Sie, mein lieber Braun? Bei Ihnen braucht man kaum zu fragen, 's geht immer gut?“

Braun kniff das linke Auge zu, den rechten Mundwinkel senkte er bedächtig, und nachdem er mit der freien Faust den rothen Borstenkragen um etwa zwei Zoll weiter aus seiner Halsbinde hervorgezogen, antwortete er herablassend:

„Nun, Herr Einnehmer, wie sollt's gehen? Immer successive, ganz successive.“

„Ah, das freut mich herzlich,“ versetzte der Einnehmer außerordentlich zufrieden und zugleich versuchte er, die in seinen Händen befindliche Felsenfaust kräftig zu schütteln. „Sie sind übrigens früher zurückgekehrt, als ich glaubte, und gute Fracht, wie's scheint?“

„Nun, 's macht sich,“ entgegnete Braun, einen Seitenblick auf die Pferde werfend, die etwa zwanzig Schritte weiter neben der Einfahrt des Hofes stehen geblieben waren, „denke, morgen Abend zu Hause zu sein, und möchte daher heute noch anderthalb Meilen zurücklegen; wollen Sie also so gut sein, Herr Einnehmer, während ich mich etwas vernüchtere –“

„Verstehe, verstehe, lieber Freund,“ erwiderte der Zöllner schnell, „essen Sie ungestört, ich werde unterdessen die Pferde eigenhändig tränken. Möchten Sie aber nicht näher treten?“

„Nein, nein,“ antwortete der Kärrner in seinem tiefsten Baß und der rechte Mundwinkel wechselte mit dem linken Stellung, „ich setze mich dort beim Meilenstein auf die Rasenbank, 's schmeckt mir doppelt gut, wenn ich meine Holsteiner so recht nach Herzenslust trinken sehe.“

„Ganz nach Ihrem Belieben,“ versetzte der Einnehmer und wollte davon eilen, um sogleich mit dem Tränken zu beginnen, als Braun ihn aufforderte, ihn vorher an den Wagen zu begleiten, wo er zuerst einen großen Kober unter dem Leinwandverdeck hervorzog, dem alsbald eine Rolle fest gewickelten Virginia–Tabacks nachfolgte.

„Das ist für Sie, Herr Einnehmer,“ sagte er dann, dem freudig Ueberraschten den Taback darreichend, und mit seinem grimmigsten Gesicht, in der linken Hand die Peitsche, in der rechten den Kober, und ohne auf den ihm dargebrachten Dank zu achten, schritt er geradewegs auf den Meilenstein zu, der ungefähr dreißig Schritte weiter auf einer halbmondförmigen, mit einer Rasenbank umgebenen Fläche errichtet worden war.

Er wollte sich eben niedersetzten, als er plötzlich stehen blieb und mit allen Zeichen größten Erstaunens auf den am meisten zurückliegenden Theil der Rasenbank, welchen er bereits eingenommen fand, hinstierte.

Aber auch Hechsel war so überrascht, daß er sich mit Gewalt von den beiden blaugestreiften Magneten losriß, um die fremde Erscheinung prüfend zu betrachten und demnächst aus seines Herrn Gesichtszügen herauszulesen, wie er sich derselben gegenüber am gescheidtesten zu benehmen haben würde.

„Verdammt! Die scheint hier successive übernachten zu wollen,“ brach sich endlich das Erstaunen des Kärrners Bahn, doch lag im Tone seiner halblauten Stimme so viel Milde, daß der Schweifbüschel Hechsels sich sogleich in eine höchst bezeichnende wedelnde

Bewegung setzte und die Gamaschen ihre Anziehungskraft zurückerhielten. „Hm, hm,“ fuhr er darauf kopfnickend fort, „wenn das nicht die liebe Unschuld vom Himmel selber ist, will ich heute zum letzten Male meinen Wagen unter einem Schlagbaum hindurchgefahren haben.“

Dann stellte er den Kober auf die Bank, und die Peitsche fest unter den linken Arm geklemmt, die schwieligen Fäuste auf dem Rücken ineinander gelegt, trat er leise vor die Schläferin hin, in welcher er den vom Himmel gekommenen Engel der Unschuld zu erkennen meinte.

Sinnend blickte er auf die liebliche Erscheinung nieder, das rechte Auge kniff er dabei so fest zu, daß die sich darüber hinwölbende, struppige Braue fast seine wetterzerrissene Wange berührte, und indem er den linken Mundwinkel tief herabzog, gewann das grimmige Gesicht einen Ausdruck, als hätte er sehr ernstlich darüber nachgegrübelt, auf welche Weise er das vor ihm liegende Opfer am schnellsten und bequemsten verspeisen könne.

Wohl eine Minute hatte er regungslos auf die fest schlummernde Wandrerin niedergeschaut, als er sehr bedächtig die linke Hand nach vorn holte und mit überlegender Miene die langen, rothen Borsten seines natürlichen Halskragens durch die eisenharten Finger zu ziehen begann. Dabei vergaß er die Peitsche, und obwohl er schnell nach derselben haschte, fiel sie doch zur Erde nieder, und zwar so, daß deren schwerer Stiel einen der kleinen bestäubten Schuhe der jungen Schläferin leicht streifte.

Anna erwachte; doch wenn es den Kärrner befremdete, anstatt der vielleicht erwarteten schwarzen Augen ein großes blaues Augenpaar vor sich zu sehen, so prägte sich in Anna's Zügen ein wahres Entsetzen aus, sich plötzlich und unvermuthet einem so schrecklichen Manne und einem nicht minder schrecklichen und häßlichen Hunde gegenüber zu befinden. Sie schien förmlich gelähmt durch den Anblick; schlaff öffneten sich die auf ihrem Schooße gefalteten Hände, ihre Lippen bewegten sich leise, als hätte sie um Erbarmen flehen wollen, und indem ihre Blicke angstvoll zwischen dem Glasauge des Hundes und dem breiten rothen Gesicht des Kärrners hin und her flogen, die gleich grimmig und drohend auf sie hinstarrten, wich die frische, rothe Farbe von ihren Wangen.

Der Kärrner hatte unterdessen die Peitsche wieder aufgehoben und deren Schnur durch einige sausende Schwingungen geordnet. Daß er der jungen Reisenden, die eben vielleicht noch von freundlichen Träumen umfangen gewesen, Furcht einflößte, begriff er, und wie um sie zu ermuthigen nickte er ihr in seiner treuherzigsten Weise zu, die indessen weit entfernt davon war, wirklich Zutrauen zu erwecken.

„Wie, in aller Welt, kommst Du hierher?“ fragte er mit heiserer Stimme, und die rechte Faust schien den rothen Borstenkragen bis in die Ewigkeit hinein verlängern zu wollen.

Anna bebte bei dieser Frage bis in's Herz hinein, und mit der Hand matt nach der Richtung hinüber weisend, aus welcher der Kärrner gekommen, antwortete sie zögernd:

„Heute Mittag verließ ich das Städtchen, in welchem ich seit meiner Geburt lebte; ich befinde mich jetzt auf dem Weg nach der Residenz.“

„Also doch ein Marsch von über zwei Meilen,“ bemerkte Braun, „und, wie's scheint, zu Fuß?“

„Ich wanderte zu Fuß, um den Hauderer hier zu erwarten,“ lautete es gedämpft von den frischen Rosenlippen zurück.

„Aber zum Teufel, Schätzchen, warum hast Du nicht an Ort und Stelle bis zum Aufbruch des Hauderers gewartet, anstatt Dich müde zu laufen, und obenein mit einer Reisetasche? Zeige einmal her,“ und die Tasche ergreifend, wog er sie prüfend mit der Hand.

„Alle Welt!“ fuhr er fort und das rechte Auge versank hinter der gelben Braue, während das linke sich wüthend in Anna's Antlitz einbohrte, „solche Last zwei Meilen weit zu schleppen, muß successive seinen Grund haben!“

„Sie birgt meine ganze Habe,“ erklärte Anna, ihre Hände ängstlich auf die noch immer von dem Kärrner gehaltene Tasche legend.

„Glaub's wohl, Schätzchen, glaub's recht gern,“ entwand es sich heiser der breiten Brust, indem die schwielige Faust zögernd die Last fahren ließ, „allein darnach fragte ich eigentlich nicht, sondern ich meinte: warum nicht lieber gleich den Hauderer besteigen, bevor man successive müde geworden ist?“

Anna schwieg verwirrt; das Blut schoß ihr in das liebliche Antlitz. Dem Fragenden die Antwort ganz zu verweigern, fürchtete sie sich; ihm dagegen eine Unwahrheit zu sagen, war sie eben so wenig fähig, wie der Kärrner die Fertigkeit besaß, den wahren Ausdruck seiner Gefühle jedesmal in sein von der Natur gerade nicht sehr bevorzugtes Gesicht zu legen. Sie faßte sich daher ein Herz, und sittsam aufstehend, antwortete sie schüchtern und wie begütigend:

„Ich mußte diese Reise nothwendig antreten, und da mein Geld nicht ausreichte, die ganze Fahrt zu bezahlen, so ging ich bis hierher voraus, in der Hoffnung, von dem mich wohl bald einholenden Hauderer mitgenommen zu werden und ihn völlig befriedigen zu können.“

„Du glaubst also wirklich, die zwei Meilen würden einen großen Unterschied im Preise bewirken?“ fragte der Kärrner erstaunt und aus seiner Brust erschallte es wie ein höhnisches, heiseres Lachen, während sein grimmiges Gesicht sich noch grimmiger verzog, „o Schätzchen, wie bist Du doch successive und unerfahren! Nicht fünf Silbergroschen hast Du mit Deinen armen kleine Füßen von dem gewöhnlichen Preise abgearbeitet, und wenn der Hauderer Dich für weniger, als zwanzig Groschen mitnimmt, muß er eine andere Institution sein, als für die ich ihn halte.“

Anna erbleichte und wendete sich rathlos ab, um die andringenden Thränen zu verbergen.

„Vielleicht würde er weniger fordern, wenn ich eine Meile weiter gegangen wäre – aber noch ist es wohl nicht zu spät, das Versäumte nachzuholen?“ sprach sie mit unendlich rührendem Ausdruck, dann nahm sie die Reisetasche, um sich sogleich wieder auf den Weg zu begeben.

Da tupfte der Kärrner sie mit dem Zeigefinger leicht auf die Schulter, und mit einer Miene, die keinen Widerspruch zu dulden schien, forderte er sie auf, sich niederzusetzen.

Anna leistete stumm Folge und beobachtete gespannt den Kärrner, als dieser schweigend und beständig die gußeiserne Doppelnase des Hundes an den gestreiften Magneten davonschritt, gleich darauf mit seinem Kober zurückkehrte und neben ihr Platz nahm.

Hechsel war jetzt seines Dienstes natürlich entlassen, doch übten die Gamaschen noch immer insoweit ihre magnetische Kraft aus, daß er sich vor seinen Herrn hinsetzte und mit dem schwarzen Auge in den offenen Kober hineinspähte, mit dem Glasauge dagegen gleichsam begutachtend zu dem fremden jungen Mädchen hinaufschielte. Schweigend traf der Kärrner auch seine Vorbereitungen zu der Mahlzeit, und erst als er ein erschreckend großes Taschenmesser aufgeklappt und die breite Klinge oberflächlich an der nächsten Gamasche abgewischt hatte, wendete er sich seiner jugendlichen Gefährtin wieder zu.

„Nun iß, Schätzchen,“ sagte er ernst, indem er sich niederbeugte und ein halbes Brod aus dem Kober nahm, schnell hinter einander zwei dünne und zwei mindestens viermal so dicke Schnitte von demselben trennend, „'s geht sich successive besser, wenn der Mensch gegessen hat, und da Dir leider das Geld für den Hauderer fehlt, wird's wohl am Ende beim Gehen bleiben müssen.“

„Ich besitze nur einen halben Thaler,“ antwortete Anna traurig, und um ihrem unheimlichen Nachbarn nicht zu mißfallen, öffnete sie die Reisetasche, aus welcher sie ein Weißbrödchen und einen Apfel hervorzog, „ja, nur einen halben Thaler, und den möchte ich nicht gerne ganz ausgeben, weil ich vielleicht etwas Geld gebrauche, um mich in der fremden Stadt zu dem Herrn führen zu lassen, an welchen ich –“

Sie stockte; die plötzliche Regungslosigkeit ihres Nachbarn hatte sie befremdet, und als sie zu ihm aufsah, gewahrte sie, wie derselbe, in der einen Hand das Brod, die andere mit dem Messer bewaffnet auf das Knie gestützt, sie mit allen Zeichen des Erstaunens betrachtete. Dabei erschien er ihr aber, trotzdem er das eine Auge tief in seinem Kopf versteckt und den einen Mundwinkel über's halbe Kinn herabgezogen hatte, bei weitem nicht mehr so drohend und gefährlich; sie gewann es sogar über sich, zu lächeln, was von dem Kärrner mit einem zwar grimmigen, jedoch billigenden Kopfnicken, von Hechsel dagegen mit einem herablassenden Wedeln seines abhanden gekommenen Schweifes belohnt wurde.

„Hier lange zu, Schätzchen,“ knurrte Braun, mit der Spitze seines Zuschlagemessers auf die dünnen Brodschnitte und auf die Butter, den Käse und das Fleisch in dem Kober weisend, „lange fleißig zu, und je mehr davon hinter Deinen kleinen, scharfen Zähnen verschwindet, um so lieber soll mir's sein. Dein Brod magst Du dem Hunde geben – ja, ja, 's ist mein Ernst, verwundere Dich weiter nicht, denn so viel, wie wir Beide heute und morgen gebrauchen, ist noch vorhanden – aber vor allen Dingen, Schätzchen, wie heißt Du successive?“

„Ich heiße Anna,“ antwortete diese, frei aufseufzend, als ob durch des Kärrners wohlwollend rauhes Wesen eine sie fast erdrückende Last von ihrer Brust genommen worden wäre, „Anna Werth, doch bin ich gewöhnt, einfach Anna genannt zu werden.“

„Hm, Anna,“ wiederholte Braun, und deutlicher trat auf seinem gerötheten Gesicht das Wohlgefallen zu Tage, welches er darüber empfand, daß sein Gast nunmehr wirklich mit der Zutraulichkeit eines Kindes sich anschickte, das eigene Brod dem Hunde zu reichen und sich dafür an der Mahlzeit aus dem Kober zu betheiligen, „ich dagegen heiße Christian Braun, der Hund hier ist Hechsel, ein sehr treues und wachsames Thier, das schwarze Pferd drüben auf der Spitze heißt Morian, nach einem alten verstorbenen Onkel von mir, mit dem es einige Aehnlichkeit hat, und die beiden Stangenpferde sind successive Däne und Zeisig.“

„Welch' sonderbare Namen!“ versetzte Anna, die in demselben Grade, in welchem sie von dem Kärrner als Kind behandelt wurde, auch in die Jahre tändelnder Kindheit zurückversetzt zu werden schien; „wirklich recht sonderbare Namen, allein sie klingen deshalb nicht minder freundlich,“ fügte sie wie entschuldigend hinzu, und als sie dann wieder in das breite rothe Gesicht mit der seltsamen, struppigen Bürsteneinfassung schaute, da konnte sie nicht anders, sie mußte über sich selbst lächeln, dasselbe auch nur einen Augenblick verabscheuungswürdig häßlich gefunden zu haben. Sogar Hechsel, der mit vielem Behagen ihr trocknes Brod verzehrte, gewann für sie einen Ausdruck, als hätte er in das rechte Auge ein Lorgnon geklemmt gehabt, um sie mit erhöhter Theilnahme zu betrachten, wie sie sich entsann, an einem Reisenden bemerkt zu haben, der aus dem Fenster eines ihr begegnenden Postwagens zu ihr herüber geschaut hatte. In demselben Maße aber, in welchem des Kärrners Gesichtszüge befreundete Formen für sie gewannen, verlor sich auch ihre anfängliche Schüchternheit; den vor ihr stehenden Speisen sprach sie zu, wie es nach der langen, mühsamen Wanderung zu erwarten stand, und dabei vertiefte sie sich mit sittiger Gesprächigkeit in eine solche Menge von Fragen und Erklärungen, daß sie gänzlich übersah, wie der Kärrner selbst das Essen vergaß und ihr fortwährend mit einer gewissen Andacht zuhörte und zusah.

Erst als sie ihr Mahl beendigt hatte und der Einnehmer herüber rief, daß die Pferde zur Genüge Wasser erhalten hätten, entsann sich Braun, zu welchem Zwecke er sich ursprünglich nach der Rasenbank begeben hatte. Er verwandelte daher schnell die noch neben ihm liegenden Brodschnitte in ein unförmliches Butterbrod, welches er, um später während des Gehens zu speisen, behutsam in seine Brusttasche schob, worauf er den Inhalt des Kobers wieder zu ordnen begann.

„Höre, Schätzchen, ich habe mir die Sache überlegt,“ sagte er, während er den Riemen um den Speisebehälter schnallte, wobei ihm der ängstliche Ausdruck entging, mit welchem das junge Mädchen auf die sich in weiter Ferne verlierende Chaussee hinausschaute, „ich denke mir nämlich, wenn ich Deine Reisetasche in den Wagen lege, wirst Du's successive noch 'n Stündchen mit dem Gehen aushalten. Hältst Du's aber nicht aus, magst Du Dich zu der Tasche in den Wagen setzten; Platz ist genug da, ziehen werden Dich die Pferde auch noch – Du brauchst dann weder den Hauderer, noch sonst irgend ein anderes Fuhrwerk der Welt, und erreichst Du statt morgen früh, erst morgen Abend Dein Ziel, wird daraus wohl kein großes Unglück entstehen, und Deinen halben Thaler magst Du zu anderen Dingen verwenden.“

Ueber Anna's kindliches Antlitz flog ein Schimmer freudiger Ueberraschung.

„Sie wollten so gütig sein, mich mitzunehmen?“ rief sie aus, und es drängte sie, mit ihren zierlichen Händen des Kärrners eisenharte Faust zu ergreifen und dankbar zu drücken.

Der schwarze Lackhut nickte zustimmend, daß man die in demselben befindlichen Frachtbriefe und den Kamm deutlich klappern hörte.

„Wer hätte gedacht, als ich mich vor einer Weile müde und traurig hierher setzte, daß mir heute noch ein solches Glück bevorstände?“ fügte das erfreute Mädchen hinzu.

Der steife Lederhut nickte noch stärker, und indem das graue Auge sich fester und durchdringender auf Anna richtete, glaubte diese, lange kein Gesicht gesehen zu haben, welches das des riesenhaften Kärrners an wirklicher Schönheit übertroffen hätte. Das aber, indem das breite, rothe Gesicht sich in den vertrauensvoll zu ihm aufschauenden Augen spiegelte, in der gewaltigen Hünenbrust ein biederes Herz vor Rührung gleichsam schmolz, das ahnte sie nicht; sie kannte eben nur das einzige Gefühl inniger Dankbarkeit für eine Gefälligkeit, welche von einem fremden Menschen zu erbitten, sie in ihrer Anspruchslosigkeit nie gewagt haben würde. Ein Weilchen blickte der Kärrner noch ernst auf seine jugendliche Gefährtin nieder, dann nahm er Kober und Reisetasche.

„Vorwärts denn, Schätzchen, wenn wir einig sind,“ sprach er halb zu sich selbst, halb zu Anna gewendet, „mit dem Herrn Einnehmer plaudere nicht viel, er ist zwar ein guter, gefälliger Mann und successive recht gebildet, aber etwas neugierig, und Fragen und Antworten kosten Zeit, deren wir eben nicht zu viel übrig haben; Du siehst ja, die Sonne sinkt und wartet nicht auf uns.“

Dann bewegte er sich auf den Wagen zu, Hechsels gußeiserne Nase heftete sich wieder an die blaugestreiften Magnete, dicht hinter Hechsel aber folgte Anna so leichten Schrittes und so leichten Herzens, als wäre sie eine Schwester der blühenden Pelargonien in dem Erkerfenster des Chausseehauses, oder eine Gespielin des muntern Rothkehlchens gewesen, welches von der höchsten Spitze des Schlagbaums lustig in die kühle Waldluft hinauszirpte. –

Der neugierige Zöllner war mit einigen kurzen Bemerkungen über die ihm fremde junge Wandrerin abgefunden worden; eine längere Lobrede über die Gewissenhaftigkeit, mit welcher er die drei Holsteiner getränkt und ihnen schließlich die behaarten Hufe begossen und gekühlt hatte, reihte sich an jene Bemerkungen an, worauf ein fester Händedruck die flüchtige Zusammenkunft der beiden alten Bekannten abschloß. Ein zierlicher Doppelschlag mit der Peitsche, dem ein durchdringender Knall nachfolgte, diente als Signal zum Aufbruch, aber erst auf das mit vieler Würde ausgesprochene: „Immer successive!“ ihres Herrn lehnten die drei Holsteiner sich in die Geschirre, und knirschend und knarrend rollte der schwer befrachtete Wagen ihnen nach.

Die Ketten rasselten, die breitbeschlagenen Räder schlugen auf den wohlgeschmierten eisernen Achsen klingend hin und her, die Zierrathen an den hohen Kummeten klirrten, der fürchterliche Elephantenrücken schwankte leicht; um so lustiger tanzte dafür das Theertönnchen, wiegte sich der Hemmschuh, bewegte sich federnd das beinahe auf der Erde schleifende Tragegerüst und wies die sicher befestigte Hebewinde ihre stählernen, in schwarzem Fett schwimmenden Zähne.

Neben dem Sattelpferde auf dem Sommerwege wandelten dicht neben einander der riesenhafte Kärrner und Anna's zarte, schlanke Gestalt; Letztere fast einherschwebend, Ersterer dagegen den Oberkörper schwerfällig wiegend und mit dem vorwärts schreitenden Fuße jedesmal die entsprechende Schulter um eine halbe Elle nach vorne schwingend. Der Einnehmer hatte ihnen einige Minuten wohlgefällig nachgeblickt, bevor er sich in den Garten zu den Seinigen zurückbegab. Das Rothkehlchen zirpte wieder im Waldesdickicht, der Hund des Einnehmers lag mitten in der Hausthüre und schnarchte; in nächster Nähe von ihm spann eine weiße Katze; melancholisch schauten die roth glühenden Pelargonien zum Fenster hinaus, als hätten sie die gegenüber auf dem Grabenufer blühenden Feldblumen um die sich bereits einstellende Wirkung des sich ihnen anschmiegenden Thaus beneidet. -
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Piratenlieutenant