Zehntes Kapitel - Norna schien wirklich vollen Anspruch auf die Dankbarkeit des Udallers zu haben, denn ...

Norna schien wirklich vollen Anspruch auf die Dankbarkeit des Udallers zu haben, denn der Gesundheitszustand seiner Tochter hatte sich im Handumdrehen gebessert. Die Sibylle öffnete noch einmal das Fenster, Minna näherte sich mit liebevollem Zutrauen dem Vater, umschlang ihn und bat ihn um Verzeihung wegen der vielen Sorge, die sie ihm seit kurzem verursacht. Auch in die Arme der Schwester warf sie sich, gab aber ihr gegenüber der Reue, die sie fühlte, wegen des seltsamen Benehmens, das sie seit kurzem ihr gegenüber gezeigt, mehr durch Tränen und Küsse, als durch Worte Ausdruck. Der Udaller hingegen hielt es für höflich, seiner Wirtin, deren Geschicklichkeit sich so ungemein bewährt hatte, für die geleisteten Dienste zu danken. Kaum aber hatte er begonnen: »Liebwerte Muhme, seht, ich bin nur ein alter gerader Normann,« – als sie ihn auch schnell unterbrach, indem sie die Finger auf die Lippen legte.

»Wesen gibt es um uns,« sprach sie, »die keine sterbliche Stimme hören, und die nicht Zeugen von einem, dem menschlichen Gefühle dargebrachten Opfer sein dürfen. – Auch Augenblicke gibt es, wo sie sich selbst gegen mich, ihre mächtige Gebieterin, empören, weil mich noch die menschliche Hülle umgibt. Fürchte sie daher und schweige! Ich – nur ich, die durch Taten sich aus dem niedrigen Tale des Lebens und über Deine galligen Gebrechen emporhob; – ich, die dem Spender ihres Lebens die Gabe raubte, die er ihr verlieh, und die nun einsam und allein dasteht auf einer Klippe von unermeßlicher Höhe, losgerissen von der ganzen Erde außer dem unbedeutenden Punkte, den ihr armseliger Fuß betritt – ich allein bin bestimmt, mit diesen finstern Genossen zu unterhandeln. Fürchte Dich deshalb nicht, sei aber auch nicht zu kühn. Verbringe diesen Fasten mit Deinen Töchtern im Gebet!«


Der Udaller, schon vorher nicht willens, dem Gebot der Sibylle zuwider zu handeln, hatte jetzt, nachdem sie ihm solchen Dienst geleistet, hierzu noch weniger Lust, sondern setzte sich schweigend und griff nach einem neben ihm liegenden Buche in einem verzweifelten Versuche, die Langeweile zu vertreiben, denn noch nie hatte er in einer andern Absicht seine Zuflucht zu einem Buche genommen. Der Zufall spielte ihm eins in die Hände, das für ihn, wäre es nicht in lateinischer Sprache abgefaßt gewesen, recht viel Interesse hätte haben können, denn es stammte von Olaus Magnus und handelte von den Sitten der alten Nationen des Nordens. So mußte er sich begnügen, die Belehrung, die er im Text nicht fand, in den beigegebenen schönen Kupfern zu suchen.

Die beiden Schwestern sahen unterdessen wie zwei Blumen am selben Stengel, und hielten sich innig umschlungen, als fürchteten sie, daß eine neue Veranlassung zur Kälte sich wieder zwischen sie drängen möchte, um das kaum wiederhergestellte harmonische Verhältnis zu trüben. Norna saß ihnen gegenüber, in dem großen Pergamentbande blätternd, vor dem sie sie bei ihrem Eintritt getroffen hatte; und dann wieder auf die Schwestern mit Blicken schauend, deren freundlicher und ungewöhnlich gütiger Ausdruck die strenge und ernste Feierlichkeit ihrer Gesichtszüge milderte. Alles war still und stumm wie der Tod, und selbst Brenda hatte in ihrer Gemütsbewegung noch nicht Zeit gewonnen, zu überlegen, ob es recht sei, die übrige Tageszeit auf gleiche Weise hinzubringen; da wurde die tiefe Stille plötzlich durch den Eintritt des Zwerges unterbrochen.

Norna warf einen verdrießlichen Blick auf den Störenfried, der, dem Anschein nach, um seine Zudringlichkeit zu entschuldigen, die Hände emporhielt und einen klagenden Ton hervorstieß; dann aber schnell wieder zu seiner gewöhnlichen Ausdrucksweise zurückkehrte und eine Menge Zeichen mit seinen Fingern beschrieb, die von seiner Gebieterin mit eben so großer Gewandtheit wie Schnelligkeit erwidert wurden, so daß die beiden jungen Mädchen, die nie etwas von einer solchen Kunst gesehen oder gehört hatten, solche Verständigung unter zwei Menschen fast für Zauberei zu halten geneigt waren. Als die wunderliche Zwiesprach zu Ende war, wandte Norna sich wieder, und zwar nicht ohne Stolz, an Magnus Troil und sprach: »Wie, Vetter, konntet Ihr Euch so vergessen, irdische Nahrung in die Behausung der Reimkundigen zu bringen und Anstalten zu Lustbarkeiten und Tafelfreuden darin zu treffen? – So redet nicht – antwortet mir nicht; der Erfolg meines Heilungsversuchs hängt von Eurem Schweigen und Gehorsam ab – wechselt Ihr nur ein Wort, ja auch nur einen einzigen Blick mit mir, so wird es um das arme Mädchen bald noch schlimmer stehen als zuvor.«

Diese Drohung war ein wirksamer Zauber auf die Zunge des Udallers, den es nicht wenig danach verlangte, sie zu seiner Rechtfertigung in Bewegung Zu sehen.

»Folgt mir, ihr alle!« fuhr Norna fort, zu der Tür des Zimmers schreitend, »und keiner schaue hinter sich – wir lassen dieses Gemach nicht leer zurück, obgleich wir, die Kinder der Sterblichkeit, uns daraus hinweg begeben.«

Sie schritt hinaus, und der Udaller winkte seinen Töchtern, ihrem Gebete zu gehorchen. Schneller als ihre Gäste eilte die Sibylle die rauhe Stiege hinab, die zu dem unteren Raume führte. Dort waren die beiden Dienstboten, die Magnus Troil mitgebracht, gerade dabei, den Mundvorrat aus den Mantelsäcken zu packen und aufzutischen, und standen nun, starr vor Furcht und Erstaunen, als Norna mit dem Zwerge ein Stück von den Lebensmitteln nach dem andern nahm und zu der Oeffnung, die das Fenster ersetzte, über die hohe Klippe hinweg, auf der sich die Burg erhob, hinab in den Ozean, der tief unten wogte und schäumte, schleuderte – mit solcher Geschwindigkeit, daß der alte Udaller kaum noch seinen alten silbernen Becher retten konnte, denn schon flog die große lederne Branntweinflasche, die sein Lieblingsgetränk enthielt, den Speisen hinterher, begleitet von einem boshaften Grinsen des Zwerges, der damit Magnus Troil zu verstehen geben wollte, daß ihm an seinem Aerger doch noch mehr gelegen sei als an dem ganzen Inhalt der Flasche, Darüber riß aber dem Udaller der Geduldsfaden ... »Ei, was, Muhme,« rief er grimmig, »das ist ja tolle Verschwendung; wo und was sollen wir dann zu Nacht essen?«

»Wo ihr wollt,« antwortete Norna, »und was ihr wollt; aber weder sollt ihr essen in meiner Behausung, noch sollt ihr das essen, womit ihr meine Behausung entheiligt habt. Reizt ihn, den Unsichtbaren, nicht länger, sondern fort mit euch allen, – zu lange schon habt ihr hier geweilt, als daß es mir und wohl auch euch gut sein könnte.«

»Wie, Muhme,« entgegnete Magnus, »Ihr wollt uns doch hinauswerfen in dieser späten Stunde? – Bedenkt, daß es eine Schande wäre für unsern Stamm, wenn Ihr uns zwänget, unser Tau zu kappen und ohne Proviant in See zu stechen.«

»Schweigt, und macht, daß ihr fortkommt,« erwiderte Norna, »seid zufrieden, daß euch dasjenige ward, weshalb ihr zu mir kamt. Ich habe keine Herberge für sterbliche Gäste, keinen Vorrat, menschlichen Bedürfnissen abzuhelfen. Tief unten an der Klippe ist ein Ufer von feinstem Sande, ein Strom, rein und klar wie die Quelle von Kildingui, und die Felsen tragen Löffelkraut, gesund und heilsam wie das von Guiydin. Wohl wißt ihr, daß der Quell von Kildingui und das Kraut von Guiydin vor jeder Krankheit außer vor dem schwarzen Tode schützen.«

»Und das weiß ich auch,« sagte der Udaller, »daß ich lieber verdorbenes Seegras, wie ein Eisbock, oder gesalzenes Seehundfleisch, wie die geringen Leute von Burraforth, oder Muscheln aller Art, wie die armen Schelme von Stroma, zu mir nehmen wollte, als weißes Brot zu brechen und roten Wein zu trinken, in einem Hause, wo man scheel dazu sieht. Und doch,« fuhr er sich besinnend fort, »tue ich unrecht, Muhme, schweres Unrecht, so zu Euch zu sprechen, denn weit eher sollte ich Euch danken für das, was Ihr getan, als Euch Vorwürfe machen, daß Ihr Euren eigenen Weg geht. Aber Ihr werdet ungeduldig – wie ich sehe, – nun, nun, wir wollen uns gleich aufmachen. – Und Ihr, Bursche,« fuhr er, zu seinem Diener gewandt, fort, »habt's ein andermal nicht so eilig, Speisen aufzutischen, sondern wartet, bis Euch was aufgetragen wird. Hinaus mit Euch, die Klepper zu holen; denn ich sehe schon, wir müssen für die Nacht auf einen andern Hafen lossteuern, wollen wir nicht mit leerem Magen und auf einem harten Lager schlafen.«

Schon war der Udaller mit seinen Töchtern am Arm, hinter seinen beiden Dienstboten her, bis zur Tür gelangt, als Norna ihnen plötzlich mit einem emphatischen Tone: »Halt!« zurief; sie gehorchten und wandten sich wieder zu ihr. Sie hielt Magnus ihre Hand entgegen, die der gutmütige Mann ohne Zögern erfaßte.

»Magnus,« sagte sie, »wir trennen uns aus Notwendigkeit; aber, wie ich hoffe, nicht im Zorn!«

»Nein, nein, gewiß nicht,« antwortete der Udaller mit Wärme, »ganz gewiß nicht; ich will keinem Menschen Böses, am wenigsten aber einer Verwandten, deren Rat mich schon durch manche böse Flut gesteuert hat.«

»Genug!« erwiderte Norna, »und nun lebt wohl! aller Segen, den ich spenden kann, begleite Euch! – Kein Wort mehr! – Kommt näher, Ihr Mädchen,« fuhr sie dann fort, »und laßt mich Eure Stirnen küssen.« Minna gehorchte mit Ehrerbietung, Brenda mit Bangen; die eine überwältigt von der Wärme ihrer Einbildungskraft, die andere unter dem Druck der natürlichen Aengstlichkeit ihres Temperaments, Norna wandte sich nun von ihnen, und nach wenigen Minuten schon befanden sich Vater und Töchter jenseits der Brücke, auf dem platten Gipfel des Felsens, vor der Burg, die von diesem seltsamen Weibe bewohnt wurde. Die Nacht, denn sie war jetzt hereingebrochen, war ungewöhnlich heiter; ein helles Zwielicht, das weit über die Oberfläche des Sees hinschimmerte, ersetzte die kurze Abwesenheit der Sommersonne, und die Wellen schienen unter seinem Einflusse zu schlummern, so schwach und leise war der Ton, mit dem eine nach der andern sich gegen den Fuß der Klippe bewegte, auf deren Gipfel sie standen. Hinter ihnen erhob sich die rauhe Burg, in dem einförmig grauen Ton der Atmosphäre, alt und formlos, wie der Felsen, auf dem sie erbaut war. Nichts verriet dem Auge und Ohr, daß hier die Wohnung eines Menschen sei, als der aus einer unförmlichen Schießscharte dringende Schimmer einer schwachen Lampe, der in das herrschende Zwielicht nur einen einzigen dünnen Lichtstrahl warf.

Nornas Gäste, auf so jähe, unvermutete Weise von dem Obdache gewiesen, das ihnen für die Nacht Unterstand währen sollte, standen ein paar Augenblicke schweigend da, jeder in seine eigenen Gedanken versunken und noch immer von Staunen über das Verhalten des seltsamen Weibes beherrscht. Brenda war die erste, welche Worte fand und die Frage aufwarf, wohin man nun die Schritte lenken und wo die Nacht zubringen solle. Hatte aus Brendas Worten Schmerz und Bangen geklungen, so behielt für den Udaller die Situation nur eine komische Seite; er lachte, daß ihm die Augen übergingen, die Felsen rund um ihn widerhallten und die schlummernden Seevögel aufgeschreckt wurden, bis die armen Mädchen endlich besorgt wurden, es möchte mit ihm nicht mehr ganz richtig sein.

Endlich aber erschöpfte sich die Lachlust des alten Normannen, und nachdem er tief Atem geschöpft und die Augen getrocknet, sprach er, nicht ohne Neigung zur Wiederholung seines Fröhlichkeitsausbruches zu bekunden: »Nun, bei den Gebeinen St. Magnus, meines Ahnherrn und Namensvetters! Wer sollte denken, daß man lachen könnte, wenn man nächtlicherweile aus dem Hause geworfen wird, worin man Zuflucht erhoffte? – Meiner Sixen! und dabei scheint's fast, als ob kaum was anderes übrig bliebe, als durch das Zwielicht gerade auf Burgh-Westra zu steuern. Nur Euretwegen tut's mir leid, Mädchen! ich meinerseits habe schon manchen ganz anderen Kreuzzug mitgemacht. Hätten wir nur einen Bissen für Euch und einen Schluck für mich, dann wollten wir uns über nichts beklagen.«

Aber die beiden Schwestern versicherten ihrem Vater, daß sie gar keinen Hunger spürten.

»Nun, – ein Glück, ein wahres Glück!« entgegnete Magnus, »und so will ich mich auch über meinen eigenen Appetit nicht beschweren, obgleich er stärker ist als sonst... Ha! wie der Schurke, der Niklas Strumpher, höhnisch grinste, als er den guten Schnaps in die salzige Flut schleuderte! Wäre es nicht um meiner Muhme, um Nornas willen gewesen, so hätte ich den mißgestalteten Dickkopf meiner guten Flasche nachgeschickt, so wahr als St. Magnus' Gebeine zu Kirkwall ruhen.«

Unterdes waren die beiden Diener mit den Kleppern zurückgekehrt, die sich leicht hatten einfangen lassen, zumal sie wenig Weide gefunden hatten. Die Aussichten besserten sich für die obdachlosen Leute erheblich durch die Nachricht, daß ein kleiner Korb Nornas Grimm und Pacolets Eifer glücklich entgangen und von einem der Diener beiseite gebracht worden war, der auch in kaum zweistündiger Entfernung, am Strande, eine verlassene Fischerhütte bemerkt hatte, in der sich bequem übernachten ließ.

Wer Udaller, froh, für seine Töchter solche Zuflucht zu wissen, gab seinem Gaule die Sporen und sang nun, lustig und guter Dinge, als habe er die nächtliche Reise ganz aus freier Wahl unternommen, von Brenda begleitet, kräftige Normannenlieder; Minna war zwar solcher Anstrengung noch unfähig, gab sich aber alle Mühe, Anteil an dem Gesange zu nehmen, und schien ganz im Gegensatz zu der Stimmung, die sie seit jenem schrecklichen Morgen, der den Festlichkeiten von Burgh-Westra folgte, beherrscht hatte, für alles was um sie her vorging, empfänglich zu sein, ja gab bereitwillig und freundlich auf die Fragen Antwort, die ihr Vater über ihre Gesundheit an sie richtete. Bei weitem glücklicher und zufriedener, als am vergangenen Morgen, ritten sie nun in die Nacht hinein, Schutz und Obdach für die Nacht in der Fischerhütte erhoffend, die sie öde und verlassen wähnten.

Aber Magnus Troil war es heute beschieden, mehr denn einmal in seinen Erwartungen getäuscht zu werden.

»Wo liegt denn nun Deine Kajüte, Laurie?« fragte der Udaller denjenigen seiner beiden Diener, welcher die Hütte ausgekundschaftet hatte,

»Dort muß sie liegen,« antwortete Laurence Scholen, »dort am See; aber meiner Sixen! wenn ich recht sehe, sind Leute darin ... Gebe Gott und St. Ronan, daß es gute Gesellschaft sei!«

Und wirklich! durch die Ritzen und Spalten der Schindeln, aus denen die Hütte erbaut war, schimmerte Licht! und abergläubische Gedanken erfüllten im Nu die Gemüter der auf die Hütte zutretenden Leute.

»Das sind Zwerge!« – »Nein, nein, Hexen!« – »Oder Seejungfrauen,« so riefen Herrschaft und Diener .... »Hört doch nur ihre wilden Gesänge!«

Man lauschte gespannt – und wirklich, von der Hütte her erschallte Musik, die Brenda mit zitternder Stimme für Geigentöne erklärte.

»Geige oder Satan!« rief der Udaller, der, wenn er auch vielleicht an nächtliche Erscheinungen glaubte, sich doch nicht vor ihnen fürchtete, »mich soll der Henker holen, wenn ich mich von einer Hexe noch einmal um mein Abendbrot prellen lasse!« Im Nu war er aus dem Sattel, faßte seinen treuen Reiseknüttel und schritt auf die Hütte zu, nur von Laurie gefolgt, denn die beiden andern Diener blieben am Strande bei seinen Töchtern und den Pferden zurück.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Pirat. Band 2