Neuntes Capitel. - Der Sonntagabend von St. Matthäi brannte mit allem Farbenzauber der Moorluft über dem trunkenen Lager, das erfüllt war von einem johlenden Gewühl. ...

Neuntes Capitel. - Der Sonntagabend von St. Matthäi brannte mit allem Farbenzauber der Moorluft über dem trunkenen Lager, das erfüllt war von einem johlenden Gewühl. Hunderte von Bauersleuten waren aus den nahen Dörfern herbeigelaufen. Unternehmungslustige Wirte kamen mit großen Karren angefahren und verzapften Bier, Branntwein und gesüßten Roten. Fiedler und Blatterpfeifer spielten auf, und die Heertrödler handelten den Kriegsleuten die Beute ab. Von den Fußknechten des Ingolstädters, die man gefangen, entwaffnet und gegen Schwur auf Urfehde entlassen hatte, war die Hälfte geblieben, um sich mit den Siegern anzubrüdern und bei leeren Hosensäcken zu einem Trunk und Bissen zu kommen. Und die zahlreichen Lagerdirnen des Ingolstädtischen Trosses hatten sich, den Wechsel des Lebens klug erfassend, zu Herzog Heinrichs beutereichem Heer geschlagen; eins von ihren großen Huschelzelten stand mit Pfeifenklang und Gelächter nicht weit von dem Wiesenfleck, auf dem in langen, stillen Reihen die Kaltgewordenen lagen, deren Bestattung man wegen des heiligen Sonntags auf den kommenden Morgen verschoben hatte.

Der Lärm in den Lagergassen, das Gequiekse der Musikanten, die brüllenden Liederklänge, das Gelächter und Aufkreischen der Weiber und das emsige Dullenklopfen eitler oder gewissenhafter Kriegsleute – das alles schwoll zu einem Brummton ineinander wie von einer schwingenden Riesensaite.


Inmitten des in Tollheit schwärmenden Menschenhaufens stand ein stilles Zelt mit geschlossenen Tüchern. Malimmes hatte dieses Leindwandhaus einem Landshuter Söldner abgehandelt, dessen Beute es geworden war. Als Jula den erschöpften, taumelnden Mann da hereinführte, wurde Lampert von einer grauenvollen, an seinen letzten Kräften reißenden Erschütterung befallen. Es war das Hauptmannszelt, in welchem Herzog Ludwig die müde Rast dieser mörderischen Nacht gehalten hatte. Die erloschene Kienfackel stak noch im Eisenring, im Winkel war noch die schlammige Pferdekotze, auf der die beiden Hunde gelegen, und daneben das grobe Deckenlager, niedergedrückt und zerwühlt von einem schweren Körper, der sich hin und her gewälzt hatte in unruhigem Schlaf.

Beim Anblick des leeren Lagers riß sich Lampert von Julas Händen los, griff mit suchenden Fäusten ins Leere und schrie: „Ein Roß – nach München – ich muß nach München –“

Malimmes mußte den besinnungslos zu Boden Taumelnden auffangen und auf das Lager heben.

„Hilf ihm! Hilf ihm!“ bettelte Jula in Sorge.

„Eins nach dem andern“, sagte Malimmes, „fliegen kann ich nit.“ Er holte dürres Holz und Reisig, schlug Funken und schürte ein kleines Feuer an, dessen Rauch durch die Zeltgabel hinausquirlte. „Da tu dich trücknen, Maidl! Sonst mußt du morgen dein Glück mit Niesen und Husterei beginnen. Was ihr sonst noch nötig habt, ihr zwei, das treib ich schon auf.“

Als er gehen wollte, umklammerte Jula seinen Arm.

Er sagte ruhig: „Laß aus! Heut tu ich den letzten Dienst als meines Bauren redlicher Knecht. Der Krieg ist aus. Ich muß auch was haben. Morgen reit ich nach Regensburg. Da geht mein freies, lustiges Leben an.“ Das heitere Lachen, das er bei diesem letzten Wort versuchte, gelang ihm nicht.

Stumm, mit nassen Augen, sah Jula ihm nach, als er davonging.

Er brachte Wasser in zwei Tränkeimern, brachte Leinwand und Wäsche, Zehrung, Brot, Geschirr und Löffel, einen zinnernen Becher und einen Krug mit Wein, Gewürz und Honig; er brachte nach seinem erprobten Augenmaße Kleider, Mäntel, Wehrstücke, Waffen, brachte alles, was man braucht zu einer Reise durch unsicheres Land. Wie ein Zaubermeister war er. Und wenn ihm einer nicht gutwillig geben wollte, redete Malimmes mit seiner Faust. Um alles herzu schaffen, tat er Dinge, für die ein strenger Profos ihn zu Stock und Bank, vielleicht zum Galgen gesprochen hätte. „So! Da liegt, was nötig ist!“ Während seine schwer atmende Brust sich hob, betrachtete er prüfend den jungen Someiner, der auf Herzog Ludwigs letztem Kriegsbett in einem bleischweren Schlafe seiner Erschöpfung lag. Ohne Jula anzusehen, murrte Malimmes: „Ein Stündl darfst du ihn schlafen lassen. Nit länger. Sonst kreißtet er morgen wie ein Mühsamer. Wenn er sich rührt einmal, da mußt du ihn wecken. Und nachher hilfst ihm. Hast es ja gelernt von mir.“ Unter dem Zeltspalt sagte er noch: „Ich geh derweil und hol dir den kostbaren Gaul noch aus der Schmier. Es müßt mir leid sein, wenn du von deinen Sachen was mängeln tatst.“

Draußen blieb er stehen und preßte den Arm über die Augen. „Gotts Teufel und Not! Was ist ein verliebter Mensch für ein haariger Ochs! Die siebzehn, die auf dem Hängmoos hätten grasen sollen, sind nackete Mäus dagegen!“

Der leuchtende Abend drohte schon seine schönsten Farben zu verlieren, und die Frösche sangen. Im Lärm des Lagers hörte man das Lied der Sümpfe nicht. Aber draußen auf der Moorstraße – als Malimmes mit drei Verwegenen, die ihm helfen wollten, die fliegende Brücke mit vier Brettern baute – war das Unken der Kröten und Frösche wie ein Glockenton in der Luft.

Der Pongauer, den man als schwarzes Figürchen gegen den gelben Himmel sah, graste ganz gemütlich auf seiner verläßlichen Insel.

„Freilich! Der weiß, daß ein Ochs um seintwegen in die schwarze Supp springen muß!“

Das wurde eine schauerliche Arbeit. Malimmes, zwischen seinen grimmigen Flüchen, brüllte immer: „Es hilft dir nichts! Heraus mußt du!“ Und als die drei Verwegenen mutlos wurden und den Malimmes im Stiche ließen, brachte er den Gaul allein heraus. Während er das keuchende Tier durch das letzte Röhricht zerrte, begann die Nacht zu sinken, und die Sterne funkelten. Wie er Jula und Lampert gesäubert hatte, so machte er auch den Pongauer blank. An den eigenen Kleidern ließ er den Sumpfschlamm hängen. Und den linken Arm bewegte er ein bißchen langsam; der Gaul hatte ihn geschlagen.

Hinter dem Hauptmannszelte wurde der Pongauer angepflöckt. Dann schickte Malimmes einen davon, um den Falben von der Zeltstätte des kranken Herzogs herunterzuholen. „Und frag den Hauptmann, wohin man den Runotter verschickt hat.“ Er selber holte den eigenen Gaul und pflöckte ihn neben den Pongauer.

Dann saß er in der sternhellen Nacht neben den beiden Rossen auf der Erde und hielt den Kopf zwischen die Arme gewühlt. Er wollte die linde, zärtlich klingende Knabenstimme nicht hören, die im Zelte redete. Und dennoch mußte er lauschen und diesen Klang in seine Seele trinken. Deutlich hörte er, wie die Stimme sagte: „Paß auf jetzt! Ein lützel weh wird’s tun. Aber das mußt du aushalten. Es hilft. So hat der Malimmes auf dem Schwarzeneck meinem Vater geholfen!“

Der Lauschende knirschte durch die Zähne. „Guck! Mit meinen eigenen Wörtlen redet sie.“

Er hörte die drei Streiche der Handschneide; dann die Stimme der Jula: „Jetzt mußt du ein paar feste Schritt machen! ... Gelt? Viel besser geht’s?“

Ein leises, frohes Lachen, nur ein bißchen heiser: „Ich schau dir in die Augen und bin gesund.“ Lange war kein Laut mehr zu hören. Nun die gleiche Stimme: „Warum wirst du immer stumm, wenn ich rede?“

„Weil mir deine kranke Stimm so weh tut. Und weil sie mir so lieb ist.“

Malimmes rannte in die sternhelle Nacht hinaus, die sich von den Moorflächen her mit dünnen Nebeln zu füllen begann.

Im Lager war es ruhig geworden. Viele hatten sich schon auf den Heimweg gemacht. Und viele, die müd oder betrunken waren, schliefen schon. Nur vor den Wirtsbuden gröhlten die noch immer Durstigen, und aus den Huschelzelten wirbelte die tolle Heiterkeit, der Fiedelklang und das Pfeifengetriller zu den halb verschleierten Sternen hinauf.

Wie angesteckt von dieser Lustigkeit schrie Malimmes plötzlich einen wilden Jauchzer in die Nacht. Dann sang er vor sich hin:

„Ich leb, weiß nit, wie lang,
Ja leb, wie lang?
Ich sterb und weiß nit, wann,
Ja sterb, und wann?
Ich reit, weiß nit, wohin,
Wohin?
Weiß nit, warum ich so fröhlich bin.“

Ohne daß er es wollte, war er wieder dem Hauptmannszelte zugegangen und saß neben den zwei Gäulen wieder auf der Erde, mit der Stirne zwischen den Fäusten. Und hörte die Stimme des jungen Someiner, der immer redete, heiß und drängend:

„Jula, das muß ich tun. Ich muß nach München. Noch heut in der Nacht, in dieser Stunde, jetzt. Leben und Freiheit, die ich dir und deinem Mut verdanke, will ich nützen für den Pursten, dem ich diene. Sein Elend hebt nicht auf, was er in meine Hand gegeben. Ich muß. Mein Weg nach München in dieser Nacht ist nötiger, als er’s am Morgen war. Ich reite. Dich lasse ich nicht im Lager. Wir gehören zueinander. Komm! Von München schicke ich dich heim zu meiner Mutter. Willst du? – – Jula? Willst du? So rede doch!“

Ein Schweigen.

Und Malimmes wußte, daß Jula um ihres Vaters willen den Kopf geschüttelt hatte.

Lampert fing wieder zu reden an. Er bat. Dann wurde seine Stimme streng. Aber das hörte Malimmes nimmer; er hatte den Hufschlag eines Gaules vernommen und sprang dem Gesellen entgegen, der den Falben brachte. „Hast du droben gefragt? Wo ist er?“

„Keiner weiß was. Beim Geleit der Landshuter ist er nit. Ich hab den Kuen gefragt und den Seipelstorfer –“

„Schweig! Vergelt’s Gott, Mensch! Und geh!“

Unbeweglich stand Malimmes in der Nacht, mit dem Zügel des Falben in der Hand. Eine Sorge war ihm kalt durch das Herz geronnen. Aber was er fürchtete, das mußte nicht so sein. Unter Tausenden von Menschen verlauft sich einer leicht. Nur der Runotter nicht. Der weiß, wo er hin muß. Freilich, in solch einer Wirrnis kann es hundert mögliche Dinge geben, an die man nicht denkt. Aber das Ungewisse ist eine Pein, die härter als die Wahrheit ist. Darf dem lieben Mädel solch ein würgender Schatten über das junge Glück dieser Stunde fallen?

„Das tät der Bauer nit wollen. Und ich will’s auch nit.“

Malimmes pflöckte den Gaul neben den beiden Kameraden an. Der Ingolstädter und der Falbe waren gleich wieder mit den zärtlichen Ohren beieinander, und der Pongauer guckte bei diesem Gesellenspiel verwundert zu.

Im Gesicht eine steinerne Ruhe, schob Malimmes das Zelttuch beiseite. Unter dem Loderschein der Fackel standen die beiden und hielten sich an den Händen.

„So, Maidl! Jetzt hab ich eine verläßliche Botschaft. Es ist so, wie ich geraten hab. Der Seipelstorfer hat den Bauer mit dem Herrenschub nach Landshut und Burghausen geschickt. Von Burghausen muß er ins Gadnische, weil er mit dem Propst seinen Ramsauer Unfried auf gleich bringen will. Er laßt dich grüßen, sagt der Seipelstorfer. Und laßt dir sagen, du sollst eine Gelegenheit ins Gadnische suchen, wie bälder, wie besser. Mich hat er freigegeben. Der Krieg hat ein End. Ich reit nach Regensburg. Gott behüt dich!“ Seine Stimme blieb wie Eisen. „Ist ein Jahr voll Grausen und doch eine schöne Gesellenzeit gewesen. Aber jeder Faden muß einen Zipfel haben. Ein Landl gibt’s, das man Heimat heißt.“ Malimmes lachte. „Da sehen wir uns schon wieder einmal! Gott behüt dich, Maidl! Gottes Gruß, Herr Someiner!“

Er sah das Erblassen in Julas Gesicht und wandte sich ab und ging mit schweren Schritten davon. Draußen in der Nacht begann er zu rennen, wie ein Dieb, der den Profosen fürchtet. Er hörte noch diesen wehen, in Tränen erstickenden Schrei: „Malimmes, Malimmes –“

Springend keuchte er: „Schrei, wie du magst! Morgen lachst du!“

Neben der Moorstraße, die nach München führte und schon vom Nebel umhangen war, stand er zwischen dem Röhricht bis zu den Hüften im Sumpf. Und wartete.

Ein paar von den Feuerkröten, die auch in der Nacht nicht schweigen, sangen noch ihr eintöniges und dumpfes Lied.

Malimmes wartete.

Droben auf dem schwarzen Hügel, wo Dachau stand, schlug eine Glocke die zweite Morgenstunde.

Malimmes wartete.

Da kamen die beiden, in dunklen Mänteln, auf dem Falben und dem Pongauer.

Sie ritten im Nebel vorüber und verschwanden im Grau.

Einer, der aussah wie ein gebeugter Greis, stieg aus dem Moor heraus.

Noch immer horte man von vier oder fünf Stellen des Lagers her jene tolle Heiterkeit, den Fiedelklang und das Pfeifengetriller.

„Die haben’s gut!“

Malimmes ging hinüber zum Hauptmannszelt und trat in den leeren Raum. Allerlei Zeug war auf dem Deckenlager und auf der Erde. Die Kohlen glommen noch. Und die Fackel brannte.

Er nahm sie aus dem Eisenring und ging davon.

Da hörte er ein wildes Gewieher und sah, wie der Ingolstädter aufgeregt an der Pflockleine zerrte und wütend ausschlug. „Ui, guck! Einer, der nit einschichtig bleiben mag!“ Malimmes löste die Leine, gab dem ungebärdigen Gaul einen zärtlichen Schlag auf den Hinterbacken und ließ ihn laufen. „In Gottesnamen! So renn halt deinem Gesellen nach, den du nit missen kannst!“

Der Gaul, mit gestrecktem Hals und wehendem Mähnenhaar, stob in die neblige Nacht hinaus.

Malimmes wanderte mit der Fackel durch das Lager – an einem der Huschelzelte vorüber, in dem es lebhaft zuging – und stieg durch den Wald zu der Höhe hinauf, wo Herzog Heinrich in den glühenden Zangen seines Fiebers lag.

Der steile Weg war schon halb überwunden. Da blieb Malimmes plötzlich stehen, hob die Fackel und lauschte in den Wald hinein. Ihm war, als hätte er den Laut einer menschlichen Stimme gehört. „Höia! Was ist denn da?“ Er hörte das müde Stöhnen wieder und sprang der Richtung zu, aus der es kam.

Zwischen den Wurzeln eines dicken Baumes hockte einer und sah aus wie ein plumper Hügel aus rotbraunem Eisen mit einem Menschenkopf, um den die weißen Haarsträhnen hingen.

„Jesus! Bauer!“ Malimmes preßte den Fackelstumpf in die Gabel eines doppelten Baumes. „Wie, was ist denn, Bauer? Wie geht’s denn?“

Eine ruhige, wunderlich versunkene Stimme: „Nit schlecht. Überall erträgliche Schmerzen.“

Der Söldner wollte den Kauernden aufrichten.

Runotter schüttelte den weißen Kopf und sagte wie ein Schlaftrunkener: „Laß mich hocken! Zum letzten Weg hat’s nimmer gereicht. Mein Krieg ist aus gewesen. Ich hab hinauf wollen zum Buben. Da hat’s mich umgeschmissen.“

Schweigend sah Malimmes das entfärbte Gesicht an, das die Hand des Todes schon berühren wollte. Und da wurde er ganz ruhig, setzte sich neben seinen Herrn, zog ihm die gepanzerten Fäustlinge herunter und faßte die feuchten, erkaltenden Hände.

Langsam drehte Runotter den Kopf. „Dich hab ich auch mit hineingerissen in meine Not. Verzeih mir’s!“

„Geh, Narr, was redest du denn da?“ Malimmes lachte. „Ich bin ein Einschichtiger. Du bist mein Herr. Ich bin dein Knecht.

Und bleib’s.“

Auch Runotter, den der Rotschein der Fackel umzüngelte, fand ein mattes Lächeln. „Die Leut lügen, die auf die Menschen schelten. Auf der Welt ist Treu. Weil du lebendig bist. Bleib, wie du sein mußt! Wo einer Untreu übt, geht Feuer nieder, daß ihm die Hand verbrennen.“ Mühsam hob er die geschienten Arme, streckte sie gegen den Schein der Fackel, drehte die von trockenem Blut umkrusteten Hände hin und her – und nickte – und sah immer diese Hände an. Dann ließ er sie fallen. „Mein Kind ist ohne Schuld. Gott muß gerecht sein! – Gelt, Malimmes? Und du bist da? Jetzt, wenn Fried wird, kann’s ja noch allweil werden. Zwischen meinem Maidl und dir.“

„Ui, Bauer, da ist mir der Ofen kalt worden.“ Wieder lachte Malimmes. Aber es klang nicht froh. „Dein Maidl braucht mich nimmer. Jetzt ist ein andrer da. Der jung Someiner. Nie hast du mir glauben wollen. Heut in der Nacht ist’s Wahrheit worden. Die zwei, die mögen einander.“

Nach langem Schweigen murmelte der Sterbende heiter vor sich hin: „Der jung Someiner! Schau! Der jung Someiner!“ Seine Stimme wurde kräftiger. „Das ist ein fester und grader Mensch. Der wird’s anders machen als sein Vater. Da möcht ich wieder leben.“

Ein Aufzucken und Flackern des Lichtes. Die Fackel neigte sich, fiel aus der Baumgabel heraus, kollerte über den Waldboden und erlosch.

Die zwei Männer saßen in der Finsternis.

„Malimmes! Tu mich auf lupfen! Ich möcht die Welt nochmal anschauen – von so hoch herunter, wie ein Mensch seinen Kopf aufheben darf.“

Der Söldner schlang die Arme um die gepanzerte Brust seines Herrn und zog ihn vom Boden auf.

Immer drehte Runotter den Kopf hin und her und sah in die Nacht hinaus. „Mensch, wie schön ist alles!“ Der schwere Mann begann zu taumeln. Er wollte noch sagen: „Gott soll mir gnädig sein!“ Aber nur die zwei ersten Worte wurden noch laut: „Gott soll – –“ Das andere erlosch in der Finsternis.

Malimmes, während er den Entseelten auf den Boden niederlegte, sprach in das schwarze Schweigen hinein: „So! Wenn jetzt der Herrgott nit selber weiß, was er tun soll, nachher sagt’s ihm keiner mehr.“

Er blieb bei dem Toten sitzen, bis das Gesicht und die Hände kalt waren.

Dann sprach er, auf beiden Knien liegend und mit hoch gefalteten Händen, laut und langsam ein Vaterunser – wie die Fußknechte beten vor einer Schlacht. Nach dem Amen legte er dem Toten einen großen Moosballen über das Gesicht, um die gebrochenen Augen vor den Vögeln des Morgens zu schützen.

Mit schweren Schritten tappte Malimmes durch den finsteren Wald hinunter.

Vom Moorland dampfte der Nebel schon dick über das Lager her.

Eine Ronde rief den Malimmes an. Weil er nicht antwortete, wurde er festgenommen. Das versetzte den Erwachenden in so rasenden Zorn, daß er mit den Fäusten losschlug. Einem anderen wäre es übel ergangen. Diesen Liebling des Herzogs ließ man laufen.

Lange saß er am Waldsaum und sah den Schanzknechten zu, die seit Mitternacht an einer großen Grube arbeiteten.

Dann schritt er langsam an einer Reihe der Kaltgewordenen hin und sagte zu einem Wächter: „Da droben im Wald, wo’s zum Herzog hinaufgeht, da liegt noch einer. Dem müßt ihr ein gutes Plätzl geben.“

Unter den ziehenden Dünsten waren alle Sterne schon erloschen.

Malimmes ging auf das Lager zu und kehrte wieder um; wanderte gegen den Wald hinüber und kehrte wieder um; suchte das leere Hauptmannszelt und kehrte wieder um; er wußte nimmer, wohin.

Als der kühle Herbstmorgen matt zu grauen anfing, trat Malimmes in eines der lustigen Zelte, wo man Durchnacht machte bei Saitengedudel, Pfeifengetriller und lustigem Dirnengekreisch.

Über dem wüsten Bilde hing ein dicker Schleier des Qualmes, mit dem eine brennende Pechpfanne den großen Raum erfüllte. Hinter einem Schanktisch, den man aus Karrenwänden aufgeschlagen, verzapfte ein flinkes, mageres Weib den Wein. Auf dem Schanktisch saßen auch die drei Musikanten, deren hurtiges Gequiekse halb unterging in dem Stimmengebrüll der Betrunkenen. An die dreißig oder vierzig – Gepanzerte und Ungewaffnete, Sieger und Ausgeklopfte – saßen auf Bänken und leeren Fässern oder lagen auf dem Boden umher, grob mit den halbnackten Weibern scherzend.

Malimmes trat zum Schanktisch: „Einen Stutz Wein!“

Bei seinem Anblick kreischten die Dirnen, vor Lustigkeit die einen, vor Schauder die anderen. Der neue Gast sah grauenvoll aus mit dem kalkig verzerrten Gesicht, mit dem Moorschlamm bis über die Hüften herauf und in dem roten Blut, das droben im Wald seine Hände, seine Arme und seine Brust überrieselt hatte. Unter den Weibern waren ein paar, denen das gefiel. Sie hängten sich an den Schweigsamen, schwatzten, lockten, kicherten und streichelten ihm die große Narbe. Er sah diese heißen, schwitzenden Gesichter mit halbgeschlossenen Augen an und machte, um die Zudringlichen loszuwerden, mit dem Arm einen groben Schub. Lachend stürmten sie wieder gegen seine Brust.

Da schrie von den Bänken her ein Betrunkener, der den Panzer von Herzog Heinrichs Trabanten trug: „Den lasset in Ruh, ihr süßen Knospen! Die Weiblein mag er nit leiden. Der hat in seinem Zelt einen schmucken Buben –“ Was er weiter noch sagte, ging unter in dem höhnischen Gelächter dieser vierzig, fünfzig Menschen.

Im Gesicht des Malimmes brannte die Narbe so rot, als wäre sie wieder eine offene Wunde geworden. Er hatte schon den zinnernen Weinstutz in der Hand, stellte ihn wieder auf den Schanktisch hin, ballte die Faust und sprang auf den Schreier zu.

Beim Weinfaß kreischte die magere Budenmutter: „Bei uns gibt’s keine Händel nit, bei uns ist friedsame Ruh, wir sind christliche Leut, gehorsam vor Gott und Obrigkeit.“ Noch ehe sie mit diesen Worten zu Ende kam, war der Handel schon erledigt, mit einem einzigen Faustschlag.

Der Gepanzerte rollte klirrend über die Bank hinunter, mit Geschrei liefen die Dirnen aus dem Zelt, und ein Wald von Fäusten fiel über den Malimmes her. Sie rissen ihn zu Boden. Er wehrte sich nicht und ließ seine Hände fesseln. Und als ihn die Erbitterten, die sich bei ihrer schönen Freude so übel gestört sahen, in das neblige Morgengrau hinausführten, schrie er lachend zu den Schleiern des Himmels empor: „Zigeunerweibl! Den Siebenten schenk ich dir. Das Sterben ist ein kostbares Ding.“

Im Zelt des Profosen, der bei einer Wachsfackel zwischen seinen vier handfesten Gehilfen saß, redeten zuerst die Zeugen der bösen Tat. Dann fragte der Strenge: „Was kannst du sagen dagegen?“

„So viel wie ein Floh, der nimmer beißen mag.“

„Hoppla!“ Der Profos machte die Augen rund. „Dich kenn ich als lustiges Luder. Es muß wohl wahr sein: Wie einer lebt, so stirbt er. Hast du getan, was die da sagen?“

„Biederleut reden die Wahrheit. Ich hab ihn erschlagen.“

„Warum?“

„Weil ich an meinem Tun drei gute Eigenschaften gesehen hab. Es war notwendig, ehrlich und gesund.“

„So? Da muß ich halt auch tun, was ehrlich und notwendig ist. Ob’s dich gesünder machen wird, das muß ich bezweifeln.“ Dieser Profos war einer von Herzog Heinrichs flinken Richtern. Wohl wußte er, daß Malimmes zu den begünstigten Leibwächtern des Fürsten zählte. Aber wenn ein Gesetz redete, ließ Herr Heinrich auch jene hängen, die er liebte. Und das Gesetz war streng: Auf Totschlag im Lager und in der eigenen Truppe stand der Galgen. „Hast du einen letzten Wunsch?“

„Wohl, Herr! Bloß die Begrabenen wünschen nimmer. Die Lebendigen noch allweil. Ich will einen Rinken Brot und Wurst. Und vier Maß guten Wein dazu. Im Himmel tät’s schiech ausschauen, wenn mein erstes Wörtl sein müßt: ›Mich dürstet und hungert.‹“

„Ist bewilligt. Aber sag mir, Christenmensch, was machst du in der Seligkeit mit einem vollen Magen?“

„Was drin ist, laß ich auf die irdische Gerechtigkeit herunterfallen.“

Um den Richtertisch erhob sich ein Gelächter. Und der Strenge ärgerte sich. „Ein halbes Stündl laß ich dir Zeit. Fiat justitia!“

Die Gerechtigkeit entfernte sich. Und der Profos schickte einen Läufer zum Hauptmann Seipelstorfer, um die Bestätigung des Spruches einzuholen.

Als der Läufer die Waldhöhe schon fast erreicht hatte, tauchte er über den Nebel hinaus und kam zu einer wundersamen Landschaft: Eine von der ersten Morgensonne umflossene Föhreninsel schwamm inmitten eines silbernen Meeres. Wie ein Eiland der Seligen war’s.

Fast lautloses Schweigen träumte um das Zelt des Herzogs her, der seit achtzehn Stunden bewustlos im Fieber lag. Die Wachen saßen im Gras und flüsterten. Man sah auf ihren übernächtigen Gesichtern keine Trauer oder Sorge, nur Müdigkeit.

Auch der Läufer, als er zum Hauptmann geführt wurde, mußte leise reden.

Herr Seipelstorfer zog die Brauen hoch und nickte. „Der Spruch ist gerecht. Fort mit ihm!“ Und zum Kuen sagte er: „Einmal, da hab ich von dem Tropf was gehalten. Gestern hat er schlecht gefochten. Mit seinem täppischen Dreinschlagen hat er mich um tausend Dukaten gebracht.“

Die beiden beredeten, wie sie sich halten müßten, wenn mit dem Herzog das Übelste geschehen sollte. Denn der Leibarzt, dessen duftende Künste völlig versagten, hatte allen Glauben an die Erhaltung dieses kostbaren Lebens schon aufgegeben.

Aus dem Zelt klang eine müde Stimme, die lateinisch psalmodierte.

Der kleine, dicke Pfarrer von Dachau war noch immer da. Er war schon sehr erschöpft. Von der Schwüle, welche die vielen brennenden Kerzen erzeugten, hingen ihm die Schweißtropfen an den Augenbrauen. Zu Füßen des Feldbettes saß er auf einem Klappstuhl, zwischen den Händen das abgegriffene Buch, aus dem er die lateinischen Gebete herauslas.

In einem Winkel des Zeltes kauerten zwei Diener und kämpften bei diesem eintönigen Betgesang in Ermüdung gegen den Schlaf. Von den zwei anderen Dienern kniete der eine links, der andere rechts vom Bette; sie hielten die zwei brennenden Weihkerzen aufrecht, die man dem Bewußtlosen in die schlaffen Hände gegeben hatte. Sein zierlicher Körper ruhte nackt unter dem Leintuch, das ihn von den Füßen bis zur Brust bedeckte. Der Kerzenglanz umschimmerte das braune, heiße Schmalgesicht, das in der Fülle des wolligen Haares wie in einem schwarzen Kissen lag. Kaum merklich hob und senkte sich die Brust des Kranken. Unter den geschlossenen Lidern rollten manchmal die Augensterne hin und her, die als dunkle Schatten hinter dem dünnen, olivenfarbenen Häutlein mit den schwarzen Wimpern zu erkennen waren.

Der sorgenvolle Leibarzt tauchte immer wieder ein Tuch in die Essigschale und befeuchtete die spröden, von weißlichem Fieberschorf überkrusteten Lippen des Kranken.

So tat er wieder einmal. Und da atmete Herr Heinrich tief und öffnete die Augen. Erst schien er die Dinge und Menschen, die ihn umgaben, nicht zu erkennen. Nun kam ein Schreck in seine Augen. Er starrte die brennenden Kerzen an, die er in den Händen hielt, und sagte leis und ängstlich: „So steht’s mit mir?“ In seinen Schreck mischte sich ein kindliches Verwundern. Den kleinen, dicken, lateinisch betenden Pfarrer betrachtend, deutete er mit der brennenden Kerze: „Was sagt denn der?“

In sichtlicher Freude schloß der Dachauer Seelenhirt das Buch und schien diesen Augenblick des Erwachens für geeignet zu halten, um den hohen Sterbenden christlich für die Himmelsreise vorzubereiten. Er streckte die gedrungene Gestalt, hob den Zeigefinger und mahnte mit einer tapferen und redlichen Strenge: „Du Herzog von Bayern! Reinige deine sündhafte Seele und versöhn dich mit dem Himmel. Laß dir raten, und besinn dich deiner Christenpflicht! Oder glaubst du, Gott wird mit einem Herzog von Bayern besondere Umstand machen? Da wirst du dich irren! Da droben bist du nit mehr als wie der geringste von deinen Knechten!“

Herr Heinrich hatte die zwei brennenden Kerzen den Dienern hingeboten, richtete sich mühsam auf und betrachtete halb in Angst und halb mit freundlicher Neugier den unerschrockenen Mann Gottes.

„Da droben wird’s heißen: Heinerich, hast du verziehen oder nit verziehen? Wenn du verziehen hast, wird’s heißen, so will ich dir auch verzeihen. Hast du aber nit verziehen, so verdamm ich auch dich!“

In den heißglänzenden Augen des Kranken war ein fröhlicher Blick. Er sagte mit schwacher Stimme: „Vor Gott hab ich Ehrfurcht. Aber ich denke noch nicht ans Sterben. Ich habe Besseres zu tun.“ Und da fing er leis zu lachen an, weil er bemerkte, daß der schwarze Rock des Pfarrers vom Kinn bis zum Bäuchlein hinunter mit einem Strich von Eiergelb betrenst war.

Als die Leute, die draußen vor dem Zelte standen, den Herzog lachen hörten, kamen der Seipelstorfer und der Kuen hereingesprungen.

Herr Heinrich winkte dem Pfarrer mit freundlicher Hand. „Braves Männlein! Du kannst heimgehen! An deinen Augen seh ich, daß du müde bist. Ich danke dir. Wenn es wieder mit mir zum Sterben kommen sollte, will ich dich holen lassen. Du gefällst mir.“

Als der Pfarrer von Dachau mit seinem Schnerfsacke sehr schnell das Zelt verließ, schien den Herzog eine neue Ohnmacht überfallen zu wollen. Gewaltsam hielt er sich aufrecht in den Kissen, straffte den Körper, griff ins Leere, suchte mit den Augen und kreischte gleich einem ängstlichen Kind: „Wo ist mein gesunder Galgenvogel? Mein Nüremberger? Wo ist er? Ich will ihn haben. Ich will sehen, daß er gesund ist.“

Erschrocken sagte der Seipelstorfer: „Herr! Der hat einen Gesellen erschlagen. Jetzt hängt man ihn eben.“

„Ihr Narren!“ schrie der Herzog, dessen Züge sich verzerrten. „Wollt ihr mich ermorden?“ Seine Stimme und seine Hände bettelten. „Holt ihn! Holt ihn! Er ist begnadigt. Und hätte er zehntausend erschlagen wie König David! Holt ihn! Her mit ihm! Ich will ihn haben. Ich will ihn sehen. Er muß gesund sein. Weil ich leben will.“

Der Hauptmann war mit dem Büchsenmeister schon davongesprungen.

Zittend saß der Herzog in den Kissen, streckte den Hals und lauschte auf das Hufgeklapper der Gäule, die davonjagten. Er hörte nicht, was der Leibarzt mit ihm redete, und schien der Pflege nicht zu achten, die man ihm widmete. Immer lauschte er. Und was ihn so schüttelte, war nimmer sein Fieber, sondern ein Schauer seiner abergläubischen Todesangst. Obwohl man die brennenden Kerzen ausgeblasen, den Spalt des Zeltes geöffnet und die kühle Morgenluft hereingelassen hatte, rannen ihm die Schweißtropfen über Gesicht und Brust und Arme herunter.

Da spannten sich seine Züge in lauschender Erregung. Mit seinen scharfen Wieselohren hörte er früher als die anderen das Keuchen und die Hufe der Gäule, die vom Lager über das Waldgehänge heraufkamen. Er hörte die Stimmen und verstand, was sie schrien. Und lachend ließ er sich auf die Kissen zurückfallen. „Ich lebe!“ So lag er eine Weile, während draußen der heitere Lärm sich näherte. Als der Seipelstorfer schon im Spalt des Zeltes erschien, streckte Herr Heinrich dem Leibarzt die linke Hand hin: „Greif, du! Mir ist besser.“

Der Hauptmann kam. „Herr, der Faden hat grad noch gereicht“, erzählte er vergnügt, „ich selber hab den zwiefüßigen Apfel mit meinem Eisen vom Baum heruntergeschlagen.“

Jetzt brachten die anderen den Malimmes. Er hatte ein verdrossenes Gesicht und war übel anzusehen. Nur die mit Moorschlamm behangene Reithose trug er und das offene, mit Blutflecken durchtränkte Hemd. Um den mageren Hals lief eine rote Strieme. Auch das gerade Stehen fiel ihm schwer. Aber das kam nicht von irgendwelchen nachteiligen Folgen des Rappenholzes, nur von den vier Maß Wein, die der Profos dem armen Sünder als letzte Lebensfreude bewilligt hatte.

Herr Heinrich in seiner Schwäche sagte heiter: „Das Schwein ist besoffen. Aber sonst gesund. Gott sei Dank!“

„Mit dem Suff ist’s nit so arg“, erklärte Malimmes in galligem Mißmut, „vier Maß, die reichen mir bloß vom Zehennagel bis zum Knie.“

Immer munterer wurde der Herzog. „Wieviel mußt du schlucken, bis du voll wirst?“

„Sechs Maß gehen mir bis zum Nabel, acht Maß bis zu den Ohren. Höher ist mir’s noch nie gegangen. Das Hirn ist allweil hell geblieben.“

„Und solch einen glückseligen Magen gibt Gott den armen Knechten!“ Herr Heinrich betrachtete vorwurfsvoll den Leibarzt. „Mir wird schon übel nach einer Maß.“ Stumm, mit einer Handbewegung, befahl er den Leuten, das Zelt zu verlassen. Den Malimmes winkte er zu sich heran. Neugierig streckte er sich und beguckte die rote Strieme am Hals des Söldners. „Hat’s arg gekitzelt?“

Malimmes schüttelte ärgerlich den Kopf. „Ich bin’s gewohnt, Herr! Jetzt ist von meinen ungefährlichen Hänfenen der siebente überstanden, ohne daß ich’s wollen hab. Der achte wird gefährlich. Wenn ich jetzt noch leben möcht, müßt ich werden, was die Biederleut einen braven Menschen heißen. Da tat mir grausen vor mir. Tut mir den Gefallen, Herr, und laßt mich aufknüpfen! Nachher hab ich Ruh.“

„Nein, du! Ich will, daß du leben sollst. In meiner Gnade.“

„Die verdien ich nit. Ich bin ein falscher Knecht. Das muß ich Euch ehrlich sagen.“ Malimmes musterte den kleinen Herzog mit bösem Blick. „Seit gestern hab ich an Euch kein Wohlgefallen nimmer.“

„Seit gestern erst?“ Herr Heinrich lächelte. „Da bist du spät auf den rechten Geschmack gekommen. Ich habe mir noch nie gefallen.“

„Und gestern –“

„Was?“

Der Söldner geriet in eine zornige Erbitterung. „Gestern hab ich wider Euch ein untreues Ding getan.“

„Du? Das glaub ich nicht.“

„Wohl, Herr! Das ist kein Versehen gewesen. Das hab ich wollen! Wie der Seipelstorfer den Herzog Ludwig hätt greifen können, hab ich dem Hauptmann einen Streich aufs Dach gehauen, daß er den Fürsten hat müssen fahrenlassen. Und da hat der Törring den Ingolstädter aus der Not gerissen. Also, Herr! Jetzt laßt mich hängen!“

Über das heiße Gesicht des Herzogs war ein Erblassen geronnen. Lange schwieg er. Dann fragte er in einem Zähneschauer: „Warum hast du das getan?“

„Weil mich des edlen Herrn erbarmt hat in seiner tückischen Not.“

Mit funkelnden Augen betrachtete Herr Heinrich den Söldner. Etwas Schweres schien im Herzog zu kämpfen. Dann rief er die Diener und ließ den Hauptmann kommen: „Drei Stunden nach Mittag brechen wir auf. Zweihundert Harnischer reiten mit mir nach Regensburg. Die anderen in ihre Heimat. Was an Troß und Waffen erbeutet wurde, nach Burghausen. Man soll mich kleiden und in den Sessel heben. Ich will hinunterschauen in das Dreckloch, aus dem mein Vetter Loys nach Gottes und eines Menschen Willen entsprungen ist.“ Er entließ den Hauptmann mit einem gnädigen Lächeln. Dann befahl er den Dienern: „Den Malimmes soll man säubern und soll ihm eine Ruhstatt schaffen. Sechs Stunden kann er schlafen. Dann soll man ihn kleiden und rüsten. Er reitet mit mir nach Regensburg.“

„Teufel“, murrte Malimmes kummervoll, „es ist ein Elend auf der Welt, wenn der Mensch das Sterben nit fertigbringt.“ Er wollte auf den betrunkenen Knien seinen unbekneipten Verstand aus dem Zelte tragen.

Da winkte ihm der Herzog. „Du! Beuge dich herunter zu mir!“ Und als der lange Mensch sich neigte, sagte ihm Herr Heinrich ins Ohr: „Ich bin, der ich bin. Drum muß ich wollen, was dir mißfällt. Wär ich du, so hätt ich gestern vielleicht getan, was vielen gefallen würde. Du bist von den Wohlgeratenen des Lebens einer. Solche, wie du bist, müssen wir Fürsten um uns haben. Willst du der Meinige werden?“

Ein bißchen verwundert guckte Malimmes den Herzog an. „Ich will’s bedenken, Herr! Erst muß ich’s überschlafen.“ Er ging. Unter dem Spalt des Zeltes drehte er das Gesicht. „Herr! Wenn Euch nach der Mittagsstund noch allweil nit besser ist, so laßt mich wecken. Kann sein, ich weiß ein Ding, das hilfreich wider Euer Leiden ist. Aber da muß ich nüchtern sein. Auch in den Waden.“

Im Zelt der Dienstleute wurde Malimmes gewaschen und gekleidet. Schweigend ließ er alles mit sich machen. Auf dem Lager, das man für ihn richtete, saß er noch lange wach, krumm zusammengebogen, mit dem Gesicht zwischen den Händen.

Dann schlief er. Um die zweite Mittagsstunde wurde er geweckt und zum Herzog geholt.

Er blieb mit Herrn Heinrich allein im Fürstenzelt. Auch der Leibarzt mußte sich entfernen, bevor Malimmes dem Herzog half.

Als man nach Regensburg aufbrach, brannte das Fieber des Kranken noch immer; er mußte kurze Tagesmärsche machen und lange Ruhepausen halten; aber mit jedem Morgen wurden seine Pulse ruhiger, und am vierten Tage fühlte er sich körperlich so sehr gekräftigt, daß er den Tragsessel nimmer nötig hatte, sondern reiten konnte.

Der Leibarzt, der ein bißchen kleinlaut geworden war, hielt sich immer in der Nähe des schmuck gekleideten, nach Art eines ritterlichen Herrn gewaffneten Söldners. Endlich kam er mit der Frage: „Wie hast du dem Fürsten geholfen?“

Mißlaunisch schüttelte Malimmes den Kopf. „Jedem das Seine, Ihr seid ein Medikus, ich bin ein Kriegsmann. Alles im Leben ist Handel. Weiset mir einen Bolz, mit dem man einen im Küraß auf tausend Gang aus dem Sattel schießt, so will ich Euch weisen, wie man die Müden munter macht.“

In der Abenddämmerung, nicht weit hinter Landshut, überholte Herzog Heinrichs klirrender Reiterschwarm den gemächlich reisenden Zug der Herzöge von München.

Herr Heinrich begrüßte die Vettern mit lebhafter Herzlichkeit. Der Gegengruß war minder freundlich. Herzog Wilhelm und Prinz Albrecht blieben stumm; im Gesicht des Prinzen war eine heiße Zornflamme; und Herzog Ernst lachte in seiner schwerfälligen Art.

„Warum so wunderlich, meine lieben Vettern?“ fragte Herr Heinrich mit dem Anschein eines Gekränkten. „Solltet Ihr noch nicht vernommen haben, wie kräftig wir euch bei Dachau zu Hilfe kamen?“

„Vernommen?“ sagte Herzog Ernst. „Ob das ein zutreffendes Wort ist? Sollte man nicht sagen: wahr genommen? Ja, Vetter Heinrich! Wir haben wahrgenommen. Deine klugen Taten sind wie stille Seufzer. Man hört nicht viel von ihnen. Aber sie werden ruchbar.“

Herr Heinrich legte den Kopf zurück. „Sehr höfisch redest du nicht, mein derber Vetter! Ich hätte wohl besser das Eisen im Leder gelassen. Jetzt muß ich an ein Wort meines Schwagers Zollern denken. Wenn er Gutes tat und Undank erfährt, pflegt er zu sagen: ›Es ist mein Schicksal, mißverstanden zu werden.‹“ Er nickte einen Gruß. „Ihr reiset langsam. Ich habe Grund zur Eile. In Regensburg!“ Herzog Heinrich rasselte mit seinem Schwarm davon.

Er überholte während der beiden folgenden Tage noch manchen Reiterzug, der von Städten, Burgen oder Klöstern kam.

Die Reise ging vorüber an Feldern, auf denen die Ernte faul geworden, vorüber an öden Kohlstätten verbrannter Dörfer und an gebrochenen Mauern. Überall lungerte das Elend neben der Straße, und in der schönen, milden Sonnenluft waren üble Gerüche. In den Stauden und Gräben kauerten müde oder kranke Menschen, die aussahen, als wären sie hinter einem Wanderzuge erschöpft zurückgeblieben. Niemand kümmerte sich um die Niedergebrochenen; jeder, den die Füße noch trugen, hatte mit sich selbst zu schaffen; unter den Schrecken dieses Kriegsjahres war die Barmherzigkeit abgestumpft, das Erbarmen erloschen. Wer sterben mußte, blieb liegen, wo er lag, und war umschwärmt von Ungeziefer, von Krähen und Geiern.

Am letzten Reisemorgen geriet Herr Heinrich in lange Züge von wandernden Menschen und mußte vorsichtig reiten, weil diese Müden und Erschöpften die Straße nur langsam räumen konnten.

Als der ungeduldige Reiterschwarm des Herzogs solch einen Hauf von grau verstaubten Wandersleuten zerkeilte, verhielt Malimmes plötzlich den schönen, feurigen Schimmel, den ihm der Herzog geschenkt hatte. In einem Trupp, der neben dem Straßengraben rastete, war ihm ein langer, magerer Bauer aufgefallen.

„Höi! Du! Bist du nicht der Fischbauer vom Hintersee?“

„Was denn sonst?“

Da fand Malimmes seit dem Tage von Dachau das erste heitere Lächeln. „Guck, der Seppi Ruechsam ist noch allweil lebendig. Die Guten sterben nit.“ Er sah den Bauer an, der ihn mißtrauisch betrachtete. „Mensch? Was tust denn du in Regensburg?“

„Du mußt mich ja nit hintragen.“

„Willst du am End gar zum deutschen König?“

„Was denn sonst?“

Malimmes wollte nach Mutter und Bruder fragen. Doch schweigend gab er dem Schimmel die Sporen und jagte dem Schwarm des Herzogs nach, wieder mit jener stumpfen Trauer in den Augen.

Um die Mittagsstunde, als die Scharen der Wandernden immer dichter wurden, sah man von einer Waldhöhe in das liebliche Tal der Donau hinunter, das zärtlich begleitet war von lind geschwungenen Hügeln und herbstlich gefärbten Buchenwäldern. In ihrer Mitte, wie ein feiner Kern in der Schale, lag das von Mauern und Wällen umschlossene Dächergewirre der freien Stadt mit schlanken Kirchtumspitzen und plumpen Streittürmen.

Ein dumpfes Murren von Bumbardenschüssen und ein sanft verschwommenes Tönen vom Geläute vieler Glocken.

Es war zu der Stunde, in der die edlen Geschlechter und der große und kleine Rat von Regensburg mit Pomp und Jubel ausrücken wollten, um auf der Nürnberger Straße den König Sigismund und die Königin Barbara feierlich einzuholen.

Den deutschen König, den Kaiser zu empfangen, hatte die alte, freie Donaustadt sich schön gemacht mit Gewinden der letzten Herbstblumen, mit bunten Tüchern und wehenden Fahnen.

In den letzten Nächten hatte man große Schweineherden durch die Stadt getrieben, damit die braven, für Reinlichkeit sorgenden Tiere alles verschlingen möchten, was bequeme Bürgersfrauen an üblen Dingen aus ihren Fenstern auf die Straße zu werfen pflegen. Und was die Schweine zu entfernen verschmähten, wurde in fleißiger Nachlese von den ruhelos umherwandernden Buttenknechten gesammelt.

Man hatte das Stadthaus gesäubert und geziert, hatte Trommler und Ausrufer durch die Stadt geschickt, um die strengen Festtagsgesetze zu verkünden und das Volk zu gesittetem Verhalten zu ermahnen. In alle Häusern, die zu Quartieren für hohe Gäste und ihr Hofgesinde bestimmt waren, hatte man rastlos gefegt und gescheuert, das Silber geputzt und die Zinngeschirre blankgerieben. Und unter den Betten, in denen die Fürstlichkeiten ungestörten Schlummer finden sollten, hatte man Flohfallen aufgestellt und Leimruten für sonstiges Ungeziefer.

Während die schöne Herbstsonne über den Gassen und um die steilen Dächer funkelte, rauchten alle Schornsteine, und überall spürte man den Duft von Honigkuchen, Schmalzgebackenem, Gewürz, Wacholder und Räucherwerk.

Unter dem Donner der Regensburger Kammerbüchsen und dem Geläut der Glocken waren die engen Straßen und der große Marktplatz, auf dem sich der Zug zur Einholung des Königs ordnete, von einer farbigen, freudig erregten Menschenmenge erfüllt. Um die städtischen Standarten und die vielen Kirchenfahnen ein Gewimmel von Geistlichen in prunkvollen Ornaten, von reichgekleideten Ratsherren und wappenfähigen Geschlechtern, von gepanzerten Stadtknechten, Söldnern und Schützen, von Frauen mit Blumenkränzen im Haar, von geputzten Jünglingen und Jungfrauen mit gebänderten Stäben und von vielen, vielen kleinen Mädchen und Knaben mit langen Birkenreisern, an denen die herbstlich gefärbten Blätter in der Sonne wie kleine, goldene Herzen flimmerten. Und rings um diesen farbigen Prunk herum, hinter den Zäunen der Spießknechte, staute sich die graubraune Masse des mühsamen Volkes mit kreischenden Kinderschwärmen; da hatte jede Mutter, die in reifen Jahren war, einen Ring von struwweligen Köpfen um sich her; und manche mußte flink die Augen bewegen, wenn sie verläßlich wachen wollte über das Dutzend ihrer Knospen.

Dieser fröhliche Lärm und dieses Festgepränge ließ nichts von den Schrecken des Krieges gewahren, der seit Jahresfrist die bayerischen Lande mit blinder Zerstörungswut durchtobte. Wie Augsburg und Nürnberg, so hatte es auch Regensburg durch kluge Politik verstanden, sich fern von den Wirren dieses Krieges zu halten, und hatte das Aufblühen der Stadt gefördert, während außerhalb ihrer schützenden Mauern die trotzigen Burgen fielen und die Kräfte des Rittertums vor dem Ansturm der Söldnerscharen und unter den Streichen der Bürger- und Bauernfäuste versagten. Tausend Dörfer waren in Flammen aufgegangen, und der Verzweiflungsschrei eines namenlosen Elends durchschrillte alles offene Land, über das der Fürstenzank mit Eisen, Feuer, Galgen, Büchsen, Hunger und Seuchen seine sinnlose Verwüstung hatte hinrollen lassen, wie ein Bergsturz mit springenden Trümmern alles blühende Leben verschwinden läßt unter seinem Schutt. Doch in den ummauerten, von fester Kraft geschützten und mit kaiserlichen Freiheitsbriefen begnadeten Städten war unbedrücktes Atmen, rühriger Handel, wachsender Wohlstand und friedsame Arbeit, bei der ein Umschwung aller Dinge im Reich und neue Zeiten sich vorbereiteten, die Zeiten eines machtvollen Bürgertums.

Zu Regensburg, in dieser sonnenschönen, feierlichen Mittagsstunde, mischte sich mit dem frohen, alle Gassen und den Marktplatz füllenden Festlärm ein fernes, dumpfes Sausen, das der brausenden Stimme eines gewaltigen Stromes glich. Es war das Stimmengewirr der dreißigtausend zugewanderten Bauern, denen man den Einlaß durch die Mauer verweigert hatte, um die friedliche, gesunde Stadt vor allem zu behüten, was da ah Armut und Zorn, an Aufruhr und Mordgefahr, an Unsitten und Krankheit zusammenströmte aus allen Weiten der verwüsteten Lande.

Auf dem großen Anger vor dem Ostentore lagerte dieses graue Heer des Elends und der Sehnsucht, des stumpfen Grames und der seufzenden Erschöpfung, des suchenden Lasters und eines quirlenden Leichtsinns, der alle Not und Trauer betäubte mit lachendem Schrei.

Während die von Süden ankommenden Fürstlichkeiten durch Gepanzerte des städtischen Heeres empfangen und in die Stadt geleitet wurden, irrten ruhelose Scharen der ausgesperrten Volksmenge an den Wällen und Mauern entlang, kamen zum Ufer der Donau und kehrten zurück zum Ostenanger. Mit jeder Minute vermehrte sich das graue Heer durch neue Zuzüge von allen Landstraßen. Die vom Stadtrat aufgestellten Zehrbuden, Brothütten und Schankzelte konnten den Hunger der vielen Tausende nicht stillen, wurden geplündert und niedergerissen. Das Gelärme der Ungeduldigen schmolz zusammen mit dem festlichen Dröhnen der Kammerbüchsen und dem Freudengeläut der städtischen Glocken. Und plötzlich brauste über den wimmelnden Aufruhr ein wilder, tausendstimmiger Schrei erneuter Hoffnung hin: „Der König kommt! Der Kaiser ist da!“

Das tosende Gewühl begann sich vorwärts zu schieben, gegen das Ufer der Donau hinunter. Tolle Neugier und leidende Sehnsucht keilten sich gegeneinander. Die Ellenbogen wühlten, und die Fäuste droschen. Schwachgewordene wurden niedergestoßen: und zertreten. Und weil den Ausgesperrten auch der Zugang zur Steinernen Brücke verwehrt blieb, rissen sie bei den Fischerhäusern die Kähne und Fähren los, um die Donau zu übersetzen, und dem deutschen König entgegenzuziehen; an die dick mit Menschen gefüllten Boote klammerten sich noch Dutzende an und ließen sich von den abwärtstreibenden Schiffen durch das Wasser schleifen; und wenn eine ermattete Faust die Finger öffnen mußte und ein Mensch in den schießenden Wellen versank, so war’s für die anderen, wie wenn im herbstlichen Wald ein welkes Blatt zwischen Moos und Stein verschwindet.

Hunderte kamen über den Strom, und viele Tausende füllten dichtgedrängt die schmale Schiffslände zwischen dem Fuß der Stadtmauer und dem Ufer der Donau. Über dem Strome drüben und hinter der befestigten Vorstadt ›Am Hofe‹ sahen sie auf den falben Wiesenhügeln, über welche die Nürnberger Straße herunterkam, das feine Funkeln und Farbenleuchten des Königszuges, der seiner Einholung wartete. Und während auf der Steinernen Brücke, deren Türme und Türmchen von bunten Tüchern flatterten, die festliche Menge der Städter mit Standarten und Fahnen, mit zwei purpurnen Traghimmeln, mit Zinkengeschmetter und Pfeifenklängen dem König entgegenzog, streckten auf der Schiffslände die vielen Tausende des zugewanderten, eng zusammengepferchten Volkes in gläubiger Hoffnung jenem fernen Königsgeglitzer die Arme entgegen und schrien immer wieder mit rauh gewordenen Stimmen: „Der König ist kommen, der Kaiser ist da!“ Die Worte verstand man nicht. Doch flehende Sehnsucht war in dem wogenden Gebrüll. Es klang, wie wenn eine riesige Wallfahrtsmenge von Leidenden, Verzweifelten und Besessenen litaneit:

„Allmächtiger, erhöre uns! Allmächtiger, beschütze uns! Allmächtiger, erlöse uns von allem Übel!“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Ochsenkrieg. Zweites Buch.