Fünftes Capitel. - Während Herzog Ludwigs Hauptmann Christoph Laiminger mit seinem Heerhauf seit Wochen die fränkischen Güter des Fritz von Zollern verwüstete, fielen ...

Fünftes Capitel. - Während Herzog Ludwigs Hauptmann Christoph Laiminger mit seinem Heerhauf seit Wochen die fränkischen Güter des Fritz von Zollern verwüstete, fielen entlang allen Grenzen des Landshuter Gaues die Ingolstädtischen Truppen unter Marschall Frauenberger, unter Hauptmann Muracher und dem Pfleger von Wasserburg in Herzog Heinrichs Lande und hinterließen in Hunderten von niedergebrannten Dörfern die Spuren ihrer Wege.

Wie eine laufende Flamme brannte der Krieg an allen Ecken und Enden der bayerischen Herzogtümer auf.


Wilhelm und Ernst von München, der Kurfürst von der Pfalz und Johann von Neumarkt – die Herr Heinrich zur Hilfe wider den unbequemen Ingolstädter gewonnen hatte – sandten ihre Fehdebriefe an Ludwig im Bart. So standen alle Wittelsbacher im Kampfe gegen diesen Einen ihres Blutes, der durch seine gewalttätige und hochfahrende Art, durch seinen ›französischen Übermut‹, sie alle schon einmal gekränkt, verhöhnt, beleidigt und geschädigt hatte.

Der auflodernde Zorn der Fürsten übertrug sich auf ihre Untertanen. In Städten und Dörfern, in Burgen und Handwerkerstuben, überall, wo Bürger der Wittelsbachischen Herzöge bisher friedlich beisammen gewohnt hatten, ergriffen sie Partei für ihre Fürsten und zerschlugen einander die Köpfe unter dem Geschrei: „Hie Ludwig! Hie München! Hie Heinrich!“ Auf den Universitäten zu Prag, Wien, Heidelberg und Leipzig stachen in den Bursen die Studenten einander die Rapiere in den Leib, auf den Märkten der deutschen Städte prügelten sich die Kaufleute und ihre Kunden, die Viehtreiber und Karrenführer.

Wie die Fürsten, so wechselten die ihnen verbündeten Ritter und Städte ihre Fehdebriefe. Mehr als fünfhundert Lehensherren der Münchener Herzöge und des Landshuters begannen Krieg wider Ludwig. Und fast ebensoviel ritterliche Freunde des Ingolstädters, der nach seinen Werbebriefen Zuzug auch aus Frankreich, Ungarn, Italien, Holland und Dänemark bekam, kündeten dem Herzog Heinrich und den Münchener Fürsten den Frieden auf. Die Briefe, die man noch immer wechselte, während das Morden und Brennen schon begonnen hatte, flossen über von Hohn, Verdächtigung und Haß. Die gegenseitigen Beschimpfungen häuften sich wie bei den Homerischen Helden vor dem Zweikampf.

Da seit der unglückseligen Erbteilung der bayerischen Lande die Besitzungen der Wittelsbachischen Fürsten in Flicken und Lappen die Länder des Gegners durchsetzten, stand Nachbar gegen Nachbar im Kriege: Burghausen gegen Wasserburg, Landshut gegen Freising, Tölz gegen München, Schrobenhausen gegen Pfaffenhofen, Traunstein gegen Rosenheim, Kufstein gegen Marquartstein. Durch Überredung gewonnnen oder durch Vorteil verlockt, durch Drohung eingeschüchtert oder durch Geld bestochen, fielen die Lehensleute von ihren Herren ab, innerhalb der Städte entzweite sich Volk und Regierung, der Bruder schlug gegen den Bruder, Vater und Sohn wurden Feinde.

So standen auf allem Boden, der bayerisch hieß, von der Ulmer Gegend bis zum Böhmerwald und bis Linz hinunter, vom Main bis nach Tirol, die Bewohner schwesterlicher Erde mit Feuer und Eisen, mit Galgen und Pulver gegeneinander im Kampfe, und es entbrannte ein Krieg verwandter Stämme, schmachvoll und schauerlich, wie er unerhört war in der Geschichte eines von gleichem Blute durchströmten Volkes.

König Sigismund, der in Sorge geriet um die Säulen des Reiches, mahnte durch Briefe und Gesandte zum Frieden, bat mit herzlichen Worten, wurde streng und drohte mit der Reichsacht. Und Rom, das seine Klöster und Kirchen gebrandschatzt und geplündert sah, rückte mit Kirchenbann und gräßlichen Strafen der Ewigkeit wider die vom Zwietrachtsteufel besessenen Fürsten aus. Aber keiner von den Wittelsbachern hörte auf die Stimme des deutschen Königs, keiner auf den Schrei des Papstes. Herzog Heinrich wie Herzog Ludwig schworen mit heiligen Eiden, das dem König gegebene Friedensgelöbnis unverbrüchlich gewahrt zu haben; der königstreue Ingolstädter schob die Schuld auf den ›heimtückischen‹ Landshuter, der königstreue Landshuter schob sie auf den ›allzeit gefährlichen‹ Ingolstädter, einer beschuldigte den anderen des schnöden Friedensbruches, und jeder beteuerte, daß er wider Willen gezwungen wäre, sich seiner bedrohten Haut zu wehren. Nur die Münchener Herzöge konnten mit gutem Rechte sagen: „Wir müssen als redliche Leute die Treue wahren, die wir dem Vetter Heinrich zugelobten.“

Von allen Fürsten, die in diesen Krieg verwickelt wurden, hörte nur ein einziger auf die Friedensmahnungen des deutschen Königs: Friedrich von Zollern, der Burggraf von Nürnberg und neue Herr der ehemals Wittelsbachischen Mark Brandenburg, mit der ihn König Sigismund auf dem Konzil von Konstanz für treue Dienste belehnt hatte. Obwohl ihn Ludwig mit Pikenstößen reizte und brandschatzend seine fränkischen Lande verwüstete, zögerte Friedrich noch immer, in den Kampf zu treten. Jeder Werbung seines Schwagers Heinrich von Landshut entzog er sich. „Was kümmert mich euer Vetterngezänk, ich will in Frieden meinen jungen Acker bauen.“ Er blieb in seiner Mark, machte aus der Ferne noch einen Versuch zur Herstellung des Friedens in den bayerischen Landen, vereitelte einen Anschlag seiner Verbündeten auf den Ingolstädter und bot ihm die Hand zur Versöhnung. Sein Dank war ein mit Hohn und Schimpf beladener Brief, der ihn des Raubes am Hause Wittelsbach beschuldigte, ihn die brandenburgische Elster nannte und mit den Worten begann: „Du kürzlich hochgemachter Markgraf!“ Da schob auch Fritz von Zollern die Faust in den eisernen Handschuh und erschien im Felde. Mit raschen Stößen warf er dem Ingolstädter die Feste Parkstein nieder und eroberte die Burgen von Hilpoltstein, von Weiden und Floß.

Was Herzog Ludwig hier im Norden verlor, das ließ er seine Gegner südlich der Donau in sinnloser Verwüstung büßen. Während dieses roten Herbstes wurden die bayerischen Lande durch Eisen, Feuer und Raub so schwer geschädigt, daß innerhalb weniger Monate mehr Leute verdarben und arm gemacht wurden als sonst in hundert Jahren. Immer wieder das gleiche: fallende Burgen, stürzende Mauern, geplünderte Städte, brennende Dörfer, verwüstetes Feld, geschändete Weiber, verstümmelte Mannskörper ohne Augen und Ohren, ohne Nasen und Lebner, große Lachen geronnenen Blutes und verwesende Leichname von Mensch und Tier, die zu begraben der Krieg keine Zeit gefunden. In allen bayerischen Landen begann es zu riechen, wie es beim Gadnischen Hallturm gerochen hatte. Und während das Volk verdarb, ohne Obdach war und hungerte, füllte die Ritterschaft jede Kriegspause mit Turnier und Festen, mit Tanz und Frauenspiel.

Des Brennens und Mordens wurde weniger, als bei Anbruch der Winterkälte die Kinnhaut kleben blieb an der stählernen Halsberge und die blauen, starren Finger anfroren an den Schwertgriff.

Nachdem die Truppen bis zur Adventzeit im Felde gelegen, waren Waffen und Harnisch verdorben, die Kleider am Leib der Kriegsleute verfault, das Sattelzeug der Gäule von Nässe und Frost zermürbt.

Fast alle Dorfleute der bayerischen Lande mußten sich während des Winters in den Städten und Burgen halten. Außerhalb der Stadtmauern stand oft zwölf und fünfzehn Meilen weit kein Dorf und kein Haus mehr. Zwischen dem Main und den Bergen war an Dörfern ein halbes Tausend geplündert und niedergebrannt. Und manches Dorf war so ganz verderbt, daß weder Haus noch Kirche mehr übrig waren.

In den Städten, Burgen und umwallten Märkten, wo sich die Flüchtlinge in gedrängten Massen bei Not und Hunger zusammenhuschelten, brachen fressende Seuchen aus. Unter Armut, Leiden und Hilflosigkeit verzagten die Menschen und wurden des Lebens müde. Sie sagten: „Sterben ist das Beste.“ Nur die Siechenträger und Totengräber hatten Erntezeit, und die Pulvermüller, Schwertfeger, Pfeilschäfter und Waffenschmiede fanden bei ruheloser Arbeit reichlichen Verdienst. Das stählerne Klopfen bei Tag und Nacht war wie der fiebernde Pulsschlag dieses Winters in allen Städten und Burgen.

Im schmelzenden Schnee des Febers jagten die Briefreiter durch die verwüsteten Länder, die belebt waren von Dohlenkrächzen und Geierflug. Eine böse Unsicherheit lauerte bei den schwarzen Resten der niedergebrannten Dörfer. Gauner, kranke Weiber, Bettler und Ausgestoßene sammelten sich zu Schwärmen des Elends und hausten in den Wäldern. Diebstahl, Raub und Meuchelmord durchtaumelten das Land. Ritterliche Heckenreiter machten gemeinschaftliche Sache mit den niedrig geborenen Räubern. Sogar des Königs Boten wurden auf den Straßen niedergeworfen und beraubt.

Herzog Heinrich verstand es, zwischen Landshut und Burghausen eine Art von Sicherheit aufrechtzuerhalten. An den vielen, die seinem Landfrieden in die Quere gerieten, hatten die entlaubten Bäume neben den niederbayerischen Straßen schwer zu tragen. Herr Heinrich pflegte zu sagen: „Das sind Wölfe. Weg damit!“ Es sah auch sonst im Herzen seines Landes während dieses Winters ein wenig besser aus als anderwärts. Er hatte den Gegner nach Kräften geschädigt, doch immer nach Möglichkeit seine eigenen Leute geschont. Es war eines von seinen klugen Worten: „Wenn alle Bauern erstochen werden, wo nehmen wir andere her, um uns zu ernähren?“

Bei Beginn des lauen Frühlings stand er mit erfrischten, gut bewaffneten Truppen wieder als erster im Feld und berannte die noch winterschläfrigen Burgen seines Gegners. Er wandte sich immer gegen Plätze, deren Bezwingung nur ein mäßiges Opfer an Geld, Zeit und Menschen von ihm verlangte.

Ehe die blauen Veilchen kamen, war von den Bergen bis zum Main der Krieg schon wieder in roter Blüte.

Herr Heinrich – ohne Rücksicht auf seine Verbündeten nur den eigenen Vorteil wahrend – führte diesen Frühlingsfeldzug so vorsichtig und sandte den treuen Vettern nur so bescheidene Hilfe zu, daß die Herzöge von München unwillig wurden und klagten: „Willst du nicht besser beispringen, so müssen wir von diesem Kriege abstehen.“

Mit Heinrichs sparsamer Hilfstruppe, mit ihren Münchener Bürgern und ihren Oberländer Bauern brachen Herzog Ernst und Wilhelm dem Ingolstädter die Feste Friedberg, die Burgen Schwabeck, Türkheim und Grainsbach und bedrohten die Städte Neuburg und Rain, zwischen denen die Fackeln von hundert Dörfern loderten.

Noch übler als südlich der Donau stand die Sache des von Feinden umkreisten Ingolstädters im Nordgau. Als Markgraf Friedrich die festen Plätze Kirchberg, Monheim und Dingolfing mit dem Schwerte genommen und zur Huldigung gezwungen hatte, mußte Ludwigs Hauptmann Christoph Laiminger nach dem Falle von Lauf bei Fritz von Zollern um einen Waffenstillstand ansuchen.

Herzog Ludwig geriet in eine erbitterte Stimmung. Der Ausgang des Unternehmens konnte bei der Übermacht seiner Gegner nicht zweifelhaft sein. Die Zahl seiner Feinde mehrte sich noch immer, und seine eigenen Leute begannen irr an ihm zu werden. Die kleinen Mäuse verließen das sinkende Schiff. Auch einer von Ludwigs mächtigsten Vasallen, der Abendsberger, fiel von ihm ab und öffnete den Münchener Herzögen seine Burgen. Doch was in Ludwig die strotzende Kraft am gefährlichsten zerbröselte und sein helles Lachen erlöschen machte, war sein begründetes Mißtrauen gegen den eigenen Sohn. Prinz Höckerlein, obwohl er in diesen knirschenden Zeiten Töne von kindlicher Herzlichkeit gegen den Vater zu finden wußte, entwickelte hinter des Herzogs Rücken eine unheimliche Tätigkeit, zog des Vaters Freunde durch goldene Versprechungen an sich und gewann des Herzogs Vertrautesten, den Lautenspieler Nachtigall. Herr Ludwig fühlte das graue Spinnennetz, das da gewoben wurde, und konnte es doch mit seiner starken Faust nicht fassen, nicht zerreißen. Er ließ sich bei Tag und Nacht von seinen roten Einrössern bewachen und genoß keine Speise, ohne daß Prinz Höckerlein die Mahlzeit mit ihm teilte. Das Gefühl der Unsicherheit, seine ruhelose Sorge um Macht und Leben, seine gereizte Laune und sein Jähzorn verleiteten ihn zu Grausamkeiten, die sonst nicht in seiner Art lagen.

Als eine seiner reichsten Städte, Donauwörth, von ihm abfiel und ihm die schweren Steuerlasten mit offener Fehde heimzahlte, zwang er den Bürger Lang, der den Fehdebrief überbrachte, das Pergament mit Schnur und Siegel zu verschlucken. „Du bist kein Gesandter. Du bist ein meineidiger Schuft. Allen deinen Mitbürgern, wenn ich sie fange, soll es ergehen wie dir!“ Dieser leutselige und frohe Fürst, der noch nie in seinem Leben ein Todesurteil unterschrieben hatte, gab den Befehl, dem städtischen Gesandten die Augen auszustechen, die Zunge und den Lebner abzuschneiden und die beiden Hände vom Leib zu hacken.

Als dem Herzog in seiner kostbaren Stube gemeldet wurde, daß es geschehen wäre, deutete er auf den aus Bronze gegossenen Bluthund und sagte im Ekel: „Jetzt bin ich auch wie der! Heraufsteigen zu mir hat sie nicht können, die Laus! Jetzt hat sie mich zu sich hinuntergezogen.“ Beim Auf- und Niederschreiten durch die von Vogelgezwitscher erfüllte Stube sah er in einem Silberspiegel sein Bild, lachte grell und spie es an. Dann plötzlich umklammerte er den Hals seines alten Gleslin, weinte wie ein Kind und bettelte: „Laß ihn töten! Daß er nicht leiden muß!“

Nach diesen Tränen schien die alte Kraft in ihm wieder wach zu werden. Er wehrte sich wie ein Verzweifelter gegen eine Welt in Waffen, verpfändete seine kunstvollen Kostbarkeiten an Juden und reiche Bürger, rüstete ein neues Heer und gewann im Unglück eine Seelengröße, eine Festigkeit und Ruhe, daß auch unter seinen Gegnern mancher Gerechte ihn einen ›herrlichen, preiswerten Fürsten‹ zu nennen begann.

Die Münchener Herzöge – durch Ludwig zum Abzug von Rain und Neuburg gezwungen – wurden immer drängender gegen den Vetter Heinrich, dem sie trotz allem Mißtrauen noch immer die Treue hielten.

Heinrich schickte neue Versprechungen und bundsbrüderliche Briefe, doch keinen Gaul, keinen Spießknecht, keine Büchse, und blieb persönlich dem Feldlager fern, sich entschuldigend mit einem Anfall seiner Krankheit. Durch Kundschafter gut unterrichtet, witterte er mit seiner klugen Nase das Erwachen einer neuen, bedrohlichen Kraft in dem ›Unverwüstlichen zu Ingolstadt‹. Und da hielt er mit Vorsicht das Seine zusammen, und während er am Tage zu Burghausen und seiner pflichtschuldigen Fiebers willen das Bett hütete und erst nach Anbruch der Dunkelheit einen erfrischenden Ausritt unternahm, betrieb er innerhalb seiner Mauern mit Hast und aller Gewalt ein neues Rüsten.

Da wurde ihm zu Anfang des August, in später Nachtstunde, eine Botschaft gebracht, die ihn barfüßig aus dem Bett trieb und zu so wildem Jähzorn reizte, daß sich nun ein Anfall seines Erbübels ganz ehrlich bei ihm einstellte.

Sein Schwager Zollern hatte ihm sagen lassen: „Wehre dich mit eigenen Fäusten deiner Haut, wenn du glaubst, daß du noch immer fechten mußt! Mich erbarmt dieses schönen, deutschen Landes. Und der König will’s. Ich schließe Frieden. Willst du dir raten lassen und nicht den Zorn des Königs wider dich heraufbeschwören, so tue das gleiche! Meinst du es aufrichtig, so will ich Mittler sein zwischen dir und dem Loys.“

Jagenden Puls in den Adern, mit nackten Füßen, nur in einen Mantel gewickelt, tobte Herr Heinrich in den schlecht beleuchteten, schmucklosen Stuben seiner Burg umher, während man den geheimen Rat Nikodemus aus der Stadt heraufholte.

Die Zähne des Herzogs knirschten, die Nägel seiner Finger gruben sich in das Fleisch seiner zarten Fäuste, und die Augen traten ihm vor wie bei einem, den die Angst vor dem Tode rüttelt.

Sein wühlender Haß schon fast erfüllt! Seine Sehn sucht schon fast zur Wahrheit geworden! Das erdürstete Glück schon in den Händen! Jener ›Starke‹ mit der gebeugten Stirn und dem erloschenen Lachen schon fast in den Staub gedrückt! Und jetzt alles nur ein Halbes! Alles zunichte, allem die Kehle durchschnitten. Und ihm, diesem Schwachen und Kleinen, war wieder das Schwert aus der Hand gewunden – wie damals auf der dunklen Gasse zu Konstanz!

In der großen, vielfenstrigen Stube, vor deren Scheiben eine schöne Sommernacht mit funkelnden Sternen blaute, setzte sich Herr Heinrich unter keuchenden Atemzügen, die flehende Mahnung seines Kämmerers mißachtend, an den Tisch und begann zu schreiben.

Als Nikodemus kam, war die Antwort an Fritz von Zollern vollendet. Und Herr Heinrich war ruhig. Er reichte seinem geheimen Rat die Botschaft des Schwagers. „Lies!“ Lächelnd schlüpfte er in die warmen Schlafschuhe, die ihm der Kämmerer gebracht hatte, und zog seinen schwarzen Mantel fester um das Hemd.

Nikodemus, als er gelesen hatte, sah den Fürsten erschrocken an. Der lachte leis und gab ihm die schief gekritzelte Antwort zu entziffern.

Man sah es dem Kahlköpfigen an den Augen an, daß er den Inhalt dieses Blattes nicht begriff.

„Wie heißt der letzte Satz?“ fragte Herr Heinrich.

Nikodemus las: „So tue in deinem und meinem Namen, was ich als notwendig, hilfreich und redlich erkenne.“

Mit heiterer Spannung in den fieberglänzenden Augen fragte der Herzog: „Das verstehst du doch?“

„Nicht ganz.“

„Dann mußt du dich noch ein wenig besinnen. Treue Diener müssen die Gedanken ihres Herrn erraten. Siegle das Pergament! Und fort damit! Der Bote meines deutschen Schwagers wartet.“ Herr Heinrich hatte das ›deutsch‹ wie ein spottendes Wort betont. Nun trat er zu einem Fenster hin. Da draußen dämmerte ein klarer Morgen. „Schön Wetter wird! Dieser gute König, der in Eilmärschen zu uns bösen Vettern kommt, um uns friedsam zu machen, wird feines Reisewetter haben.“ Ein kurzes Lachen. „Ob Herr Sigismund, der sich um unseren Frieden bemüht, nicht besser Ursach hätte, den Frieden in seinem Ehebett herzustellen? So viele Hirsche habe ich in meinem Leben noch nicht geschossen, als Königin Barbara ihrem hohen Gemahl schon durch das schöngesalbte Lockenhaar springen ließ.“

„Auch Simson wurde betrogen.“

„Dann bin ich lieber ein Schwacher. Aber wahr ist’s, lernen kann man von diesem König. Er liebte zu sagen: ›Wer nicht zu heucheln weiß, versteht nicht zu regieren.‹ Ein gutes Wort! Seiner hab ich mich heut erinnert. Die Weisheit des Königs wird mir Früchte bringen. Gott soll’s wollen.“ Während Herr Heinrich zur Türe ging, glitt sein heiterer Blick über die Spruchbänder an der weißen Mauer. „Heut hab ich an den Loys gedacht! Jetzt leg ich mich ins Bett. Guten Morgen, Nikodemus!“ Dem Kämmerer befahl er: „Ruf mir den Medikus!“ Unter seinem Mantel schauernd, trat er in den kahlen Korridor hinaus.

Vor der Schlafstube des Herzogs hielten zwei Harnischer mit blankem Eisen die Wache – ein langer, sehniger Mensch mit einer schweren weißen Narbe über das sonnengebräunte Gesicht herunter; der andere ein klobiges Mannsbild in wuchtigem Panzer, mit steinernen Zügen und heißen Augen. Diese beiden schienen bei Herzog Heinrich in hoher Gunst zu stehen, da er ihnen seinen Schlaf und sein Leben anvertraute. Er nickte ihnen freundlich zu. Und zu dem Mageren mit der schweren Narbe sagte er lustig: „He, du, mein Nüremberger Galgenvogel? Bist du gesund?“

„Nit ganz, Herr!“ Der Harnischer lachte, doch etwas Mürrisches war im Klang seiner Stimme. „Faule Zeit vertrag ich nit recht.“

„Dann wirst du gesünder werden.“ Herr Heinrich, sich streckend, legte dem anderen die Hand auf die eiserne Schulter. „Und du, Ramsauer? Warum dürsten deine Augen so heiß?“

„Weil ich sterben muß, wenn ich nit bald zu schaffen krieg.“

Der Herzog betrachtete die zwei. „Hätt ich tausend wie ihr beide seid, so würde Gott immer wollen, was mir wohlgefällt.“

In einem Schüttelfrost fingen ihm die Zähne zu schnattern an. Dabei kicherte er vergnügt vor sich hin: „Arbeit kommt. Wir kleinen Läuse wollen einen Stier umschmeißen.“

Es erschien der Leibarzt mit dem Heiltrank; hinter ihm zwei Diener mit der Essigschüssel und den Tüchern.

Bei der Schlafstubentüre des Herzogs gab es ein ruheloses Hin und Her. Im Nachtkleide kam die Herzogin Margarete gelaufen, Schreck in den Augen, und wollte eintreten. Aus der Stube hörte man die schnatternde Stimme des Herzogs: „Sei verständig, Gretl! Denk an das junge Leben in dir und bleib in deinem Bett. Und weck mir den Jungen nicht auf. Der soll schlafen. Hörst du?“

Links und rechts von der Schwelle standen die beiden Harnischer wie starre Eisenbilder. Solange sie auf Wache waren, durften sie nicht reden miteinander. Doch ihre Blicke hielten Zwiesprache. In dem Schwergepanzerten, unter dessen Eisenschaller das völlig weiß gewordene Haar herausquoll, schien eine wilde Freude zu wühlen; sie verzerrte sein steinernes Gesicht und war wie ein Brand in seinen Augen. Aus dem Blick des anderen, über dessen sonnverbranntes, in Leiden hager gewordenes Gesicht die schreckliche Narbe lief, sprach eine flackernde Ungeduld, in der sich Hohn und Sorge miteinander mischten.

Als der Morgen hell wurde, rasselte eine Ronde von sechs Harnischern, die ein ritterlicher Hofmann des Herzogs führte, durch den kahlen Gang herauf. Die zwei bei der Türe wurden abgelöst; dann die zwei alten Doppelsöldner vor dem Schlafzimmer der Herzogin und die zwei Gepanzerten vor der Stube des fünfjährigen Prinzen Ludwig.

Die Ronde der Abgelösten klirrte in den Schloßhof hinunter. Hier war es ruhig. Doch Hof- und Wehrgänge waren so dick mit Spießknechten, Armbrustern und Faustschützen besetzt, als wäre ein Angriff in jeder nächsten Stunde zu besorgen. Vor dem grauen Schatzturm – den Herr Heinrich den ›Sieger‹ nannte – bewachten vier Gepanzerte die schwer mit Eisen beschlagene Türe. Junge Weibsleute gingen mit leisem Schwatzen umher und verteilten an die Soldleute die Morgensuppe und den Frühwein.

Über eine Zugbrücke, unter der ein faules Wasser den weißblauen Himmel des erwachenden Tages spiegelte, kam die Ronde in den zweiten Burghof. Das gleiche Gewimmel von Waffen wie im Hof des Schlosses. Und ein Schwarm von Handwerksleuten kam zur Arbeit. Schweres Balkenfachwerk umhüllte den noch unvollendeten Hunds-Törring; der gewaltige Turm war bis zur dritten Schartenreihe gewachsen und sollte vollendet stehen, ehe der Winter käme.

Im dritten Burghof, wo die neugegossenen Hauptbüchsen Maul gegen Maul in zwei Reihen standen, waren die Schlafhäuser und Turmstuben der Trabanten und Doppelsöldner. Hier ging die Ronde der Abgelösten auseinander.

Die beiden, die vor der Schlafstube des Herzogs gestanden, traten in einen kleinen, alten Turm. In dem dunklen Stiegenraum umklammerte der Ältere den stahlgeschienten Arm des anderen. Eine rauhe Stimme: „Was uns der Herr vertraut hat, muß man verschweigen. Auch vor dem müden Buben da droben.“

„Ich hätt mir den Schnabel eh nit zerrissen!“ gab der andere mürrisch zurück und wollte über die steile Treppe hinauf.

„Bleib!“

„Was willst?“

„Wer kann sagen, was kommt? Ich möcht nit haben, daß auch du noch saufen mußt – von meiner Treu. Du! Unter den Meinen der Beste. Besser, als ich selber bin. Und ich sah, du leidest. Ich mein auch, daß ich weiß, warum.“

Ein hartes Lachen. „So? Meinst? Könnt auch sein, daß du dich irren tust.“

„Ich irr mich nit. Willst du frei sein, so bist du’s. In meiner Seel wirst du bleiben, so lang ich leb. Jetzt kannst du dir noch allweil ein neues Leben machen. Das meinig ist aus, ich weiß nit, wann. Sobald der Streich gefallen ist, auf den ich wart! Ich mag dich nit mit hinunterreißen. Du sollst weiterschnaufen.“

„So? Weiterschnaufen? Da mußt du mich bleiben lassen. Magst du mich nimmer als Knecht, so laß mich bleiben als des Buben Bruder. Dich und den Buben hab ich. Sonst nichts. Das mußt du mir lassen. Komm! Auf der finsteren Stiegen wispern? Wir sind doch keine Liebesleut. Tät ich nit wissen, daß du nüchtern bist wie der Schloßkaplan vor der Frühmess’, so tät ich glauben: Du bist voll und hast einen Jammer. Komm! Und mach keinen Lärm! Der Bub muß Ruh haben. Die braucht er wie ein kranker Vogel die Federn. Tu fürsichtig auftrappen!“

Runotter nahm die Eisenschaller vom Kopf, legte den klirrenden Arm um den Nacken des Malimmes und preßte die Stirn an seine zerhackte Wange.

Vorsichtig stiegen sie über die drei steilen Treppen hinauf, die wie schmale Leitern waren.

Eine kleine Turmstube mit zwei Betten; drei Holzstühle und ein plumper Tisch bei dem winzigen Fenster; zinnernes Geschirr in einer Rahme; und an den Holznägeln der Mauer hingen die Kleider und das Waffenzeug.

Während Malimmes neben dem Herd die Rüstung lautlos von sich herunterschälte, trat Runotter in die Helle des Fensters. Mit den weißen, dünnen Haarsträhnen sah er aus wie ein Siebzigjähriger, der noch den Körper eines kraftvollen Mannes hat. Er legte jedes Wehrstück, das er von sich abtat, auf sein Bett hin. Malimmes kam mit nackten Füßen aus dem Herdwinkel und half. Dieses Jahr des Burgenbrechens, des Mordens und Brennens, der Gefahr und Mühsal, hatte den Bauernsöldner äußerlich kaum verändert. Nur ein bißchen mager war er geworden, und in dem sonnverbrannten Gesicht war die große Narbe jetzt wie ein weißer Kreidestrich. Noch immer war das Lachen um seinen Mund, doch mit einem Zug von Hohn und Starrheit. Und ein müdes Leiden dämmerte in seinen Augen.

Runotter ging auf die niedere Kammertüre zu.

Rasch fragte Malimmes: „Wär’s nit besser, du tatst dich schlafenlegen?“

„Ich muß das Kind sehen.“

„Höi, Bauer! Ich müßt viel! Und tu’s nit.“

Runotter zögerte. Dann griff er hastig nach der Klinke und trat in die Kammer. Ein Raum, der gerade ausreichte, um ein Bett, einen kleinen Tisch und einen schmalen Kasten zu fassen. Das Fenster ging nach Osten, von wo die kommende Frühsonne ein glimmerndes Feuerband über die Balkendecke hinwarf. Auf dem Gesimse standen drei Töpfe mit rotblühenden Blumen; sie sahen in der ersten Morgenglut der Sonne wie kleine, stille Flammen aus. Über dem Bett war ein plumpes Kreuzbild, mit Blüten und Grün geschmückt. Auf einem Sessel lag die bunte Kleidung eines Jungsöldners.

Jul, in einen braunen Mantel gewickelt, ruhte schlafend auf dem Bett, mit den Fäusten vor den Augen. Das dichte, langgewordene Haar umschleierte die heiße Wange und verhüllte die Schultern. Während Runotter neben dem Bette stand, schlief Jul noch immer weiter; doch als der schwere Mann die Kammer lautlos verlassen wollte, fuhr Jul mit dem Kopf und dem rieselnden Schwarzhaar vom Kissen auf. Dieser Kopf mit diesem Haar und den entrückten Augen war von ergreifender Schönheit, lieblich und dennoch erschreckend. Das strenge, schmale, sonngebräunte Knabengesicht hatte noch nie so deutlich den Zügen eines Weibes geglichen wie jetzt nach diesem Jahr der Reiterplage, nach dem Anblick alles kriegerischen Grauens, nach dem Miterleben des gehäuften menschlichen Jammers. In den großen, blauen Augen, die im Erwachen ratlos ein Ziel der Ruhe zu suchen schienen, brannte ein seelenkranker Blick, der wie das Träumen einer ekstatischen Nonne war.

„Gottes Gruß zum Morgen, Kind!“

Juls Augen, die noch immer nicht völlig erwachen wollten, irrten über die Mauern des kleinen Raumes hin und blieben verstört an dem gebeugten Manne haften. „Kommt schon wieder ein Tag?“ Das klang, wie die Rettungslosen fragen: „Kommt der Tod?“

Bekümmert sagte Runotter: „Kind! Die Sonn ist da. Siehst du’s nit?“

Stumm schüttelte Jul den Kopf, und eine gramvolle Müdigkeit veränderte sein Gesicht.

„Ich bin schuld.“ Runotter atmete schwer. „Der ander hat wieder recht gehabt, ich hätt deine Ruh nit stören sollen. Geh, tu noch weiterschlafen!“ Er wollte die Kammer verlassen.

Da streckte Jul die zitternde Hand und flüsterte mit der Angst eines Kindes, das sich vor Gespenstern fürchtet: „Vater!“

Runotter kam, setzte sich auf den Rand des Bettes und faßte die glühenden Hände: „Um Gott, was ist denn mir dir?“

Und Jul, wie im Fieber: „Vater! Tu mich anschauen! Was siehst du an mir?“

„Was soll ich denn sehen?“

„Meine Stirn schau an! Siehst du da nicht, was anders ist wie sonst?“

„Du bist wie allweil.“

Ein tiefes Atmen, ein dumpfes Besinnen. Und dann die hastige Frage: „Vater? Sag mir, ob das sein kann?“

„Sein kann alles. Was meinst du?“

„Ob das sein kann? Daß man ein zwiefacher Mensch ist und ein doppeltes Leben hat? Das eine im traurigen Wachen und das ander – ich weiß nit, wann? Und ich weiß nit, wo?“

Runotter erschrak. Bevor er antworten konnte, befreite Jul. die zitternden Hände, warf sich auf das Lager hin und preßte unter ersticktem Schreikrampf das Gesicht ins Kissen.

Hilflos sah Runotter diesen zuckenden Körper im braunen Mantel an und ballte die Fäuste. „Aschacher? Wo bist du?“

Tappende Sprünge. Mit nackten Füßen, halb entkleidet, stand Malimmes am Bett, faßte den Jul an beiden Schultern, rüttelte ihn heftig und befahl: „Wie, Bub! Sei gescheit! Flink, steh auf!“ Er lupfte ihn aus dem Bett heraus und stellte ihn aufrecht hin. „Jetzt tu dich waschen! Fest! Der Tag wird schön. Wir zwei, wir reiten ein paarmal in der Sonn um die Stadt herum.“ Malimmes packte den Runotter am Arm und zog ihn aus der Kammer. „Komm, Bauer! Ich koch derweil, bis der Bub sich fertig macht!“

Gewaffnet, in bunten, schmucken Kleidern und im Funkelglanz der Stahlplatten, ritten Malimmes und Jul um die siebente Morgenstunde zum Tor hinaus. Der Falbe und der Jngolstädter schmiegten sich im Traben gegeneinander, und immer scherzte der eine mit der Schnauze nach dem anderen hin. In der Sonne schimmerte das Fell der Gäule, das am Hals und auf den Hinterbacken von vielen, weißgrauen Narben durchrissen war. – –

– Auf der gleichen Straße war im Grau des Morgens der Bote des Brandenburgers mit starkem Geleit davongeritten, gegen die Donau hinunter.

Fünf Tage später jagte dieser Bote von Nürnberg nach Ingolstadt.

Als er um die Mittagsstunde bei Herzog Ludwig einritt in den von heiterm Lärm und buntem Leben erfüllten Schloßhof, mußte er verwundert dreingucken, mußte lachen, mußte an Burghausen denken. Was er dort gesehen hatte, war die wache, schweigende, bis an die Zähne bewaffnete, des Angriffs harrende Kraft. Und hier – wo er das Elend und die Trostlosigkeit des Besiegten zu schauen erwartet hatte – hier lärmte und jubelte in der Mittagssonne aller farbige Leichtsinn des Lebens. Da war ein fröhliches Gewimmel von Jägern und Falknern, von huschenden Windspielen und kläffenden Jagdhunden, von scharlachfarbenen Einrössern und ritterlichen Herren in reichem Hofkleid, von Gauklern, Musikanten und geschmückten und geschminkten Weibern. In den großen Hallen, die den Hof umgaben, waren Tische zum Mahl gestellt. An gesonderten Tafeln hatten jene Fremdländer, die zu Herzog Ludwig gekommen waren, um Ritterschaft zu suchen, sich landsmännisch zusammengetan. Während die Tafelmusik den Lärm durchschrillte, wurde an dem einen Tisch französisch geschwatzt, am anderen italienisch; hier flämische Laute, dort das wunderliche Wortgesprudel der Ungarn. In einer Ecke der Halle saßen die Edelleute der Salzburgischen und Berchtesgadnischen Hilfstruppe.

Neben dem mürrisch dreinschauenden Hauptmann Hochenecher pokulierte schwatzlustig der junge Sigwart von Hundswieben mit dem Chorherrn Jettenrösch. Der Krieg und das emsige Suchen nach Ritterschaft hatte die beiden so sehr verwildert, daß von dem geistlichen Stande, dem sie angehörten, nimmer viel an ihnen zu merken war. Den zwei vergnügten Freunden gegenüber hielt ein Fünfzigjähriger eine hübsche, kichernde Weibsperson auf den Knien und tuschelte ihr Spaße ins Ohr, über die auch dieses geschminkte Laster noch zu erröten drohte. Er war wie ein eitler Jungherr gekleidet, obwohl ihm der zierlich gestutzte Knebelbart schon zu ergrauen begann; die blauroten Äderchen des Trinkers überkräuselten seine Wangen, und in den grauen Augen glänzte eine freche Lustigkeit. Es war der Chiemseer Chorherr Hartneid Aschacher, der vor neunzehn Jahren aus dem Stift zu Berchtesgaden hatte verschwinden müssen.

Einem jungen, sonngebräunten, ernstblickenden Kriegsmarine, der über schmuckloser Kleidung den spiegelblanken Brüstling einer flämischen Rüstung trug, schienen die Tafelspäße des Chiemseers zu mißfallen. Schweigend erhob er sich vom Tisch und trat aus der kühlen Halle in den sonnigen, von heiterem Lärm erfüllten Hof hinaus. Bei raschem Gange knappte er ein bißchen mit dem linken Bein.

„He, Someiner!“ rief der Chorherr Jettenrösch. „Wohin denn?“

„Laß ihn laufen!“ wehrte der junge Hundswieben. „So ein muckischer Spielverderb! Der tät besser nach Burghausen taugen als nach Ingolstadt.“

Lampert, der diese Worte noch gehört hatte, drehte das Gesicht, kam zurück und sagte ruhig: „Hundswieblin! Jetzt sind wir des Herzogs Leut und haben kein Recht über uns. Sagst du aber ein zweites Mal so ein Wort, so denk ich nimmer, sondern schlag dich mit der Faust unter den Tisch hinunter.“

Der junge Hundswieben wollte vom Leder ziehen. Aber Jettenrösch, während Hartneid Aschacher lustig hetzte, faßte den Erbosten am Arm. Und Hauptmann Hochenecher nahm Lamperts Partei und sagte: „Recht hat er. Das ist ein Mensch. Wo die Ferken schmatzen, ist ihm nit wohl. Mir auch nit.“ Er hängte sich in Lamperts Arm und verließ mit ihm die Halle.

Hundswieben und Aschacher fingen zu lärmen an. Ihr Geschrei ging unter in dem spannungsvollen Aufruhr, den der Eintritt des brandenburgischen Boten er regte.

Um die Mittagsstunde hörte man in Herzog Ludwigs Stube, die während der letzten Wochen minder kostbar geworden war, nach langer Zeit zum ersten Male wieder jenes helle, kräftige Lachen. Ganz so hell und fröhlich wie früher klang es freilich nickt. In der erlösenden Freude, die da gekommen war, bitterte auch ein Tropfen Demütigung und Ärger. Aber es war doch ein Lachen, bei dem der alte Gleslin mit frohem Verwundern aufblickte. Der Lautenspieler Nachtigall unterbrach die kunstvolle Weise, die er im Erker klimperte; und weil er seinem Fürsten eine wühlende Gedankenarbeit ansah, verhängte er die Käfige der zwitschernden Vögel; die kleinen Sänger wurden stumm, und da war nun ein wunderlich bedrückendes Schweigen in der Stube.

Prinz Ludwig, der in einer Fensternische saß und an den Fingernägeln biß, sah den froherregten Vater an und wurde blaß bis in die Halskrause. Seine Augen forschten, während er langsam den mißgestalteten Körper aufrichtete. Lächelnd machte er ein paar von seinen wippenden Käferschritten gegen den Herzog, der dem alten Gleslin das Pergament des Brandenburgers über den Tisch hinüberreichte: „Gleslin? Wie gefällt dir das?“ Wieder lachte Herr Ludwig.

Mit zärtlichem Augenaufschlag lispelte der bucklige Knabe: „Mein geliebter Vater scheint Botschaft er halten zu haben, die gut ist?“

„Ja, mein Honigwürmchen!“ erwiderte der Herzog, halb heiter, halb in Zorn. „Diese Botschaft ist für mich so gut, daß sie dich schwermütig machen könnte. Drum verschweig ich sie dir. Wolltest du nicht heute mit dem Sperber reiten? Es soll dir gestattet sein.“ Der Prinz lächelte, während in seinen Mundwinkeln das Zucken eines leidenden Kindes war. „Die Sonne brennt. Mein Sperber ermüdet leicht in der Hitze. Ich will warten auf einen kühleren Tag.“ „So tu, was du willst!“ Der Herzog deutete nach der Tür. „Ich gebe dir Urlaub.“

Stumm, den großen Kopf zwischen die gekrümmten Schultern ziehend, wippte Prinz Höckerlein durch die Stube. Auf der Schwelle, schon halb verborgen von den Brokatvorhängen, drehte er sich beim Komplimentieren wie ein ungeschickter Tänzer und warf dem Lautenschläger Nachtigall einen funkelnden Blick zu. Herr Ludwig, der diesen Blick nicht sehen konnte, sagte hart: „Gott erlöse uns von allem Übel!“ Draußen vor der Türe knurrten die beiden Doggen. „Hörst du, Gleslin? Sie hassen ihn.“ Er tat einen scharfen Pfiff. Lärmend kamen die zwei großen Hunde in die Stube gefahren und sprangen mit Gewinsel an der hohen Gestalt des Herzogs hinauf. Er liebkoste ihre schönen Köpfe. „So! Jetzt legt euch wieder! Ihr meine Getreuen!“ Die Bracken, als hätten sie jedes Wort ihres Herrn verstanden, gingen Seite an Seite und mit ruhigem Schritt aus der Stube. In den Augen des alten Gleslin war ein tiefer Kummer. Was er da zwischen Vater und Sohn hatte spielen sehen, ließ ihn fast des wichtigen Pergamentes vergessen, das er zwischen seinen dürren, zitternden Händen hielt. Der Herzog mußte nochmals fragen: „Also? Wie gefällt dir das?“

Gleslin sah das Blatt an. Erst nach einer Weile konnte er antworten: „Herr, das ist die Rettung.“

„Das ist mehr! Nicht nur die Rettung aus meiner Klemme. Auch ein Wegweis zu neuem Aufstieg. Es wird mir hart, dir einzugestehen, daß du recht hattest, damals, als ich losschlug wider deinen Rat. Aber Wahrheit geht durch alle Greuel, ohne den Saum ihres Kleides zu beschmutzen. Ja, Gleslin, er ist ein Starker. Jetzt weiß ich, daß er auch gut ist. Drum mußte er mich besiegen, der ich stark war und bösartig bin. Ich will lernen von ihm.“

Ein Aufatmen hob die Schultern des Greises, während Herzog Ludwig nach dem Pergamente griff, um wieder zu lesen, was seine Rettung war.

Eine kurze Botschaft: Friedrich von Zollern trug sich als Mittler zwischen Loys und Heinrich an, der es redlich meine und eine Verständigung zwischen Ingolstadt und Landshut als notwendig und hilfreich erkenne. Die Botschaft schloß mit den Worten: „Ehe wir handeln wegen des anderen, wollen wir das Unsere reinlich in Ordnung bringen. Ich biete dir abermals die Hand zum Frieden. Willst du?“ Herr Ludwig antwortete: „Ich will nicht. Aber ich muß. Du bist der Stärkere.“

Den reichbeschenkten Boten, der diese Worte nach Nürnberg davontrug, begleitete des Herzogs Vizedom Brunorio von der Leiter, um mit Zollern den Frieden abzuschließen und wegen der Sühne zu verhandeln, die Herzog Heinrich für seine meuchlerische Tat von Konstanz leisten sollte. Gegen die sechste Nachmittagsstunde ritten sie mit verschwenderisch ausgestattetem Geleit davon. Außer dem Herzog, dem alten Gleslin und dem getreuen Nachtigall wußte niemand zu Ingolstadt, welche Botschaft da getragen wurde. Wieder glänzte ein goldroter Abend durch die Scheiben des Erkers herein, in dem der Lautenspieler seine klingende Kunst erwies. Herzog Ludwig, während er rastlos durch die Stube wanderte, mußte Musik hören, um des frohen Aufruhrs Herr zu werden, der ihn erfüllte, und um die wirbelnden Pläne dieser Stunde zu ordnen. Was jetzt vor ihm lag, war neues Leben, neue Macht. Das wiederholte Friedensgebot des deutschen Königs? Die mit der Hölle spielenden Drohungen des päpstlichen Legaten Branda? „Gleslin? Sind das Dinge, die mich bezwingen? Das deutsche Königtum ist ein leerer Sack. Laß ich Gold hineinschöpfen, so kann ich mich draufsetzen. Und die Hölle ist eine zweifelhafte Sache. Da spar ich mir die Neugier auf eine spätere Stunde, die alle Nüsse knackt. Jetzt leb ich wieder. Und so lang ich lebe, will ich mit festen Füßen auf meiner Erde stehen. Jetzt hab ich nur noch einen Feind, der mir Sorge macht. Meinen Sohn und Erben!“ Herr Ludwig sah zur Türe hin. „Diesen Honigwurm muß ich in eine Wabe setzen, die er härter als Stein und Eisen finden soll! Dann will ich wider die minder Gefährlichen tun, was ›notwendig und hilfreich‹ ist – wie diese kleingewordene Laus von Burghausen sagt.“

Gleslin, der die Gedanken seines Herrn erriet, begann in Sorge zu warnen, noch ehe der Herzog den keimenden Plan dieser Stunde deutlich ausgesprochen hatte: gegen die Vettern zu München, die ihn bitter bedrängt und schwer geschädigt hatten, alle Reste seiner Macht zu einem schnellen und vernichtenden Schlag zu sammeln, jetzt, da er durch den Frieden mit Fritz von Zollern von seinem gefährlichsten Gegner im Rücken erlöst war und auch des anderen ledig wurde, der untätig zu Burghausen saß und ängstlich um seinen dünnen Hals zu feilschen begann.

„Herr! Herr!“ jammerte Gleslin. „An diese friedsame Untätigkeit zu Burghausen glaub ich nicht.“

„Da magst du recht haben! Eine Laus kann das Beißen nicht lassen, solange sie nicht geknickt wird!“ Herr Ludwig hatte wieder völlig sein frohes Lachen von ehedem. „Drum will ich mich vorsehen und die günstige Stunde nützen, die mir heute kam. Das ist meine Stunde, Gleslin! Vor einem Jahr warst du der Klügere. Das hab ich eingesehen. Heute bin ich es. Und das sollst du begreifen müssen. Nein, schweige! Oder du wirfst mir mit deiner Ängstlichkeit eine neu erstehende, schöne Welt über den Haufen. Jener Kleine von Burghausen möchte Dach sein. Dieses in Treue törichte München ist seine tragende Mauer. Schmeiß ich die Mauer nieder, so fällt das Dach. Dann habe ich Ruhe für immer.“

Gleslin warnte und flehte in der zitternden Schwäche seines Alters.

Doch dieser Lachende wuchs mit jedem Worte fester in seinen neugeborenen Willen hinein. „Ich schlage los, sobald ich viertausend Helme ins Feld stellen kann. Vor meinem Haupthaufen schick ich meinen Verläßlichsten voraus, den Hauptmann Wessenacker. Der soll mit einem Handstreich das gute München nehmen. Da reichen siebenhundert Pferde. Die Zeit hat Rosen für mich, dieweil sie verblühen für die anderen. Ich weiß, das Volk von München grollt mit seinen Herren um der schweren Steuer willen und ist müde des Fechtens. Mir waren die Münchener immer gut. Weil sie gesunde Menschen sind, lieben sie das Starke und Frohe. Sie werden zu mir stehen, sobald der Wessenacker die erste Mauer niederstößt. Das soll geschehen am Tage vor Matthäi. Mein Heiliger, Gleslin, mein Heiliger! Der hält zu mir!“

Dem gewalttätigen Strom dieser Worte stand Gleslin hilflos gegenüber. Mit Tränen in den Augen, keines Wortes mächtig, faßte er den durch die rote Sonne schreitenden Fürsten am Sammetärmel.

Diese körperliche Berührung schien Herr Ludwig übel zu vermerken. Doch rasch bezwang er den aufsteigenden Jähzorn, sah den erschrockenen Greis freundlich an und sagte heiter: „Aber Gleslin! Sei doch nicht wie ein feuchtes Mädel! Du! Ein Mann in trockenen Jahren!“ Er wurde ernst. „Und jetzt ein Ende! Ich hab’s gesagt. Es wird geschehen.“ Vom Blutglanz des Abends umwoben, trat er zum Erker hin. „Nachtigall! Spiel! mir das frohe Liedchen, das ich liebe! Heut soll es mir singen von meinem erneuten Glück.“ Ein feines, gaukelndes Saitengezwitscher. Und während Gleslin auf einen Sessel hinsank und die schwachgewordenen Knie zittern ließ, stand Herzog Ludwig hoch und straff an die Mauerkante des Erkers gelehnt und sah unter gläubigen Träumen hinaus in das rote Feuer des versinkenden Tages.

Noch in der Nacht begann das fieberhafte Rüsten. Unter den Lehensleuten wurde die Rede ausgegeben, Herzog Ludwig, um den deutschen König zu versöhnen, erfülle einen frommen Wunsch des Gesalbten und rüste einen Heerhaufen wider die böhmischen Ketzer, die in drohenden Schwärmen gegen die Ostgrenze der fränkischen Lande herandrängten. –

Eines Tages – der nicht kühl war, sondern eine brennende Sonne über den wolkenlosen Himmel heraufschickte – zog Prinz Höckerlein zur Flugjagd aus, auf der Faust den empfindlichen Sperber, der schon am Morgen vor Hitze schmachtete. Sieben Falkner, denen Herr Ludwig die Jagdpferde versagt hatte, begleiteten den Prinzen als unberittene Jagdgesellen. Und zur Bewachung des ›Honigwurmes‹ ritten auf guten Gäulen sechs rote Einrösser mit aus, unter Führung des getreuen Nachtigall. Der saß auf einem von des Herzogs flinksten Jagdrossen und trug nicht wie sonst die Laute, sondern war gepanzert und hatte eine scharfschießende Armbrust.

Lange vor Abend kam die Jagdtruppe des Prinzen, der in grimmiger Laune zu sein schien, in das Schloß zurück. Der Herzog, als er den Zug erscheinen sah, wurde stutzig. Die Jäger brachten keinen Reiher, auf der Faust des Prinzen fehlte der Sperber, einer von den Falknern war verschwunden, und Peter Nachtigall, der um sein Pferd gekommen, wanderte sorgenvoll hinter den sechs Einrössern einher, die den Prinzen umgaben.

Auf der Treppe trat Ludwig dem Sohn entgegen. Der fing beim Anblick des Vaters zu weinen und zu schreien an, beschuldigte den Nachtigall des heimtückischen Mordes an seinem Sperber und forderte als Sühne, daß man dem Missetäter die Hände vom Leib herunterhacke.

Der Lautenspieler stammelte: „Gnädigster Herr, ich bin unschuldig.“

Da wurde der Bucklige von solchem Jähzorn befallen, daß er Krämpfe bekam, sich in gräßlichen Zuckungen auf dem Boden wälzte und unter gellendem Geschrei mit den Fäusten gegen den Kämmerer Wolfl Graumann und gegen die Lakaien losschlug, die ihn zu seiner Stube trugen.

In den Augen des Herzogs funkelte das Mißtrauen. Er wußte, daß der Honigwurm dieses üble Leiden auch sehr geschickt zu spielen verstand, um einer unbequemen Zwiesprache mit dem Vater zu entrinnen. Stumm klammerte Herr Ludwig die Faust um den Arm des Lautenspielers, zog ihn zu einem Fenster hin und sah ihm forschend in das erblaßte Gesicht.

„Rede! Was war da?“

„Herr, ich bin unschuldig –“

Der Herzog schrie: „Du sollst mir sagen, was geschehen ist.“

„Der Sperber hat wegen der Hitze den Flug verweigert. Wir sind im Wald gelegen, um den kühleren Abend herzuwarten. Der Sperber hat arg geschmachtet. Und weil der gnädigste Prinz sich grob um den edlen Vogel gesorgt hat, hab ich gemeint, man müßte dem Sperber ein Bad geben. Ich selber hab in meiner Eisenschaller das Wasser geholt. Aber mich hat der gnädigste Prinz dem Vogel nit in die Näh gelassen.“

„So?“

„Der Falkner Laitzinger, des Prinzen Liebling, hat den Sperber baden müssen. Und da ist geschehen, ich weiß nit, was. Eh man ein Vaterunser hätt beten können, ist der Vogel umgestanden. Und der gnädigste Prinz, in der ersten Wut, haut mit den Fäusten auf den Laitzinger los. Der will entrinnen. Da zieht der gnädigste Prinz das Waidmesser und will den Buben niederstechen. Und der, mit Geschrei, auf meinen Gaul hinauf!“

„Auf deinen Gaul? Auf den besten?“

„Wohl, Herr! Und davon wie der Teufel!“

„Und du?“

„Ich spring nach meiner Armbrust. Aber da hat schon der gnädigste Prinz mein Schießzeug in Händen –“

„Und fehlt den Buben? Mit jedem Bolz, der in deinem Leder war? Nicht? Nicht? Nicht?“ Herr Ludwig lachte in Zorn.

„Wohl, gnädigster Fürst!“ Der blasse Lautenspieler machte erstaunte Augen. „Sechsmal hat er daneben geschossen –“

„Sechsmal einen Gaul und Reiter fehlen? Der? Und schießt den Spatzen vom Dach herunter, den Fasanengockel aus der Luft!“

„Herr, ich hab mich selber verwundert. Zwei von den Einrössern, die zwei verläßlichsten, hab ich als Hüter bei dem gnädigsten Prinzen gelassen. Mit den anderen bin ich hinter dem flüchtigen Buben hergehetzt –“

„Der verschwunden war?“

Kleinlaut nickte der Lautenspieler: „Wohl, Herr! Und da hat mich der gnädigste Prinz in Zorn beschuldigt, mit dem Wasser in meiner Eisenschaller hätt ich den Vogel vergiftet – daß der Prinz sich ärgern müßt und mein gnädigster Herr was Lustigs zu lachen hätt.“

„Nachtigall?“ Herr Ludwig faßte mit seiner wuchtigen Faust den blassen, zitternden Menschen an der Schulter. „Nachtigall? Bist du falsch?“

„Jesus, Herr –“

„Oder bist du bei deiner hundertmal erprobten Schläue doch so ein Rindvieh des Lebens wie viele Musikanten?“

Der Lautenspieler atmete erleichtert auf und sagte drollig: „Jetzt schimpft der gnädigste Herr, da zürnt er nimmer.“

„Dir? Nein! Mit der Dummheit muß man gütiges Erbarmen haben. Nachtigall?“ Herr Ludwig nahm den Musikanten beim Ohr. „Hast du denn wirklich nicht gemerkt, daß diese ganze Sperbergeschichte ein abgeredetes Ding war? Eine gut gespielte Komödie meines holden Herzkäfers? Mit seinem Liebling Laitzinger? Und daß da eine Botschaft fortging? Welche? Ich kann’s nicht raten. Wohin? Ich weiß es nicht.“ Er lachte über das hilflos verblüffte Gesicht des Nachtigall. „Erschrick nit, mein guter Peter! Laß ihn spinnen, was ihm taugt. Meine Faust ist stärker als seine kleinen, krummen Fäden sind. Er weiß nur immer das Halbe. Und das Beste dieser Tage – das kennen nur ich, der Gleslin und du!“ Der Herzog wurde ernst. „Das ist sicher vor den Fledermauszähnen meines lieben Kindleins.“ Ein kurzes Besinnen in wühlendem Unbehagen. Dann wieder ein Lächeln. „Vielleicht nur eine Weibergeschichte? Kann sein, er knappert in seines Leibes Armut an einem Kuchen, den ich beiseite schob? Und will es verbergen vor mir?“

Rasch flüsterte der Lautenspieler: „Ob’s nicht die rote Bärbel ist, die der gnädigste Herr nach Neuburg verschickt hat?“

„Die? Nein!“ Herr Ludwig wurde heiter. „Die hatte die gradgewachsenen Tiere lieb und konnte nie eine Spinne sehen.“ Dieses Wort schien ihn zu reuen, kaum es gesprochen war. In seinem Gesichte stritt der Ärger über sich selbst mit dem Mißtrauen gegen den Sohn. Einer väterlichen Regung des Augenblicks gehorchend, ließ er den Musikanten stehen und ging mit raschen Schritten durch den Korridor auf die Stube des Prinzen zu.

Vor der Türe standen die verschüchterten Diener, die Prinz Höckerlein aus seinem Schlafzimmer verjagt hatte.

Als der Herzog eintrat, lag der Bucklige halb entkleidet auf dem seidenen Bett und hielt wie ein Toter die blassen, durchsichtigen Lider geschlossen. Dicker, weißer Schaum quoll über die Lippen heraus, und ein heftiges Zucken lief über den mißgestalteten Körper hin, der in dieser halben Todesähnlichkeit von erschreckender Häßlichkeit war.

Nein! Das kann man nicht heucheln! Ob diese Sperbergeschichte und die Flucht des geängstigten Falkners vor einem mörderischen Jähzorn nicht doch eine ehrliche Sache war? Und im Zorne zittern die Hände, daß auch dem besten Schützen die Bolzen nicht fliegen, wie er will. Und dieser selige Sperber? War er nicht das einzige Geschöpf, für das in dieser menschlichen Mißgestalt so etwas wie Liebe wohnte? Man kann um törichter Dinge willen nicht das einzige töten, an dem man mit Liebe hängt. Das kann auch der da nicht! Obwohl er sich auf üble Dinge versteht. Der Sperber starb. Und aus Kummer um den geliebten Vogel muß dieser Unglückliche leiden an allem Elend seines verkrümmten Körpers. Mit diesem Glauben erwachte in Herzog Ludwig das Erbarmen des Vaters. In Sorge, fast zärtlich, schob er den Arm unter den unförmigen Kopf des Prinzen und versuchte ihn aufzurichten.

Die Gliederzuckungen des Buckligen erloschen. Er tat einen tiefen Atemzug. Doch er blinzelte erst vorsichtig unter den Lidern hervor, bevor er sie völlig aufschlug. Seine Augen gingen noch irr, während er klagend fragte: „Was war mit mir?“

„Ich mußte sehen, daß du leidest. Denk nimmer an den Sperber! Ich schenke dir den schönsten von meinen Falken. Ist dir besser?“

„Ich glaube, ja!“ Ein seelenvoller Blick. „Viel Dank, lieber Vater!“ Der Prinz versuchte sich zu erheben.

„Nein! Bleib ruhig liegen! Man soll dich pflegen, wie es nötig ist. Ich lasse dir meinen Leibarzt holen.“ Herr Ludwig ging rasch zur Türe.

Während draußen des Herzogs laute, befehlende Stimme klang, spuckte Prinz Höckerlein den weißen Seifenschaum, den er noch reichlich im Munde hatte, hinter das seidene Bett, huschelte sich in gekrümmter Lage auf die Kissen nieder und kicherte spöttisch gegen die Türe hin:

„Matthäi? Dein Heiliger, glaubst du? Ob’s nicht der meine wird?“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Ochsenkrieg. Zweites Buch.