Sechstes Capitel. - Der Falkner Laitzinger, der sich bei Tag verstecken mußte, hetzte in den kurzen Sommernächten das gute Roß des Peter Nachtigall zuschanden. Dreimal war er auf diesem flinken Sattel den Straßenräubern entronnen. ...

Sechstes Capitel. - Der Falkner Laitzinger, der sich bei Tag verstecken mußte, hetzte in den kurzen Sommernächten das gute Roß des Peter Nachtigall zuschanden. Dreimal war er auf diesem flinken Sattel den Straßenräubern entronnen. Zu Ende der fünften Nacht, zwischen Ampfing und Mühldorf, brach der erschöpfte Gaul zu Boden und stand nimmer auf. Laitzinger mußte laufen. Immer hielt er sich in den Wäldern, den ganzen Tag, schlug sich durch Dickungen und watete durch Moor und Sumpf. Zu Tod erschöpft, dem Verhungern nahe, in zerrissenen Kleidern, mit Schlamm behangen, sah er am sinkenden Abend von der Raitenhaslacher Höhe die Pfannenfeuer flammen, die man zu Burghausen entzündete, um die Arbeit am Hunds-Törring auch in den Nachtstunden vorwärts zu bringen.

Laitzinger wollte über das steile Waldgehänge hinunterklettern. Da kam von der Saalach ein klirrender Reiterzug die Straße herauf. Herzog Heinrich, von seinem ehrlichen Fieberanfall noch nicht völlig genesen, machte seinen abendlichen Erquickungsritt. Seine Leibtrabanten, an die vierzig Harnischer, waren ihm Schutz und Gefolge. Zwei mit Wachsfackeln ritten voraus.


Der Falkner hatte kein schweres Raten: Dieser kleine, flinke, braune Herr, der gesondert von den anderen trabte, trug an seinem zierlichen Leibe die Hand, für die das winzige, mit Schweiß durchtränkte, an einer Silberschnur um den Hals des Laitzinger gesiegelte Röllchen bestimmt war.

Als der schmutzige, zerlumpte Strolch so jäh aus den Stauden schnellte und auf den Herzog zusprang, wollten die Harnischer mit dem Eisen dreinschlagen. „Botschaft für den Herzog“, kreischte der Falkner, „von seinem besten Freund.“ Er streckte die leeren Hände hoch. „Ich bin ohne Waffen.“

Herr Heinrich, der ein bißchen erschrocken war, befahl: „Nüremberger, Ramsauer! Faßt den Kerl an den Händen!“ Er musterte beim Fackelschein den vor Erschöpfung Zitternden. „Von meinem besten Freund? Das ist gelogen. Unter Fürsten und Herren hab ich nur einen Freund. Der bin ich selber. Wer ist der Wunderliche, den du meinst?“

„Ich hab schwören müssen, daß ich schweig. Die Botschaft ist um meinen Hals gesiegelt. Nur Ihr allein, Herr, dürft sie lösen von mir.“

Auf einen Wink des Herzogs sprang Malimmes vom Gaul und entblößte die Brust des Laitzinger. Herr Heinrich schnitt mit seinem Dolche die silberne Schnur an des Falkners Hals entzwei, wickelte das mürbe, feuchte Röllchen auseinander und las bei der Fackelhelle. Er wurde bleich, und sein Gesicht verzerrte sich. Mit funkelnden Augen beugte er sich aus dem Sattel herunter und sah dem Boten ins Gesicht. Und las wieder. „Heim!“ Seine Stimme schrillte. War’s Zorn? Oder wilde Freude? „Hebt ihn hinter dem Jul auf den Gaul hinauf. Zwei magere Buben machen den Falben nicht müd. Und fort! Fort! Heim!“ Der Herzog hatte sein Roß gewendet und ließ es jagen. Die Harnischer mußten ihre schlechteren Gäule treiben. Bei dem schnellen Ritt wehten die Fackelflammen, daß sie zu erlöschen drohten.

In diesem zuckenden Wechsel von Dunkelheit und Helle saß der Bote hinter Jul auf dem Falben und hielt die Arme um den jungen Reiter geklammert.

Malimmes, in einer galligen Verdrossenheit, murrte dem Runotter zu: „Guck! Dem Jul ist ungemütlich. Das paßt, ihm nit, daß der ander die Arm so fest um ihn her hat.“

Der Ramsauer nickte, neigte sich im Ritte gegen den Söldner hin und flüsterte: „Ich selber merk’s. Und das ist seltsam. Früher einmal – ich weiß nimmer, wann – ist ein Maidl gewesen, das allweil ein lützel gebubnet hat. Jetzt seh ich einen Buben, der maidelen tut.“

Ein rauhes Lachen. Und Malimmes schlug seinem Gaul die Sporen in den Leib, ließ ihn ein paar Sätze nach vorwärts machen, faßte mit eiserner Faust den Boten am Nacken, riß ihn von dem scheuenden Falben zu sich auf den Ingolstädter herüber und hielt ihn umklammert, daß der Laitzinger stöhnen mußte. „Gelt, du? Bei mir ist das Hocken ein lützel gröber.“

Es wurde Nacht, bis der Reiterzug über die letzte Brücke hineinklirrte unter die Hallendächer des Schloßhofes.

In der großen, vielfenstrigen Stube brannten die Kerzen. Nikodemus saß mit vier Schreibern am Tische. Als Herr Heinrich so zu Türe hereinstürmte, wie er aus dem Sattel gesprungen war, in Panzer, Mantel und Helm, da merkte der Kahlköpfige gleich, daß ein schweres Ding sich ereignet hatte. Er schickte die Schreiber aus der Stube und fragte erschrocken: „Herr?“

Der Herzog sah mit blitzenden Augen die Spruchbänder an der Mauer an, lachte grell und rief über die Schulter: „Den Kerl herein!“

Die vier Harnischer, die seit dem Winter immer um seine Person waren – Malimmes, Runotter, Jul und ein alter Doppelsöldner – brachten den Laitzinger in seinem Schmutz und seiner bleichen, zitternden Angst über die Schwelle und führten vor den Herzog hin. Drei von diesen vieren schienen sich bei dem Vorgang nicht aufzuregen; sie hatten gleichgültige, strenge Gesichter. Doch in den großen heißen Augen des Jul war ein scheues Erbarmen mit dem jungen Menschen, der sich vor Angst und Erschöpfung kaum noch auf den Beinen erhalten konnte.

Schweigend hatte der Herzog seinem Rat das kleine, mürbe, zerknitterte Pergament gereicht; und schweigend, mit vorgebeugtem Gesicht und unter raschen Atemzügen wartete er, bis Nikodemus gelesen hatte.

Der Kahlköpfige betrachtete das Blatt, sah verdutzt den Herzog an und las wieder.

„Nun?“

Nikodemus hob stumm die Schultern.

„Kennst du diese Schrift?“

„Das ist zierlich gemalte Klosterschrift, die keine Hand erkennen läßt.“

In Zorn geratend, drängte der Herzog: „Und die Botschaft? So rede doch!“

„Herr! Die muß man mit Vorsicht beschauen. Das kann ein furchtbares Ding sein. Aber auch ein dummer Schabernack.“

„Dreck oder Gold!“ Herr Heinrich nickte: „Gold, wenn ich weiß, von wem die Botschaft kommt.“ Er ging mit flinkem Schritt auf den Laitzinger zu. „Hast du Kenntnis von dem Inhalt dieses Blattes?“

Der Bote schüttelte den Kopf.

„Wer hat dich geschickt?“

„Herr, ich hab auf das heilige Brot geschworen, daß ich schweig.“

Da lächelte Nikodemus. „Als Priester sag ich dir: Erzwungener Eid ist keiner, Reden aus Zwang ist Schweigen. Ich absolviere dich.“

„Und bleibst du schweigsam“, fiel Herr Heinrich ein, „so laß ich dich auf die spanische Bank legen und schicke dich morgen mit diesem Blatt nach Ingolstadt zu meinem Vetter Loys. Dann wird der dich fragen.“

Der Bote schloß die Augen und wankte, daß man ihn stützen mußte.

„Redest du aber, so sollst du leben bei mir wie einer, der mich beschenkte mit einer unbezahlbaren Kostbarkeit.“

Laitzinger tat die verstörten Augen auf und kämpfte in seiner verlorenen Seele einen langen, stummen Kampf. Dann keuchte er: „Laßt mich leben, Herr! Ich will es Euch ins Ohr sagen.“

Gierig streckte Herr Heinrich den Hals. Und Laitzinger flüsterte am Ohr des Herzogs. Ein paar Worte nur.

Erschrocken wich Herr Heinrich zurück. Und während er sprachlos stand, war Entsetzen in seinen Augen. Den Arm des Kahlköpfigen umklammernd, stammelte er: „Nikodemus! Ich bin nicht der übelste der Menschen. Es gibt noch Dinge, die auch mich empören.“ Mit jagendem Schritt verließ er die Stube. Und eilte durch den kahlen Gang zu einer Türe, vor der zwei Harnischer auf Wache standen. Als er im Geklirr seines Stahlkleides den kleinen dämmerigen Raum betrat, der von einer verschleierten Ampel nur matt erleuchtet war, erwachte der schlafende Knabe. Der Herzog riß ihn aus den Kissen und schüttelte heftig das feste, gesunde Körperchen. „Du! Du! Wirst du mich auch einmal verraten?“ Er sah nicht das blasse Gesicht der Wärterin, sah nicht die Herzogin in ihrem Schreck. Nur immer die Augen seines Kindes sah er an, diese noch schlaftrunkenen und doch schon neugierigen Knabenaugen. Der kleine Hemdschütz wollte unter dem harten Griff der gepanzerten Fäuste ein bißchen greinen. Aber da erkannte er den Vater, lachte, schlang die Ärmchen um Herrn Heinrichs Halsberge und sagte munter: „Gut Nacht, Vatti! Denk des Lllloys!“

„Ich denke!“ Herr Heinrich hielt an seiner eisernen Brust das Kind umschlungen. „Gott! Schicke mir alles Üble, ich hab’s verdient. Nur dieses Eine nicht! Dieses Fürchterliche! Daß mein eigen Kind mich verrät!“ Nun war er ruhig. Er küßte und, herzte den Knaben, schwatzte lustig mit ihm, huschelte ihn auf die Kissen hin und deckte ihn sorglich zu. „Schlaf, mein Jung! Schlaf nur wieder! Ich arbeite für dich.“ Ohne der bleichen, zitternden Frau einen Blick zu gönnen, verließ er die Kammer.

Als er wieder in die große Stube kam, legte er den Helm, das Schwert und den Mantel ab und ließ sich von Malimmes die Wehrstücke herunterschnallen. Dabei sagte er zum Laitzinger, der zitternd auf einem der dreibeinigen Stühle saß, weil ihn, seine Knie nicht trugen: „Deine Botschaft ist Gold geworden. Aber du hast nur halb geredet. Jetzt rede ganz! Wieviel Helme kann der Vetter zu Ingolstadt noch aufbringen? Wer steht noch zu ihm? Wer ist in Ingolstadt?“

Der Laitzinger schätzte den Rest von Herzog Ludwigs Macht auf dreitausend Helme. Und zählte die Namen der fremden Herren auf, die nach Ingolstadt gekommen waren, um Ritterschaft zu suchen. Und nannte die Verbündeten, die dem Herzog mit Hilfstruppen zugezogen waren, nannte den Kaspar von Törring, den Hochenecher von Salzburg, den Bischof Engelmar und den Chorherrn Hartneid Aschacher von Chiemsee, den Fürstpropst Pienzenauer und den Ritter Lampert Someiner von Berchtesgaden.

Der Herzog nickte heiter vor sich hin. Dann sah er ein bißchen verwundert den Runotter und den jungen Harnischer an. Doch um Erregung und Sturm in den Gesichtern seiner Leute pflegte sich Herr Heinrich nicht viel zu kümmern. Und was er in den Augen dieser beiden sah und im brennenden Gesicht des Malimmes, das deutete er als kriegsmännische Ahnung der Dinge, die jetzt kommen würden. „Ja, Leut!“ In seiner Stimme war ein fröhlicher Hohn. „Arbeit kommt. Die letzte. Dann wollen wir uns als friedsame Seelen des schönen Lebens freuen!“ Er wurde ernst und betrachtete den Laitzinger. „Du! Man wird dich speisen und kleiden, wird dich ruhen lassen, bis du nimmer zitterst. Ich schenke dir als Botenlohn einen Waldhof im Innviertel, mit Knechten, Vieh und Feldern. Morgen wird man dich hinbringen. Dort lebe! Ich mag dich nimmer sehen. Fort mit ihm!“ Er wandte sich von den Harnischern, die den Laitzinger aus der Stube führten. Und lachend faßte er den Kahlköpfigen an der Schulter. „Nikodemus! Dieser andere ist der Starke. Ich bin der Kleine, bin seine Laus. Aber bei ihm ist Verrat und Dummheit. Bei mir das Glück.“

Herr Heinrich und Nikodemus arbeiteten bis zum Morgen. Als die Sonne kam, jagten sieben berittene Boten davon. Und während der folgenden Wochen verließ an jedem Abend ein kleiner Trupp von Harnischern, die den Landfrieden bewachen sollten, oder ein Häuflein von Spießknechten mit Armbrustern, Faustschützen und Troßwagen die Mauern von Burghausen. Alle Leute erfuhren es: Das waren Hilfstruppen, die der Herzog Heinrich über Mühldorf, Landshut und Kehlheim nach Nürnberg schickte, um das Reichsheer mehren zu helfen, das der deutsche König wider die Hussiten in Böhmen rüstete. Als Führer dieser getrennt und auf verschiedenen Wegen marschierenden Kriegshäuflein wählte Herr Heinrich seine Verläßlichsten; sie beschworen auf das Kruzifix die geheime Order, sich bis zum 12. September in der Nähe von Landshut zu halten, dann in Nachtmärschen auf versteckten Wegen an Freising vorbeizuziehen und sich zwei Tage vor Matthäi, am Abend des 18. September, in den Wäldern zwischen Dachau und dem Webelsbach zu sammeln. – –

– König Sigismund war zu Nürnberg eingetroffen, erließ unter Androhung der Reichsacht ein neues Friedensgebot an die kriegführenden Herzöge von Bayern und beschied sie auf den 1. Oktober zu einem Fürstentag nach Regensburg. Hier sollten alle Gegner sich versöhnen und einen heilsamen Frieden beschwören, um Gott, der Kirche, dem Reich und dem König als deutsche Herren und fromme Christen zu dienen. Hundert Königsboten trugen dieses Geheiß durch die fränkischen, pfälzischen und bayerischen Lande, trugen es durch verödete Gebiete, an Verwüstung und Elend vorbei, an Brandschutt und Ruinen vorüber, zu allen Herzögen, Grafen, Baronen und Kirchenfürsten, zu Lehensherren und freien Städten, zu Burgen und Klöstern.

Wie beim Sieben des Getreides der Staub und die Spelten durch das Gitter fallen, so rieselte eine kleingewordene Kunde dieser Königsbotschaft aus den Schlössern, Klöstern, Burgen und städtischen Ratsstuben herunter in die Bürgerhäuser, in die der Vernichtung entronnenen Hütten des Volkes.

Durch jene Dörfer, die halb entseelt waren, aber doch mit unverbrannten Häusern noch auf der bayerischen Erde standen, ging ein Aufatmen der Hoffnung, ein froher Schrei des Glaubens an die Rettung.

„Der deutsche König ist kommen und hilft den Bauren.“

Um die Mitte dieses schönen, in milder Sonne leuchtenden September, in dem gar manche, mit Blut, Verwesungssäften und Asche gedüngte Blume ein zweitesmal blühen wollte, sah man viele, viele von diesen Königsgläubigen gegen die Donau wandern. Es waren Hunderte und Tausende, die den hilfreichen König sehen, zum deutschen König einen Schrei ihres Elends tragen wollten. Darbend, in Durst und Hunger, auf dem Rücken den mageren Binkel der Armut, in zermürbten Kleidern, die Gesichter von Not und Gram zerfressen, wanderten sie auf versteckten Wegen oder hielten sich aus Furcht vor den ritterlichen und gemeinen Straßenräubern am Tage verborgen und sprangen um so flinker in den milden, sternschönen Septembernächten. Wo zwei und drei und mehr von ihnen zusammentrafen, redeten sie unermüdlich vom deutschen König, wie hochgewachsen und schön er wäre, wie freundlich, leutselig und hilfreich, wie gerecht und stark! Doch ein lützel ginge es auch dem König so wie den Bauern. Auch bei ihm wäre das bare Geld ein mageres Ding. Weil ihm die Fürsten und Pfaffen alles nehmen, was er hat.

Wenn diese heimlich Wandernden so redeten, sagten sie nur selten: König. Fast immer sagten sie: Kaiser. Deutsch und König und Kaiser – das sind drei Worte, die zusammengehören. Mag der römische Papst Herrn Sigismund die Krönung verweigern und noch zehn Jahre lang seinen feilschenden Handel um die Kaiserkrone treiben! Der deutsche König trägt sie. Ob der Papst sie ihm aufsetzt oder nicht.

Als in einem Schwärme der Wandernden dieses Wort gesprochen wurde, nickte ein langer, magerer Bergbauer und sagte: „Was denn sonst!“ Seit dem Tode des Seppi Ruechsam hatte der Fischbauer von Hintersee diese drei kostbaren Weisheitsworte sich angeeignet, gleichsam als unverliehene Krone seiner Albmeisterwürde.

Neben diesen Wanderzügen des Elends und der Sehnsucht sah man auch andere Schwärme reisen. Gauner, Gaukler und käufliche Weiber taten sich zu Erwerbsgenossenschaften zusammen, um unter dem Sonnenglanz des königlichen Hofes ihre Ernte zu halten.

Die vornehmen Herren, die auf guten Gäulen ein flinkes Reisen hatten, brauchten sich nicht so frühzeitig auf den Weg zu machen.

Dennoch brach Herr Heinrich schon am Abend des 14. September, sechs Tage vor Matthäi, von Burghausen auf. Er tat es leider den Rat seiner Ärzte. Die Erregung, die in ihm wühlte, hatte sein rätselhaftes Leiden, von dem er vor kurzer Zeit erst genesen war, wieder wach gemacht. Der Leibarzt beschwor ihn, seiner kostbaren Gesundheit zu gedenken und die Reise zu verschieben. Mit schnatternden Zähnen sagte der Herzog: „Wär ich du, so blieb ich im Bette. Wärst du ich, so würdest du reiten.“

Am Morgen vor seiner Reise lag er in der Schloßkapelle drei Stunden im Gebet auf den Knien. Und erhob sich mit den Worten: „Gott soll’s wollen!“ Er stiftete an diesem Tage drei ewige Messen: eine für die Schloßkapelle, eine für die Pfarrkirche von Burghausen, eine für das Münster von Raitenhaslach, wo seine zierliche Mutter Maddalena Visconti begraben lag. Und dieser Sparsame, der bei Feinden und Freunden den Namen ›der Filz‹ hatte, verschenkte an diesem gleichen Tag erschreckende Geldsummen und kostbare Kleinode an Kirchen und Klöster seines Landes und an den römischen Stuhl.

Am Abend, beim Anbruch der Dämmerung, begann er die Reise, als sein Stern, der Mars, wie eine feine, rötlich blitzende Nadelspitze schon am wolkenlosen Himmel stand. Sein Leibarzt und vier Diener begleiteten ihn. Zweihundert Harnischer und hundert berittene Faustschützen waren ihm Schutz und Gefolge. Kein Troßwagen ging mit. Pulver, Blei, Geldsäcke, Ersatz an Waffen, Zehrung, Zeltbedarf und Kleider waren auf hundertfünfzig Maultiere und Gäule gepackt, die zwischen den Harnischern und Schützen traben mußten. Dieser Zug, der nicht ausgerüstet war wie zu einer fürstlichen Prunkreise, sondern wie zu schwerem Gefechte, wurde vom Hauptmann Seipelstorfer und vom Schützenmeister Kuen geführt, der seit den heißen Tagen von Plaien große Brandnarben im Gesicht und an den Händen trug. Auch diese beiden kannten den Weg nicht, den Herzog Heinrich nehmen wollte, und waren der Meinung, es ginge nach Regensburg.

Nur Nikodemus – der am 18. September die zwanzig Troßwagen mit den Hofkleidern, dem fürstlichen Prunk und einem großen Vorrat an gemünztem Golde nach Regensburg geleiten sollte – wußte um alle Wahrheit dieser verfrühten Reise.

Gleich außerhalb des nördlichen Tores von Burghausen begann Herr Heinrich einen sausenden Trab.

„Gnädigster Herr“, mahnte der Seipelstorfer, „ich mein’, Ihr solltet um Eurer Gesundheit willen langsamer tun. Das Glück versäumt Ihr nicht. Das ist allweil mit Euch.“

Der Herzog lachte und spornte den Gaul.

Zwischen den Leibtrabanten, die hinter dem Fürsten waren, ritten Malimmes, Runotter und Jul. Als der Reisezug das Gehäng des Salzachtales überwunden hatte und zu freier Höhe kam, drehte Malimmes das Gesicht. Er sah die Mauern und Türme des herzoglichen Schlosses und den vom Balkengerüst umsponnenen Hunds-Törring gegen den stahlblauen Abendhimmel ragen. Bei einem Abschied für immer pflegen viele Menschen zu weinen. Malimmes lachte. Und sagte mit heiterem Hohn einen alten Vers:

„Zwischen Ach, Elend und Grausen
Liegt Burghausen.“

Jul und Runotter hörten das nicht. Sie hatten auch keinen Blick für den lachenden Malimmes, hörten nur die Stimme, die unter ihren Kürassen redete, und hatten nur Augen für die noch in gelbe Helle getauchte westliche Ferne, der sie entgegenritten.

Herr Heinrich trabte ohne Rast die ganze Nacht, neun Stunden lang. Hauptmann Seipelstorfer gewann schon in dieser ersten Nacht die Meinung, das wäre nicht der Weg nach Regensburg. Als er eine Frage stellte, sagte Herr Heinrich mit einem wunderlichen Gekicher: „Mein alter Seipelstorfer, laß du die Kinderfragen! Kannst du dich nicht gedulden, bis ich rede, so bleibe neugierig!“

Als der Morgen hell wurde, gebot Herr Heinrich die erste Rast. Die Stelle schien vorausbestimmt; drei Kundschafter mit abgehetzten Gäulen warteten hier, brachten Briefe und ritten wieder davon. Weit entfernt von der Straße in einem Buchenwald, der sich schon gelblich färbte, wurde Lager gehalten und das Zelt für den Herzog aufgeschlagen. Aus dem Sattel hob man ihn auf das Feldbett. Der Leibarzt mischte den Kühltrank und verbrauchte für die Waschungen eine reichliche Menge von Essig und Wohlgerüchen.

Man schlief von zehn Uhr morgens bis zur fünften Nachmittagsstunde. Die Gäule grasten an den Pflockleinen. Als es dunkel wurde, brach man auf.

Und so drei Nächte und drei Tage.

Im Morgengrauen des 18. September erreichte Herr Heinrich, der während dieser letzten Nacht an drei kleinen, vorsichtig ziehenden Heerhaufen vorbeigeritten war, die Wälder zwischen Dachau und dem Webeisbache. Der Zug der Harnischreiter und Schützen mit den Troßtieren mußte lagern. Herr Heinrich ließ sich nicht auf das Feldbett heben, ließ sich nicht mit Essig waschen. Er blieb im Sattel. Nur den Becher mit dem Kühltrank schlürfte er gierig aus. Er befahl: „Heute darf kein Feuer brennen. Wer Rauch macht, den laß ich hängen.“ Und obwohl ihm das steigende Fieber dunkelrote Flecken auf seine braunen Wangen brannte, ritt er mit dem Seipelstorfer und sechs Trabanten davon. Unter diesen sechsen waren die drei Ramsauer.

Ehe die Sonne heraufstieg, kam der kleine Trupp zu einem Waldsaum, von dem man hinuntersah in ein langes und breites Bachtal. Auch hier die schwarzen Kohlflecken niedergebrannter Dörfer. Durch das Tal bachab und bachauf war nirgends ein Mensch zu sehen. Das Wiesengras, das man nicht eingeheut hatte, stand hoch und welkte. Auf den Feldern waren Weizen und Hafer vom Hochwild durchwatet und niedergetreten. Viele Rudel sah man; bei einem stand ein Hirsch mit herrlich verästeltem Kronengeweih.

Herr Heinrich, von jäh erwachender Jagdleidenschaft befallen, vergaß seiner Krankheit und verlangte nach seiner Armbrust. Doch als man ihm die Waffe reichte, hatte er die weidmännische Gier schon niedergerungen. Er lachte: „Wär ich jetzt der Kaspar Törring, so ließ ich meine Welt zugrunde gehen und schösse den Hirsch da drunten. Aber so kleine Läuse, wie ich eine bin, haben starke Seelen. Die bringen das Übermenschliche fertig.“ Ein spitzes Kichern. „Das kostbare Gut meiner Münchener Vettern soll mir heilig sein. Heute.“

Die Pferde wurden tief in den Wald gestellt. Ein alter Harnischer blieb bei ihnen. Die anderen sieben setzten sich am Waldsaum zwischen welkenden Weißdornstauden in das hohe Gras. Weil Herzog Heinrich immer nach Norden spähte, taten es auch die sechse, die bei ihm waren. Gegen die neunte Morgenstunde sagte Malimmes: „Weit da draußen seh ich den Staub eines großen Heerhaufens.“

„Nüremberger!“ Die Stimme des Herzogs klang wie ersticktes Jauchzen. „Deine Augen sind Gold. Verlange von mir, was du willst. Ich geb’s.“

Das Gesicht des Malimmes spannte sich. Dann sagte er leise gegen den Herzog hin: „So verlang ich für mich den Gadnischen Ritter Lampert Someiner, wenn er morgen oder übermorgen gefangen wird.“

In seltsamer Verwunderung sah Herr Heinrich auf. „Mensch? Woher weißt du?“

„Aber, Herr! Man ist doch kein Hammel, der die Blumen erst schmeckt, wenn sie verschluckt sind.“

Lachend nickte der Herzog und spähte wieder in die nördliche Ferne, in der die Staubwolke deutlicher wurde. „Der Mann ist dein.“ Er zitterte heftig, und immer heißer brannte das Fieber auf seinen Wangen.

Hauptmann Seipelstorfer guckte verdutzt den Fürsten an, stellte aber keine Frage. Und Runotter, mit den Fäusten den Schwertgriff umklammernd, hatte um den harten Mund ein ruhiges Lächeln; nichts anderes sah er als die graue, wachsende Wolke in der Ferne. Er hörte auch nicht an seiner Seite diesen mühsamen Atemzug, der wie das zerbissene Stöhnen eines unerträglichen Schmerzes war. Nur Malimmes vernahm diesen Laut. Mit ein paar flinken Sätzen sprang er zu Jul hinüber, ließ sich neben dem gebeugten Buben nieder und legte ihm den Arm um die Schultern. Jul beugte das Gesicht noch tiefer gegen die stahlgeschienten Knie. Da rüttelte ihn Malimmes und flüsterte: „Eine Nacht und einen Tag noch! Und du leidest nimmer. Oder wir alle liegen da drunten im Dachauer Moos. So oder so, die Ruh finden wir allweil.“

Langsam hob Jul das Gesicht. Malimmes erschrak vor diesen irrenden, von Gram und Sehnsucht verbrannten Augen und preßte ungestüm mit seinem eisernen Arm das junge Menschenkind an sich, das kränker an seiner Seele war als Herzog Heinrich in seinem Fieber.

Einer von den Trabanten sah die beiden spöttisch an, gab seinem Nebenmann einen Puff mit dem Ellbogen und zwinkerte gegen Jul und Malimmes hin.

In der näher kommenden Staubwolke, deren graue Schleier über die Wiesen und Felder auseinanderflossen, war schon das Waffengefunkel der Reiterschwärme zu erkennen; bald sah man einzelne Banner, unterschied die langen Klötze des geschlossen marschierenden Fußvolkes und den endlos scheinenden Schwanz, den hinter dem mächtigen Heerhaufen die Troßwagen bildeten.

Herr Heinrich, dem die Zähne schauerten, beugte sich kichernd gegen den Hauptmann Seipelstorfer hin. „Jetzt frage, wo Regensburg liegt!“

„Herr?“

„Weißt du noch immer nicht, wer da kommt? Eine große, große Maus. Die hungrig ist, aber das Schlageisen nicht wittert. Gott ist gerecht, lieber Seipelstorfer! Da drunten zwischen dem Dachauer Moos und dem Haspelmoor? Weißt du, was da den starken Loys erwartet? Die Vergeltung für Marzoll und Piding.“ Der Herzog lachte. „Und der da drunten hat keinen Galgenvogel, der morgen in fünfthalb Stunden vom Dachauer Moos nach Ingolstadt reitet.“ Mit leisen Worten, die immer langsamer wurden, sprach er vor sich hin: „Er ist klug, dieser starke Loys! Sehr klug! Aber die Schwachen sind zuweilen noch klüger. Und Krüppel gibt es, die zu hilfreichen Vipern werden. Was sagst du, Seipelstorfer? War das nicht ein feiner Gedanke des Loys: die Münchener Vettern zu zwicken, während die friedsame Laus von Burghausen nach Regensburg zum König kriecht?“

„Herr?“ fragte der Seipelstorfer unwillig und deutete gegen den von Staubwolken umdampften Heerhaufen. „Wissen das die Fürsten zu München?“

Lächelnd schüttelte der Herzog den Kopf. „Die schlafen den Schlaf der Biederen. Sie werden erwachen heut nacht, derweil sie von Frieden träumen.“ Er kicherte in einem Schauer seines Fiebers. „Der Wessenacker – der Beste, den der Loys noch hat – ist gestern am Abend mit siebenhundert Gäulen da drunten durchgezogen. Jetzt liegt er an der Würm. Wenn der Abend dunkelt, wird er München überrumpeln.“

Seipelstorfer sprang erschrocken auf und rief: „Einen Boten! Einen flinken Boten! Malimmes –“

Da faßte ihn der Herzog, dessen brennendes Gesicht sich verzerrte, mit krallender Faust am Saum des Waffenrockes. Der Hauptmann wollte reden. Doch beim Anblick der zornglühenden Augen seines Fürsten verstummte er. Und Herr Heinrich zog an dem Waffenrocke, bis der Seipelstorfer sich wieder ins Gras setzte. „Du? Bist du ein Kind? Ich denke, du bist ein Mann! Und der meine! Da solltest du rechnen können. Für deinen schwachen Herrn. Ein geschröpftes München ist mir tauglicher als ein blutstrotzendes, das mir den Ellbogen und die Lende bedrückt. Grob werden sie dreinschlagen, diese biederen Münchener, heute nacht, wenn sie aufwachen aus ihrem friedlichen Bierschlummer. Aber Blut werden sie lassen. Und der starke Loys wird an Mark und Knochen verlieren. Sehr merklich. Und dann klopfen wir ihm den müden Rücken.“

„Gnädigster Herr! Das wird Euch der König übel vermerken.“

„Meinst du? Ich glaube, es gibt für seinen Groll ein beruhigendes Pflaster. Herr Sigismund ist wieder in der Klemme. Ich will ihm dreißigtausend Dukaten borgen. Die reisen heute von Burghausen nach Regensburg.“ Herr Heinrich wollte lachen. Aber da machte er plötzlich mit dem Oberkörper einen sonderbaren Tunker gegen den Boden hin.

Erschrocken griff der Hauptmann mit beiden Händen zu, und auch Malimmes sprang zu dem Fürsten hin.

Der Herzog hatte sich schon wieder aufgerichtet. Mit der Hand wehrte er die Besorgten von sich ab. Seine Augen hatten den ziellosen Blick eines halb Bewußtlosen, doch seine Stimme klang fest und ruhig: „Seipelstorfer! Paß auf! Am Abend wird der Loys da draußen sein Lager machen, vor dem schmalen Hartboden, der zwischen dem Haspelmoor und dem Dachauer Moos gegen Bruck und Alling zieht. Da wird er warten, bis ihm von München her vier Feuersäulen künden, daß die Stadt genommen ist. Manches wird gehen, wie Gott will. Eins wird kommen nach des Teufels Wunsch. Zuweilen ist er hilfreich. Dieser Böse! Die vier Feuersäulen werden brennen um die zehnte Abendstunde. Ein süßes Kinderherz wird sorgen dafür. Und rückt der Loys in der Nacht mit seinem Haupthaufen in den festen Landsack zwischen den Sümpfen hinein, so sperrst du am Morgen der Rückweg. Hast du verstanden?“

„Herr?“ fragte Seipelstorfer ratlos. „Mit unseren dreihundert Gäulen?“

Der Herzog, der wieder taumelig wurde, antwortete heiter: „Wenn es dämmert, stehen im Wald zwischen Dachau und dem Webelsbache dritthalbtausend von meinen Helmen.“ Er schloß die Augen und tastete mit der Hand. „Den Kühltrank! Meinen Kühltrank muß ich haben.“ Weil er ins Gras zu rollen drohte, hoben der Hauptmann und Malimmes ihn auf und stützten seine tappenden Schritte. Lallend, doch immer noch mit einem Klang von Lustigkeit, sagte er: „Jetzt wird sich mein Leibarzt freuen, weil er recht behält. Ich muß ins Bett.“ Als man ihn durch den Wald zu den Gäulen führte, versagten ihm die Knie. Mit erlöschenden Sinnen befahl er noch: „Mein gesunder Galgenvogel soll mich tragen.“ Dann schwanden ihm die Sinne.

Bis zum Abend lag Herr Heinrich bewußtlos in seinem Zelte.

Als es zu dämmern anfing, flüsterte Jul, der mit drei anderen die Wache hielt, dem Malimmes mit heißem Betteln zu: „So hilf ihm doch!“

Der Söldner schwieg; er nahm nur das blanke Eisen von der rechten Armbeuge in die linke.

Bei Anbruch der Dunkelheit wurde es laut und lebendig im Wald. Die Harnischer und Spießknechte, die vor vielen Tagen von Burghausen aufgebrochen waren, begannen sich zu sammeln, wie es Herr Heinrich befohlen hatte. Sie waren verstärkt durch Kriegshaufen, die von Landshut und anderen Städten und Burgen des Herzogs kamen. Ohne Feuer verbrachte das Heer die Nacht. Nur im Zelte des kranken Fürsten flackerte das Kerzenlicht, während der Leibarzt, das Übelste besorgend, den Fiebernden aus seinen Delirien zu wecken suchte. Der Herzog schwatzte wirre Worte, die sehr heiter klangen, lachte und kicherte, stieß mit den Füßen wie beim Reiten, und gleich einem Kämpfenden schlug er mit der rechten Faust gegen einen unsichtbaren Feind. – –

– Zu Beginn der gleichen Nacht brach Herzog Ludwigs Hauptmann Wessenacker mit siebenhundert Gäulen bei Planegg aus den Wäldern an der Würm heraus. Durch stille Dörfer, die unter dem Schutz der nahen und starken Hauptstadt von schweren Kriegsschäden bisher verschont geblieben, und über abgeerntete Wiesen und Felder jagte die klirrende Reitermasse auf das schlafende München zu.

Ein feiner, schwarzer Schattenriß, hundertfältig ausgezähnelt, heben sich die Basteien, Mauern, Dächer und Türme der Isarstadt gegen den mit funkelnden Sternen besäten Himmel. An vielen Stellen ist dieses Schattenbild unruhig überschimmert vom Schein der Pfannenfeuer, die bei den Toren und über den Zinnen der Wachtürme brennen.

Gleich einem Murmellied von vielen Stimmen gaukelt das Rauschen der Isar durch die stille Nacht und übertönt den Hufschlag der Pferde. Kleine Häuser und Hütten, die schon dunkel sind, stehen vereinzelt unter Stauden und Bäumen am Ufer des breiten Stromes, in dem die weißen Kiesbeete wie mächtige Linnenstücke schimmern. Mit dem Rauschen des Wassers mischt sich das Fauchen des kräftigen Nachtwindes, der kühl aus den Bergen kommt und die ersten welken Blätter von den Bäumen schüttelt. Im Wehen dieses Windes tönt von der Stadt ein verschwommener Hall, zehn Schläge einer großen Glocke.

Bei den Holzhöfen zwischen dem Glockenbach und der Isar klingen ein paar Männerstimmen. Hier sind zu dieser späten Stunde noch Menschen bei der Arbeit, heitere Menschen. Sie lachen, sie schwatzen lustig. Eine Jünglingsstimme trällert einen kecken Vierzeiler. Es sind Oberländer Flößer, die sich auf der Fahrt versäumten und ihre Flöße noch festlegen wollen. Nun steigen sie schwatzend über die Böschung des Ufers herauf, um die Herberge zu suchen. Verwundert gucken sie die vielen Reiter an, die neben dem Glockenbach aus den Sätteln springen. Freundlich grüßen sie: „Gut Nacht, ihr Herren!“ Das ist das letzte Wort ihres fröhlichen Lebens. Ein Klingen von Eisen, klatschende Schläge, wehes Stöhnen und ein gräßlicher Schrei. Fünf blutende Körper rollen über steiles Ufer in das rauschende Wasser hinunter.

Hundert Reiter sind abgesessen. Zwei Feldbüchsen, unter deren Gewicht die Saumtiere gekeucht hatten, werden abgeladen und hastig aufgeholzt; ihre kopfgroßen Kugeln sollen Bresche in das Tor schießen; vierzig Gepanzerte spannen sich an die Zugstränge. Und Hauptmann Wessenacker sprengt von einem Reitertrupp zum andern und verteilt die Befehle zum Sturm auf das Angertor, das er für den Handstreich wählte, weil es unter den Toren Münchens das älteste und schwächste ist.

Da sieht er in der Gegend, aus der die siebenhundert gekommen waren, eine grelle Feuerröte gegen den Himmel steigen. „Teufel, was ist das?“ Und dort, gegen Pasing hin, steigt eine zweite Feuersäule auf! Eine dritte! Eine vierte!

Im ›Milchwinkel‹ der Hauptstadt München brennen die Dörfer Germaring, Gauting, Pasing und Aubing. Wer hat den roten Hahn auf diese Hunderte von Dächern gesetzt? Ein feindlicher Zufall? Oder haben wider den strengen Befehl des Wessenacker die Nachzügler das Sackmachen und Brandschatzen schon vor dem Sieg begonnen? Oder ist Verrat im Spiel?

Der Hauptmann zittert vor Wut und findet in dieser brennenden Gefahr keinen Rat. Diese vier verfrühten Feuersäulen können für Herzog Ludwig zu einem bösen Irrtum werden. Sie lügen ihm vor, daß München genommen ist. Und der Ingolstädter Haupthaufe rückt sorglos in den schmalen Landsack ein, der zwischen den weglosen Sümpfen des Haspelmoors und des Dachauer Mooses liegt.

Boten schicken? Oder umkehren mit den siebenhundert Gäulen? Und den wachwerdenden Gegner hinter sich herziehen, gegen den Herzog hin?

Da quillt von der nahen Stadt ein dumpfes Summen und Tönen durch das Rauschen der dunklen Nacht. Die vier Feuersäulen, die immer höher zum Himmel lodern, haben das schlafende München geweckt.

Hauptmann Wessenacker – ratlos, wütend, halb verzweifelnd, halb an die Hilfe durch einen raschen Gewaltstreich glaubend – gibt den Befehl zum Angriff auf das Angertor.

Auf allen Kirchtürmen von München läuten die Glocken Sturm. Geschrei und Lärm durchrennt alle Gassen. Helle Feuer brennen auf. Grausen in Eisen wirbelt mit kleiner Komik im Hemde durcheinander. Und als die ersten Schüsse aus den Feldbüchsen des Wessenacker gegen das Tor und die Mauer krachen, sind alle Wehrgänge und Turmscharten schon besetzt mit vielen Hunderten von bewaffneten Bürgern. Aller Hader und Steuerzank zwischen dem Volk, der Stadt und seinen Fürsten ist vergessen. Volk und Fürsten sind in dieser Stunde der Gefahr verwachsen zu einem Körper, der sich grimmig und erbittert seiner Ehre und seines Lebens wehrt. Und in der gesunden Stadt ist kein Bürger mehr, der sich aus alter Anhänglichkeit des leutseligen Ingolstädters, seines heiteren Lachens und seiner fröhlichen Kraft erinnern möchte. Für sie alle ist Herzog Ludwig in dieser Nacht der böse Feind geworden, den man verfluchen und er schlagen muß.

Der Wessenacker mit den Seinen kämpft wie ein wütender Stier gegen den hauenden Löwen. Aber die Bresche, die er geschossen, ist ausgefüllt mit einer lebendigen Mauer von Bürgern in Eisen. Aus den Scharten der Wehrgänge regnet’s Bleikugeln, gefiederte Bolzen, kochendes Wasser und brennendes Pech. Und auf einem Wallturm arbeitet der Münchener Büchsenmeister Völschel mit zwei Trommelkanonen, die er in seiner Lehrzeit beim Kuen in Burghausen gießen lernte. Das Geschrei der Kämpfenden, das Glockenläuten, das Feuergeprassel, das Gerassel des Stahls und das Büchsenkrachen sind wie das Rauschen eines angeschwollenen Stromes, in dessen wildem Liede das matte Seufzen der Stürzenden versinkt.

Als der Morgen grauen will, ist der Boden in der Bresche des alten Tores mit einem hohen, festgestampften Pflaster von Leichen bedeckt. Ingolstädter und Münchener liegen verträglich durcheinander, kreuz und quer, mit verschlungenen Armen und verflochtenen Beinen. Aus den Wehrgängen schleppt man die verwundeten Bürger in die nahen Häuser. Und draußen, am Fuß der Mauer, im Stadtgraben und vor dem umstrittenen Angertor, da liegen die Getreuen des Loys in dicken Haufen, zweihundert friedlich Gewordene, mit zerbrochenen Gliedern, erstochen, erschlagen, vom siedenden Wasser verbrüht, von den flammenden Pechkränzen angefressen.

Noch immer will der Wessenacker nicht weichen. Der Gefahr seines Fürsten denkend, stoßt er immer wieder mit hundert Köpfen gegen die Eisenbrüste der Münchener.

Die Haufen der Bürger, die aus zwei anderen Toren herausfallen, fassen die Ingolstädter von beiden Seiten. Und von allen Dörfern in der Nähe der Stadt, gerufen durch das Sturmgeläut der Glocken, kommen die Bauern gelaufen, stechen mit Spießen und schlagen drein, mit Sensen, Drischeln und Morgensternen.

Beim ersten Blick der steigenden Sonne wendet Hauptmann Wessenacker den Gaul. Und die vierhundert von den Seinen, die noch laufen oder reiten können, taumeln hinter ihm her, gegen das brennende Pasing hinaus.

Tor und Mauer am Anger sind verwandelt zu Denkmalen auf dem Leichenacker dieses Morgens. Ein halbes Tausend liegt im Blute, stumm geworden oder noch stöhnend in Schmerzen. Doch fünfmal tausend, zehnmal tausend jubeln in trunkener Freude: „Sieg! Sieg! Sieg!“ Die Männer lachen im Stolz der Tapferen, die Weiber und Mädchen umhalsen sich in den sonnig gewordenen Gassen, und auch die Kinder jubeln, ohne zu wissen warum – sie sehen’s bei den anderen und machen es nach. In dieser schreienden Freude hört man die paar hundert nicht, die weinen müssen.

Herzog Wilhelm, ein frommer und rechtschaffener Mann, den die Armen von München lieben, übernimmt es, die Stadt zu hüten und in der Bürgerschaft die Ordnung und Ruhe zu wahren. Herzog Ernst und sein Sohn, Prinz Albrecht, beginnen die Verfolgung des fliehenden Gegners. Mit ihnen ziehen die fürstlichen Söldner und die drei Bürgerhaufen unter ihren Hauptleuten Lorenz Schrenk, Franz Tichtel und Hans Pütrich; die siebenunddreißig Münchener Zünfte haben dreihundert Berittene und zwölfhundert Mann zu Fuß gestellt. Meister Völschel – ein dicker, lustiger Münchener, der für seine Heimatstadt die große ›Stachlerin‹, den ›Pecker‹ und vier Kammerbüchsen gegossen hat – reitet auf festem Gaul dem Trupp der zweihundert Faustschützen voraus; und hinter dem Stadtheer drängen die Schwärme der Bauern nach, die sich gesammelt haben aus zwanzig Ortschaften.

Diese Bauern wollen nicht in Reih und Glied marschieren, beim Marsche nicht Ordnung halten. Wenn’s losgeht wider die Loysischen Brandschatzer, möchten sie die ersten sein, die dabei sind. Und viele von ihnen haben ihre Herzöge noch nie gesehen; denen möchten sie einmal in die Augen schauen. Im Staubgewirbel, das den Flinkmarsch des Heeres begleitet, springen die Bauern von der Straße auf die Wiesen und Felder, rennen dem geschlossen marschierenden Zug der zünftigen Bürger voraus und schreien, schwingen die plumpen Waffen, schwenken die Hüte und umdrängen die unruhig werdenden Gäule der beiden Fürsten.

Der Hauptmann des herzoglichen Söldnerhaufens will das hindern und abschaffen. Doch Herzog Ernst befiehlt ihm: „Laß die Leute! Sie tragen ihr Blut und Leben zu uns. Daß der Untertan uns beschauen kann, ist das mindest, was wir dem Volk zu schenken haben.“ Den jubelnden Bauern freundlich zunickend, reitet er hinter dem herzoglichen Banner her, das zwiefach im Geviert den Löwen und die blauweißen Rautenfelder zeigt. Er zwingt mit ruhiger Faust das scheuende Roß. Kraftvoll, ein Fünfzigjähriger, sitzt er fest im Sattel, obwohl sein Oberkörper in nachlässiger Haltung gegen die linke Hüfte hängt. Der mit Adlerfedern und dem Rautenflügel geschmückte Helm bedeckt einen wuchtigen Kopf. Das dicke Haar ist bräunlich, der starke Vollbart mit dem lang herunterhängenden Schnauzer ist dunkelblond. Blaue Augen glänzen unter dem aufgeschlagenen Helmvisier über die scharfgeschnittene Nase heraus. Der vorgeschobene Mund, obwohl er freundlich lächelt, gibt dem Gesichte ungerecht einen Zug von Härte und übler Laune.

Am Gürtel hängt das breite Schwert und daneben ein klobiger Streithammer. Über den Brüstling des Panzers geht eine Goldkette mit großem, blitzendem Rubin. Auf den roten, die Halsberge deckenden Samtkragen sind die Wappen der Städte von Bayern-München gestickt. Und der starre Waffenrock ist wie das Bannertuch gewürfelt mit den Rautenfeldern und dem silbergestickten Löwen.

An der Seite des Vaters, auf einem schweren Apfelschimmel, reitet Prinz Albrecht, der Einundzwanzigjährige, den das Volk den Schmucksten unter allen Fürstensöhnen des Reiches nennt. Auch wenn er nicht den gleichen Helm, die gleiche Wehr und den gleichen Waffenrock trüge wie Herzog Ernst, müßte er als ein verjüngtes Bild seines Vaters erscheinen, freundlich, gütig und kraftvoll. Er ist von jenen Menschen einer, die man liebt, weil sie leben und lächeln.

Die Bauern jubeln, haschen nach seiner Hand, schwatzen und scherzen mit ihm. Heiter gibt er Antwort und nickt ihnen zu. In dem drängenden Schwärme fällt ihm ein junger Bursch auf, gewachsen wie ein Frühlingsbaum, mit gesunden Gliedern, strotzend von Kraft und Leben, mit froh blitzenden Blauaugen und dickem Blondhaar, das um die heißen Wangen baumelt. Der Prinz sagt zum Herzog: „Schau, Vater! Was für Leut wir haben!“ Er deutet auf den jungen Bauern, der ein altes, rostiges Langschwert über der Schulter trägt.

Herzog Ernst winkt den Bursch zu sich heran. „Wer bist du?“

„Ich bin aus Schwabing, Herr! Einer Stalzstößerin einziger Sohn.“

„Wie heißt du?“

„Michel Ungeraten.“

Der Herzog sagt: „Da hat das Schwabinger Kirchenbuch eine Dummheit gemacht. Ein so wohlgeschaffener Mensch sollt anders heißen. Halte dich tapfer, wenn es zum Schlagen kommt. Und ich gebe dir einen gerechten Namen.“

Der Bub schreit einen Jauchzer in die Sonne.

Und der Marsch geht weiter. Bei der Feuerstätte von Pasing, wo die halbverbrannten Hütten noch flackern und qualmen, gibt’s einen kleinen Aufenthalt. Männer und kreischende Weiber, die sich wie wahnwitzig gebärden, schleppen zwei Gefangene vor die Rosse des Fürsten hin. Das wären zwei von den feindlichen Brandschatzern; man hätte sie festgenommen, als sie in der Nacht das Feuer in die Kirche von Pasing warfen. Von den Weibern zetert eines: „Die sollt man in einen Ziegelofen schmeißen, daß sie am Tag verschmecken, wie den Bauern in der Nacht das Brennen tut!“

Der Herzog mustert die beiden, die in ihren Prügelwunden und blauen Malen schrecklich aussehen. Es scheinen fahrende Musikanten zu sein; der eine, klein und dick, hat eine zerfetzte Blatterpfeife um den Hals hängen, der andere, in dessen fahlem Gesicht die Augen scheu und angstvoll rollen, trägt auf dem Rücken eine verbeulte Laute.

Ruhig sagt der Herzog: „Strafen? Diese zwei? Die haben mitgeholfen, um uns zu wecken in der Nacht. Wir wollen diese Wohltäter mit Dank zurückschicken zu ihrem Herren.“

Da sprengen vier Kundschaftsreiter über die Straße her. Sie haben bei Freiham den fliehenden Feind entdeckt, der über Alling und Puechheim hinaus entrinnen und zwischen den weglosen Mooren die feste Landbrücke bei Olehing gewinnen will.

„Drauf und dran!“ Mit diesem frohen Kampfschrei läßt Prinz Albrecht seinen Schimmel jagen.

„Jung! Sei bedächtig!“ mahnt der Herzog. Aber da drängen schon alle Gäule dem Schimmel nach. Mitten in dem Reiterschwarme springen und hopsen keuchend die beiden Musikanten, jeder mit der Hand an einen Sattel gefesselt. Und hinter den Gäulen, von Staub umwirbelt, folgen im Laufschritt die drei Heerhaufen der Zünfte und das Gewirr der Bauern.

Bei Freiham, auf einer Wiese, sitzen Verwundete, die dem fliehenden Trupp des Wessenacker nimmer folgen konnten. Erschöpfte Menschen und niedergebrochene Rosse liegen in dem Buchenwald, durch den der Weg des rasselnden Reiterhaufens geht. Und als die Herzöge das breite, lange Wiesental des Starzelbaches erreichen, das sich beim Jägerhause von Hoflach aus bewaldeten Hügeln nach Norden gegen die Sümpfe des Dachauer Mooses hinzieht, sehen sie aus den Dächern von Puechheim und Alling, die der fliehende Wessenacker in Brand gesteckt, den Rauch und die Flammen aufgehen. Und weit da draußen, über tausend Schritte vom Hügel des Jägerhauses, gegen Olching hin, gewahren sie in der Mittagssonne das bunte, funkelnde, blitzende Gewirr eines großen, auf vierhalbtausend Helme zu schätzenden Heerhaufens, dessen gestaute Massen von zwei Seiten gegeneinander drängen und sich zu ordnen suchen.

Während die Flammen der Dörfer wachsen und von den Brandstätten das Jammergeschrei der Bauern und ihrer Weiber herüberschrillt, faßt Herzog Ernst den Gaul des Sohnes am Zügel. „Langsam, Brechtl! Das Ding wird ernst. Der Vetter Loys ist da. Er ist der Stärkere.“

„Wir sind die Besseren!“ trotzt der Junge.

„Jetzt wirst du den Schnabel halten und dich gedulden.“ Ruhig gleiten die Augen des Herzogs und rechnen und messen. Da drüben eine schwere Übermacht. Und ein Heerhaufe, dessen Kern aus einer geschulten Söldnertruppe und aus vielen Hunderten von ritterlichen Herren besteht, die aller Dinge des Krieges kundig sind. Herüben nur an die zwanzig adlige Leute, eine kleine Söldnerschar, dazu das bescheidene Heer der Städter, die gestern noch bei ihrem bürgerlichen Handwerk waren, und der regellose Schwarm der Bauern, die schlechtbewaffnet von der Drischeltenne gelaufen kamen. Doch hier der feste Boden, und für den Notfall die waldigen Hügel der Heimat als Deckung. Und die da drüben stehen auf feuchten, schlüpfrigen Wiesen, zwischen Dreck und Moos. Da drüben der übermütige Friedensbruch, herüben die ehrliche Notwehr, das stärkere Recht. „Mit Gottes Gnad! Wir wollen es wagen.“

Zwei adlige Herren des Hofes mit einem Trompeter reiten hinüber, um Herzog Ludwig von Ingolstadt zur Schlacht zu fordern. Vier Söldner begleiten sie und führen die zwei gefesselten Musikanten, die Herzog Ernst seinem gütigen Vetter Loys ›zurückerstattet‹, mit freundlichem Dank für den roten Weckruf dieser Nacht.

Während die Rauchfahnen der beiden brennenden Dörfer sich in der Sonne hinkräuseln über die welkenden Buchenwälder, nimmt Herzog Ernst mit zwanzig Trabanten seinen Stand auf dem Hügel, der das kleine Jägerhaus von Hoflach trägt. Von hier aus kann er das ganze Wiesental, das ein Schlachtfeld werden soll, und die Anordnung seines Heerhaufens überschauen.

In die Mitte des Treffens stellt er unter Führung des Prinzen Albrecht seine adligen Herren, die kleine Schar seiner Harnischreiter, die Berittenen der Bürgerschaft und den Kriegshaufen der ›schweren Zünfte‹, der Schmiede, Schlosser, Zimmerleute und Bräuer. Zur Linken und Rechten die Schwärme der Bauern. Beiderseitig ist das Treffen geflügelt durch die Armbruster und Leichtbewaffneten der Bürgerschaft, jeder Haufe gestützt durch hundert Faustschützen. Hinter dem Treffen steht ein Trupp von Nothelfern, deren Führung der Herzog sich vorbehält.

In dieser ernsten Stunde, während das Treffen sich ordnet, hört man plötzlich aus einem hinter Stauden versteckt liegenden Bauerngehöft das klägliche Schreien und drollige Glucksen eines Schweines, das abgestochen wird. Und da ruft der schmucke Michel Ungeraten mit seiner starken, lustigen Stimme in das ernste Schweigen hinein: „Die schlauen Luder denken halt: Selber schlucken macht fett. Und stechen die gute Sau noch ab, eh die Raubleut kommen.“

Über die Breite des Treffens rollt, jede Beklommenheit bezwingend, ein fröhliches Gelächter hin.

Auch Herzog Ernst – in aller Sorge, die ihn bedrückt – muß schmunzeln. Und heiter sagte er zu den Kriegsleuten, die ihn umgeben: „Müssen wir sterben, so ist unser Tod kein hartes Ding. Wir sterben mit Lachen.“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Ochsenkrieg. Zweites Buch.