Viertes Capitel. - Schritte weckten den Amtmann aus seiner Versonnenheit. Lampert trat aus der Kammer, vor Erregung zitternd. „Vater! Rufe diesen Mann zurück!“...

Viertes Capitel. - Schritte weckten den Amtmann aus seiner Versonnenheit. Lampert trat aus der Kammer, vor Erregung zitternd. „Vater! Rufe diesen Mann zurück!“

„Wen?“ Herr Someiner erwachte. „Ach so?“ Von der Straße hörte man den Hufschlag eines Gaules, der sich entfernte. „Da! Der reitet ja schon davon! So ein Dickschädel!“


„Ich hol ihn noch ein. Darf ich?“

„Nein!“ Der Amtmann war ärgerlich. „Hätt er nicht umkehren können und mir ein gutes Wort geben?“

„Das hast du ihm unmöglich gemacht.“

„Ich?“ Herr Someiner hatte den Blick eines erstaunten Kindes, das man einer Sünde beschuldigt, deren Namen es gar nicht kennt. „Lampert? Ich versteh dich nimmer. In deinem Gesicht ist eine Erregung ohne Maß. Warum?“

„Weil ich fürchte, daß du eine ungerechte und gefährliche Übereilung begehst.“

„Ich?“

„Davon hab ich nicht zu reden, meinst du? Hier redet nur der Amtmann und wer gerufen ist. Gerufen bin ich nicht. Aber das mit diesen unglückseligen Ochsen, die das verbriefte Gras nicht fressen? Das weißt du doch von mir. Und da machst du mich, deinen Sohn, zum Späher und Angeber!“

Das ging dem Amtmann über die Grenze der Geduld. Er schrie in Zorn: „Dir sollte die Mutter sagen, daß du aus jedem Bläslein eine Blatter machst!“ Wütend ging er in die Kammer hinaus und begann in dem dickleibigen Merkbuche zu blättern.

Lampert folgte ihm bis zur Schwelle. „Vater? Wirst du morgen die Pfändleut schicken? Wirklich?“

Herr Someiner hob das Gesicht. Was aus den Augen des Sohnes sprach, schien begütigend auf den Vater zu wirken. „Kann sein, ich tu’s, kann aber auch sein, ich überleg mir’s noch. Jetzt muß ich da was im Merkbuch suchen.“

„Vater! Ich habe nicht Ruh, bevor du mir nicht klar versprichst, daß du die Pfändleut nicht schicken wirst.“

Da war nun wieder alles verdorben. Herr Someiner schlug mit der Faust auf das Merkbuch. „Jetzt bin ich im Amt!“

Lampert lachte kurz und verließ mit jagendem Schritt diesen geheiligten Raum.

Als er hinauskam in den Flur, rief Frau Someiner gerade über das Treppengeländer: „Mann! Bub! Die Supp ist fertig.“

Das stimmte. In dieser verspäteten Mahlzeitstunde war eine böse Suppe gar geworden.

Beim Anblick des Sohnes merkte Frau Marianne gleich, daß Sturm ins Haus gekommen. „Hat’s Krach gegeben?“

„Laß mich, Mutter!“ Lampert stürmte in sein Stübchen.

Frau Someiner wollte folgen, aber da hörte sie von droben das Klirren eines Riegels. „Der hat sich eingesperrt, da ist er sicher!“ dachte sie mit mütterlichem Verstande, machte kehrt und begab sich zu ihrem Mann hinunter.

Der Amtmann stand über den Tisch der kleinen Kammer gebeugt, blätterte aufgeregt in dem großen Merkbuch und schien etwas zu suchen, was sich nicht finden lassen wollte.

„Ruppert!“ fragte Frau Marianne sanft. „Was ist denn schon wieder? Bist du mit dem Buben überkreuz gekommen?“

Der Gestrenge blätterte. „Laß mich in Ruh, jetzt bin ich im Amt.“

Vor dem geweihten Wörtlein Amt schien Frau Someiner eine wesentlich geringere Ehrfurcht zu besitzen als ihr Sohn. „Ach geh, du, mit deinem Amt! Mir ist’s um den Hausfrieden. Und die Supp ist fertig. Komm! Tu dich mit dem Buben in Ruh wieder ausgleichen. Bei guter Schüssel wird das Gemüt schön nachgiebig. Aber so eine trückene Rechtsläpperei –“ Frau Marianne konnte diese kostbare Perle ihrer Lebenserfahrung nicht zu Ende drehen.

Denn der Amtmann hatte im Merkbuch gefunden, was er suchte. Alle mißmutige Strenge seines Gesichts verwandelte sich in triumphierende Freude. „Recht hab ich! Recht! Da steht’s Da! Da! Da!“ Dreimal stieß er mit dem Zeigefinger auf das Merkbuch hin. „Und jetzt, meinetwegen, jetzt kann ich auch Langmut zeigen. Weil es schwarz auf weiß bewiesen ist, daß ich recht hab. Ruf den Buben, Mutter! Das soll er lesen! Da steht’s! Sub 28. Junio 1391: ›Den Hängmooser Auftrieb visitiert, sind aufgetrieben zwanzig Kalben und sechzig Ochsen, item ansonsten alles befunden nach Recht und Weidbrief von Anno 1356.‹ Da steht’s!“ Herr Someiner war in diesem Augenblick der glücklichste der Menschen.

Frau Marianne grollte wohl: „Du liebe Güt! Schon wieder die Hängmooser Ochsen!“ Doch sie lachte, weil sie aus der frohen Sonne, die in der Amtsstube aufgegangen war, den Friedensschluß bei der Suppenschüssel erglänzen sah. „Geh, Ruppert, komm –“ Da kroch die schöne Sonne hinter eine dicke Wolke. Denn Herr Someiner, der bei jeder Erscheinung des Lebens gleich zu rechnen anfing, beugte sich mißtrauisch über das Buch.

„Der 28. Junius 1391? Und heut? Was ist denn heut? Der 26. Junius 1421!“ Zwischen diesen beiden Kalenderziffern schien ein Abgrund des Unheils zu klaffen. In den Augen des Amtmanns malte sich ein Schreck, als hätte sich vor seinem Blick etwas Grauenvolles ereignet.

In Sorge faßte Frau Marianne den Gatten am Ärmel. „Geh, Ruppert, laß doch jetzt –“

Herr Someiner befreite seinen Arm und brauste los: „Da hört sich doch –. Und ich in meiner Gut und Nachsicht hätt jetzt bald –. Ist das ein Kerl! Will die Schweizer Freiheit einführen im Land! Und redet wie ein Bruder vom freien Geist! So ein Heimtücker wie der! So ein geriebener Hinterlister!“

Frau Marianne wollte immer reden. Es gelang ihr nicht. Der Zorn ihres Mannes brauste weiter wie ein entfesselter Wildbach.

„Ein Glück, daß Gottes Segen über meinem Amt ist! Und daß ich den Schaden noch zu rechter Zeit besehen hab! Zwei Tag noch, und es wär zu spät gewesen! Und das ochsenmäßige Unrecht, das sie verüben auf dem Hängmoos, wär verjährt und wär ein ersessen Recht geworden. Und das Stift wär wieder ärmer um ein Herrengut. Aber Gott sei Dank, ich bin noch allweil da.“

Als der Amtmann dieses letzte Wort gesprochen hatte, war er schon nicht mehr da. Er hatte Hut und Stock ergriffen und war schon auf der Straße.

Frau Someiner sah die offene Tür an, schüttelte kummervoll den Kopf und predigte ins Leere: „Gott hat die Welt geschlagen, wie er die Mannsleut erschaffen hat! Ist jeder wie ein kranker Narr, dem man bei Tag und Nacht das kalte Tüchl um das Hirndach legen sollt.“

Als gewissenhafte Hausfrau versperrte sie die Amtsstube und das Eisengitter, nahm den heiligen Schlüsselbund in die Wohnstube mit hinauf und gab ihn an seinen Platz.

Nun war sie allein mit ihrer guten Suppe. Lampen kam aus seinem selbstgewählten Gefängnis nicht herunter, und des Gatten Heimkehr war nicht abzuwarten, solang die Suppe noch lau blieb. Frau Someiner saß am gedeckten Tische. Aber sie rührte den Löffel nicht an. Bei vielen trefflichen Eigenschaften, die man ihr nachrühmen mußte, war sie eine von den Frauen, die sowohl der Kummer wie die Freude veranlaßt, sich dem Irdischen zu entwinden und Hunger zu leiden. Doch sie ließ das Mahl für Vater und Sohn getrennt in zwei Töpfen warm halten, während sie selbst keinen Bissen berührte. Hätte Herr Someiner dieses Widerspruchsvolle in der Handlungsweise seiner Gattin gewahrt, so hätte er vermutlich wieder einmal festgestellt, daß weder Jubel noch Elend eine sinngemäße Ursach wäre, um sich der Speise zu enthalten; Sättigung des Leibes wäre ein natürlicher Brunnen der Lebenskraft, die man gerade in Elend und Jubel doppelt nötig hätte; essen müßte der Mensch noch, auch wenn er wüßte, daß ein Viertelstündlein später die Welt zugrunde ginge; aber, freilich, das Natürliche wäre für die Frauen immer das Unverständlichste.

Der Gelegenheit, sich solcher Weisheit zu entledigen, war Herr Someiner an diesem Tag entrückt. Während Lampert, wunderlich verstört, sich auf der Altane seines Stübchens in einen zierlich geschriebenen Traktat über des Boethius Werk de consolatione philosophiae vergrub und die Mutter mit feuchten Augen vor dem trockenen Teller saß, eilte der Amtmann aufgeregt dem Stifte zu, um seinem gnädigsten Fürsten diesen brennend gewordenen Rechtsfall in causa boum hengismosianorum, in Sache der Hängmooser Ochsen, zu hochpersönlicher Entscheidung vorzutragen.

Die Hälfte dieses Weges wurde dem Amtmann erspart. Denn als er das Stiftstor erreichte, durch das man in einen Vorhof sah, der minder an die Nähe einer klösterlichen Stätte als an den von Söldnern, Jagdbuben und Roßknechten bevölkerten Wallhof einer Ritterburg gemahnte, da kam dem Amtmanne der Erzpropst zu Berchtesgaden entgegengeritten, der edle Herr Peter Pienzenauer, begleitet von einem Jäger mit der Armbrust und von zwei Vorläufern, die sich für die Heimkehr in der Nacht mit Pechfackeln ausgerüstet hatten.

Der Propst war in schmuckloser Jägerkleidung, ein sechzigjähriger Graubart, hager und sehnig. Dem strenggezeichneten Kopfe, der auf diesen straffen Schultern saß, waren Fähigkeiten anzumerken. Hätte er sie nicht in Wahrheit besessen, so hätte er, bevor er Propst zu Berchtesgaden wurde, als Domherr zu Freysing und Augsburg nicht das wichtige, Umsicht und Scharfsinn erfordernde Amt des Kellermeisters bekleidet. Die tüchtigen Kellermeister gehen mager aus ihrem Amte, die schlechten verlassen es fett.

Herr Someiner eilte rasch auf den Fürsten zu; aber es gelang ihm nicht sogleich, die geladene Kammerbüchse seines Amtszornes zu entladen. Denn einer der Novizen, ein junges, feines, weltlich gekleidetes Bürschlein in Schnabelschuhen, mit klingenden Schellen am Gürtel und an den seidenen Ärmelfahnen – der Domizellar Sigwart zu Hundswieben – kam aus dem Innenhof des Klosters gelaufen, faßte das Pferd des Propstes am Zügel und sprach sehr flehentlich zu dem Fürsten hinauf.

Der Amtmann blieb in höfischer Entfernung stehen.

Herr Pienzenauer sah auf das modische, fast mädchenhafte Bürschlein hinunter mit einem Blick, in dem sich Wohlgefallen seltsam mit Geringschätzung mischte. Dann schüttelte er den Kopf. „Nein!“ Seine sonore Stimme war weithin zu vernehmen. „Für heut soll’s genug sein. Mit dieser Knallerei vergrämt ihr mir den Rehbock. Und das Pulver ist teuer. Man weiß nicht, wie bald man’s brauchen kann zu ernsteren Dingen als zum Niederbummern meines besten Hirsches im Graben. Ihr seid wie die Kinder.“

Ein neues Gebettel unter leisem Klingeling der silbernen Schellchen.

Per Propst blieb unerbittlich. „Nein! Wenn ich meinen Rehbock habe, morgen, meinethalben. Heute nicht mehr.“ Er hob den Zügel und brachte das Pferd in Gang.

Sigwart von Hundswieben sah ihm auf eine Weise nach, die wenig Ehrfurcht verriet.

Da trat Herr Someiner auf den Fürsten zu.

„Ruppert? Was gibt’s? Lang hab ich nicht Zeit. Sonst versäum ich die Pirsch.“

Der Amtmann sprach. Und als er seine Darlegung beendet hatte, fragte er: „Was soll geschehen, gnädigster Herr?“

„Was verständig ist und dem Recht entspricht.“ Propst Peter lächelte. „Auf dich kann ich mich verlassen.“ Dann ritt er davon.

Der Amtmann nickte. Jetzt war die Sache klar erledigt. Ohne einen Blick für die Menge des lärmenden Volkes zu haben, das sich drunten bei der Mauer des Hirschgrabens drängte und auf eine Fortsetzung dieser ebenso lustigen wie erstaunlichen Donnersache wartete, suchte Herr Someiner eilfertig den Vogt des Stiftes auf und beorderte ihn zur Pfändung der siebzehn siegelwidrigen Kühe auf dem Hängmoos, pünktlich zur Mittagsstunde des kommenden Tages.

Doch auf dem Heimweg zur guten Suppe wurde der Amtmann nachdenklich. Wie war das nur? Hatte der Fürst gesagt: „Was Verstand hat und dem Recht entspricht?“ Und hatte er den Nachdruck auf das Recht gelegt? Oder sagte er: „Was dem Recht entspricht und Verstand hat?“ Und meinte er als wesentliche Sache den Verstand?

Daß aber auch die hohen Herren immer so zwiespältig reden! Man weiß da nie mit Sicherheit, wie man dran ist.

Doch so oder so, jetzt war die Sache in Gang. Der amtliche Karren, der keine Deichsel zum Umkehren hat, mußte laufen. Los! In Gottes Namen!

Zu Hause, als Herr Someiner allein und ungestört die warmgehaltene Suppe aß, war in ihm ein ruheloses Wechselspiel von vernunftgemäßer Zufriedenheit und unerklärlicher Besorgnis. Schließlich wollten ihm die boves hengismosiani gar nicht mehr aus dem Sinn. Und neben den ruhigen Pendelschlägen in dem alten Uhrkasten – „Bau! Bau!“ – wurde Herrn Someiners Unsicherheit in der Deutung jenes delphischen Fürstenwortes vom Verstand und vom Rechte immer qualvoller.

Inzwischen dachte der edle Herr Peter Pienzenauer schon lange nicht mehr an die siegelwidrigen Ochsen oder Küh. Er freute sich des schönen Pirschabends, der da kommen wollte, ritt ohne Eile den Waldschlägen des Totenmannes zu und überließ seinem Roß die Zügel zu behaglichem Schreiten.

Um die gleiche Stunde mußte ein andres Rößlein rennen, schnaufen und schwitzen. Als der Schimmel vor des Richtmanns Hagtor in der Ramsau mit pumpenden Flanken stehenblieb, fielen handgroße Schaumflocken von ihm herunter.

„Ich muß gleich wieder davon“, sagte der Runotter zu Heiner, „führ den Schimmel umeinand, daß er sich nit verkühlt.“ Er ging zum Haus und zog am Küraß die Schnallen auf. Vor der Schwelle drehte er das erhitzte Gesicht. „Weißt nit, ist der Soldknecht noch im Leuthaus drüben?“

„Schon lang nimmer. Die Rauschigen sind all davongetorkelt. Und den Malimmes hab ich lustig singen hören, weit über die Straß hinaus.“

„Ist er’s gewesen? Wahrhaftig? Der Malimmes vom Taubensee?“

„Wohl, Bauer!“

Runotter trat ins Haus. Gleich kam er wieder, des Eisens ledig, nur mit einem festen Meser am Gürtel. „Kann sein, ich komm über Nacht nit heim.“ Er zog die Lederkappe in die Stirn, sprang auf den Schimmel hinauf und ließ ihn am Brunnen trinken.

Im Trab die Straße hin gegen den Taubensee.

Bei einem Haus, das neben der Straße auf einem kleinen Hügel stand, rief Runotter: „Höi! Ist der Albmeister daheim?“

Der wäre beim Heuen, gleich da drüben über dem Bach.

Die Ache machte mehr Lärm, als sie Wasser hatte. Leicht kam der Schimmel hinüber und kletterte über die steilen Wiesen hinauf.

Ein neunzigjähriger Bauer, dürr und gebeugt, kahlköpfig und mit weißen Bartstoppeln, wendete das am Morgen gemähte Heu – Seppi Ruechsam, der Albmeister der Ramsauer Gnotschaft. Sein Hausname kam wohl davon, daß einer seiner Vorfahren ein besonders Sparsamer gewesen war. Wie für die Fähigkeiten des Propstes sein früheres Amt als Kellermeister, so sprach für den Seppi Ruechsam die Tatsache, daß er Albmeister war. Um Albmeister zu werden, mußte man zumindest siebzig Jahre hinter sich haben, mußte das Vergangene wissen und mußte ein Makelloser, einer von den Besten der Gemeinde sein. Der Albmeister war halb wie ein Heiliger, weil er den grünen Speisbrunnen und das wertvollste Lebensrecht des Bergdorfes hütete.

Ehe noch der Schimmel den Seppi Ruechsam erreichte, fragte Runotter schon: „Seppi? Du? Wie ist das mit dem Hängmoos? Seit wann ist der Käser droben? Seit wann treibt man das Milchvieh hinauf?“

Langsam streckte sich der Greis. „Das ist, seit die Salzburger den Propsten Kunrad vertrieben und das Stift in Pfand genommen haben. Ist gewesen im dreiundneunziger Jahr.“

„Ist Melkvieh und Käser mit Rechten auf der Alb?“

„Was denn sonst? Albmeister ist der Seppi Ruechsam. Der wird wohl wissen, was recht ist.“ Für den Greis in seiner steinernen Ruhe schien das ein Zwiefaches zu sein: er als Mensch und er als Albmeister.

„Ist unser Recht verbrieft?“

„Was denn sonst?“

Runotter atmete auf. „Der Brief ist weisbar?“

„Was denn sonst? Liegt bei mir in der Truchen, ist gut geschrieben ist gewächsnet mit des Herrn Kunrad Fürstenring.“

Der Richtmann verlangte nicht, den Brief zu sehen. Er wußte: Der Albmeister hat die Truhe mit den Rechtsbriefen, der Ältestmann der Gnotschaft hat den Schlüssel, und Schloß und Schlüssel dürfen nur Hochzeit halten, wenn fünf spruchbare Männer der Gnotschaft als Zeugen dabei sind.

„Sie sagen im Amt, es war kein Brief nit da als bloß der alte von den Ochsen.“

„Die sagen viel.“ Der Greis fing wieder zu heuen an.

„Und der Amtmann will die Milchkuh pfänden lassen, morgen.“

Seppi Ruechsam hob langsam das Gesicht. „So?“ Er sprach dieses kleine Wort, als hätte ihm einer an schönem Tage gesagt, es regnet. „Was tust da, Richtmann?“

„Ich steh beim Recht. Und treib nit ab. Die Küh müssen bleiben.“

„Was denn sonst?“

„In der Nacht reit ich um und ruf die Leut für morgen zum Taiding.“

Der Greis nickte. „Ist hart, in der Heuzeit einen Tag verlieren. Aber mehr als Heu ist die Kuh, mehr als die Kuh ist das Recht.“

„Das Taiding ruf ich zu deinem Haus.“

„Was denn sonst? Es geht ums Weidrecht. Der Seppi Ruechsam ist morgen daheim, wo die Truchen steht. Aber Pfändleut hin oder her, einem Spießknecht gibt der Seppi Ruechsam den gewächsneten Brief nit in die Hand. Recht liegt fest. Das tut man nit umtragen wie den Bettelsack. Vor guter Zeugschaft muß der Amtmann zum Seppi Ruechsam seiner Truchen kommen. Und kommt er nit, und sie pfänden? Gut! Da muß der Fürst die Küh futtern und die Milch vergüten. Derweil kriegen wir auf der Alb mehr Gras, wenn minder gefressen wird. Ist ein Nutzen. Den Schaden muß das Stift gutmachen. Tät der Fürst für seines Amtmanns Unrecht nit aufkommen, so geht man zum deutschen König. Dafür ist der König da. Wozu denn sonst? Und den Weg zum deutschen König weiß der Seppi Ruechsam. Sonst tät er nit Albmeister sein. Was denn sonst? Jetzt tummel dich, Mensch! Und reit!“

Das war die längste Rede, die man vom Seppi Ruechsam seit vielen Jahrzehnten gehört hatte. Er sollte in seinem Leben keine so lange mehr halten.

Der Richtmann überquerte die Ache wieder, und sein unermüdlicher Schimmel, dessen Heubauch schlank geworden, jagte zum Taubensee.

Die Sonne bekam schon goldene Glut, und alle Farben der Erde und des Himmels vertieften sich zu sanftem Glanz.

Im Wiesgarten am Taubensee schleppten Mareiner und sein Weib das fein geratene Heu in großen Tüchern zur Scheune. Die Bäuerin, als sie den Reiter sah, bekam gleich wieder einen Schreck; ein Herr war der Runotter freilich nicht, aber der Richtmann war er.

„Du, Mareiner“, rief der Ramsauer und sprang vom Gaul, „ist’s wahr, daß dein Bruder Malimmes gekommen ist?“

„Wohl!“ Das konnte der Bauer ruhig sagen. Seine dreiundachtzig und ein halb Pfund Pfennig waren in Sicherheit; und Malimmes tat, als möchte er geben wie ein Christ, nicht nehmen wie ein Hofmann. „Vor der Haustür hockt er bei der Mutter.“

„Mein Gaul ist heiß gelaufen. Magst ihn ein lützel führen, derweil ich mit deinem Bruder red?“

„Gib her!“

Runotter ging zum Haus. Er dachte zwei Menschen in Freude zu finden und fand zwei Leute, von denen sich keins ums andre zu kümmern schien. Wohl saßen sie nebeneinander, die alte Frau im Sessel und Malimmes auf dem Boden, ohne Wams und mit nackten Füßen, recht wie einer, der daheim ist; doch er hielt die Arme um die aufgezogenen Knie geschlungen und guckte verdrossen vor sich hin; die große Narbe brannte wie Feuer.

Er war nicht wehleidig. Aber wie die Mutter seine Heimkehr nahm, das war doch wunderlich. Eine kurze Freude, wie beim Besuch einer Nachbarin, die man lange nicht gesehen. Und nun saßen die beiden so nebeneinander, schon den ganzen Nachmittag. Wenn Malimmes erzählen wollte, hörte die Mutter nicht zu und guckte zum Himmel hinauf; und wenn er stumm wurde, redete sie vom andern, immer vom andern. Jetzt wieder. Und plötzlich fragte sie: „Malimmes, bist du noch da?“

„Noch allweil, ja!“

„Wie lang, sagst, hast du laufen müssen bis zu deiner Mutter?“

„Sieben Täg.“

„Ein weiter Weg. Und der ander steht am Zäunl. Steht am Zäunl. Und geht nit herein zu mir.“

„Das hast du mir schon gesagt, Mutter! Oft schon. Magst nit ein lützel mit mir reden?“

„Steht am Zäunl und geht nit herein zu mir.“

Malimmes sah den Richtmann kommen, streckte sich, stand auf und ging ihm lautlos durch das Gras entgegen. „Bist du nit der Runotter?“

„Freut mich, daß du mich noch kennen magst.“ Erschrocken sah Runotter die brennende Narbe an.

„Kommst du zu mir?“

„Wohl! Hab gehört, du wärst wieder da.“

„Gelt! So wirft das Leben die Leut umeinand, man weiß nit, warum.“ Das klang ein bißchen katzenjämmerlich. Und doch war an Malimmes keine Spur von Trunkenheit. Er sah über die Schulter zu der alten Frau hinüber. Dann zwang er sich zu heiterem Ton. „Ja, weißt, in Nüremberg hat’s mir nimmer gefallen, seit man um der Franzosen willen die Badstuben geschlossen hat. Ich hab allweil ein lützel auf Sauberkeit gehalten. Wie kleiner ein Gärtl ist, um so feiner muß man’s hegen.“

Der Richtmann schien nicht zu verstehen. „Franzosen? Im Reich? Ist Krieg?“

Jetzt konnte Malimmes lachen. „Ein harter, ja! Aber Gott sei Dank, von der Ramsau müssen die blauen Marodier noch weit sein! – Jetzt red, Richtmann! Ich sehe doch, du willst was.“

„Bleibst lang daheim?“

Wieder sah Malimmes über die Schulter. „Glaub nit. Was tu ich denn da? Man ist der Niemand. Der Schlechter ist allweil der Besser! – Und was tu ich draußt in der Welt? Nit wissen, wo man daheim ist. Pfui Teufel!“

„Hast keinen Herren?“ fragte der Richtmann rasch.

Malimmes schüttelte den Kopf.

Dem Runotter schoß die Freude heiß ins Gesicht. „Ich tät dir was wissen. Aber du wirst nit mögen.“

„Schieß los!“ Der Soldknecht lachte. „Laß den Bolzen fahren! Gut oder schlecht geschossen, ein Plätzl trifft er allweil.“

„Mein Bub müßt im Winter zur Holdenwehr. Dienen kann er nit, weil er bresthaft ist.“

Der Söldner nickte.

„Das weißt? – Weißt auch warum?“

Wieder nickte Malimmes. „Selbigsmal bin ich doch fort. Hab flüchten müssen, weil ich über den Hartneid Aschacher geschumpfen hab.“

Jäh streckte Runotter die Hand.

Malimmes nahm sie nicht. „Laß gut sein! Deinetwegen hab ich nit geschumpfen. Ich hab geschumpfen, weil mir gegraust hat. – Also? Was willst?“

Zögernd sagte der Richtmann: „Für meinen bresthaften Buben, daß er das Erbrecht nit verliert, such ich einen Stellmann zur Holdenwehr.“

Jetzt verstand Malimmes und brach in heiteres Gelächter aus, wie über einen guten Spaß. „Jöija, Bauer! Bist voll und toll? Wer heut mit mir gesoffen hat, das weiß ich nimmer. Aber du bist doch nit dabei gewesen?“

„Spotten brauchst nit!“ Runotter war bleich geworden. „Hab mir eh schon gedacht, du wirst nit mögen.“

Im Klang dieser Worte war ein so schwerer Kummer, daß Malimmes sein Lachen sein ließ und verwundert aufsah.

„Gottes Gruß!“ Der Richtmann wollte gehen.

Da faßte ihn Malimmes flink am Arm. „Du!“ Ein langes Schweigen. „Wenn ich um Allerheiligen noch leb und frei bin, meiner Seel, ich tu’s.“

Mit jagenden Worten sagte Runotter: „Wenn du möchtest, Mensch, ich tät dir Sold geben von heut an. Verlang, was du magst. Hab ich so viel, so geb ich’s.“

Nun mußte Malimmes wieder lachen. „Da tätest ja du mein Herr sein bis zum Winter!“ Immer heiterer wurde er. „Dem König hab ich gesoldet, einem Kurfürsten, einem Herzog, einem Bischof, einer schönen Frau, einem Heckenreiter und einer Stadt. Noch nie einem Bauren! Jöija, schau, da hätt ich ja gar was Neues im Leben!“

„Red nit so!“ sagte Runotter unwillig. „Mir ist das kein lustig Ding.“

„Aber mir! Eines Bauren Soldmann? Ist was Neues! Freilich, die Bauren führen allweil Krieg, eines Sauren Kriegsmann sein, ist gefährlich. Könnt sein, da geht’s mir flink an das kitzlige Zäpfl. Aber wissen möcht ich, wie das ist, wieder einmal was Neues haben.“ Lustig klatschte Malimmes die Hand auf seinen Schenkel. „Einmal im Clevischen, da hat mich auch ein Gusto gekitzelt. Hab gemeint: Um des Wissens wegen muß man alles verkosten. Da hätten sie mich schier gehenkt. Ein Blitz hat einschlagen müssen, daß ich vom Baum wieder ledig worden bin.“

Der Richtmann sagte hart: „Laß dein narrisches Reden sein, das ich nit versteh. Tust mich foppen? Oder ist es dein Ernst?“

„Die Hand her! So schlag ich ein!“

Die beiden Fäuste umklammerten sich. Malimmes lachte, Runotter blieb ernst, doch die steinerne Härte seines Gesichtes milderte sich. „Was verlangst?“

„Ich schätz dich nit minder ein als wie die Nüremberger: doppelt Gewand, für Sommer und Winter, Wehr und Eisen nach Not, Trank und Speis nach Landsbrauch, im Frieden Stub und Bett, bei Krieg einen Polster im Zelt, zwanzig Pfund Pfennig als Doppelsold, viermal im Jahr ein frummes Weibl und nach jeder gewonnenen Schlacht das Raubrecht.“

Im Gesicht des Richtmanns zeigte sich ein leiser Zug von Heiterkeit. „Sollst alles haben. Bloß die frummen Weiblein, die mußt dir selber suchen –“

„Eins weiß ich mir schon, nit weit von deiner Burg.“

„– und meine Schlachten verlier ich. Da wirst kein Raubrecht haben.“

„Ist auch nit schlecht. Fasten und arm sein können, ist eines Kriegsmanns beste Kunst.“

„Gilt’s, Malimmes?“

„Topp!“

„Topp!“

Runotter wollte gleich zu seinem Gaul. Aber Malimmes faßte ihn am Gürtel. „Halt, Herr, jetzt muß ich Treu schwören!“

„Geh, Mensch, laß die Fasnachtspossen!“

„Das muß sein!“ sagte Malimmes ernst. Er stellte die Beine breit, legte die Linke auf seinen hageren Brustkasten, hob die Rechte mit gespreizten Fingern und sagte, wie ein Frommer sein Gebet spricht:

„Meinem Herren tu ich den Eid,
Will ihn schützen und ehren allzeit
In Fried und Gefecht.
Treu deinem Recht,
Bin ich dein Knecht,
Mit Herz, Haut, Fleisch, Blut und Sinn
Hast mich, wie ich bin.
Und tät ich nit, wie du befohlen,
Soll mich der Teufel holen!“

Freundlich sagte der Richtmann: „Bist noch allweil der gleiche Narrenschüppel, der du als Bub, gewesen.“ Er wollte gehen.

„Halt, Herr! Jetzt muß ich das Knie beugen.“

„Geh, laß doch! So was mag ich nit.“

„Herr, das muß sein!“

„Sag doch nit allweil Herr zu mir! Ich bin keiner.“

„Der meinig bist!“ Malimmes beugte auf höfische Weise das Knie. „Meinem Herren zur schuldigen Ehr!“ Als er aufstand, streckte er dem Runotter die Hand hin. Es war etwas Warmes und Schönes in der Art, wie er sagte: „Sei mir ein guter Herr, so bin ich ein guter Knecht, bei Tag und Nacht, in Glück und Elend.“

„Auf mich ist Verlaß, Malimmes!“

„Auf mich nit minder!“ Der Soldknecht lachte. „Also, morgen mit der Sonne steh ich ein bei dir. Mit wem hast Fehd? Heut vor Nacht, da schleif ich noch meinen Bidenhänder. Da können wir morgen gleich losschlagen.“

Fast ein bißchen schmunzelnd machte der Richtmann eine abwehrende Bewegung mit der Hand. „Da wirst dich nit tummeln brauchen.“

Wie brennendes Blut lag der rote Schimmer des Abends über allen Dingen der Erde.

Als Runotter schon gehen wollte, sah er zum Haus hinüber und sagte leis: „Von mir aus hast Urlaub bis zum Winter. Deiner Mutter könnt’s unrecht sein, daß du gehst.“

Jede Spur von Heiterkeit erlosch in den Augen des Malimmes. „Die hat nit gemerkt, daß ich kommen bin. Wird nit merken, daß ich geh. Sieben Täg lang bin ich gelaufen in einem Saus von Nüremberg bis zum Taubensee. Allweil ein Freud vor mir. Jetzt bin ich da. Wo ist die Freud?“ Er sah dem andern in die Augen. „Runotter! Wie von Nüremberg zum Taubensee, so ist der Weg von der Wiegen bis zur Grub.“ Seine Brust hob sich. „Auf morgen! Ich komm. Und hast nit Kriegsmannsarbeit für mich, so laß mich die Säu hüten. Sind liebe Viecher.“

Herzlich sagte der Richtmann: „Bei mir sollst es gut haben! Du und ich, paß auf, das gibt zwei feste Kameraden.“

Sie gingen voneinander, Runotter zu seinem Gaul, Malimmes hinüber zum Haus.

Neben der Mutter blieb er stehen und strich ihr mit zärtlicher Hand über den weißen Scheitel.

Sie schob seine Tatze fort.

„Steht am Zäunl. Und geht nit herein zu mir!“

Malimmes blieb noch immer bei ihr stehen und wartete. Dann streckte er die langen Glieder und trat ins Haus.

Durch den glühenden Abend trabte der Schimmel gegen das enge Waldtal hinauf. Den Weg zum Hängmoos kannte er gut. Im Walde fing es schon zu dunkeln an. Der Schimmel fand sich zurecht, ohne daß sein Reiter ihn lenken mußte.

Es war im Richtmann eine Ruhe, über die er sich selber wunderte. Aber war denn nicht die angedrohte Pfändung eine Narretei geworden, jetzt, seit er wußte, daß der gewächsnete Rechtsbrief in der Truhe des Seppi Ruechsam lag? Oder kam diese Ruhe aus seiner Vaterfreude? Weil er seine Kinder sehen sollte? Oder war diese Ruhe in seinem Herzen seit dem Handschlag des Malimmes? Wird das Leben ein besser Ding in der Stunde, in der man einen Menschen findet, aus dessen heiteren Augen die Treue redet?

Im steilen Walde stieg Runotter ab, damit dem Schimmel das Klettern leichter würde. Als die beiden das dunkle Almfeld erreichten, nahm der Richtmann dem Gaul das Zaumstricklein und den Gurt herunter und ließ ihn laufen. Der Schimmel wälzte sich gleich in der nächsten Schlammwanne des Bruchbodens.

„Guck, wie gescheit! Der zieht ein warmes Jäckl an, daß er sich nit verkühlt.“

Raschen Ganges schritt Runotter über die Alm hinauf. Es war schon finster. In der Höhe und im stahlblauen Osten glänzten die großen Sterne. Gegen den Westen lag noch ein schwefelgelber Streif des versinkenden Lichts über dem Lattengebirge. Warm, wie aus einem Backofen, strich die Nachtluft über das Gehänge herunter. In den Sümpfen des Bruchbodens sangen mit viel hundert Stimmen die Frösche. Diese Stimmen, von denen eine wie die andre klang, schwammen zu einem gleichmäßig flutenden Rhythmus ineinander. Ein endloses Lied mit einem einzigen Wort: „Wogwogwogwogwog ...“ Fast klang es, als hätte die Erde irgendwo – in der Nähe oder fern? – eine verborgene Kehle, durch die eine geheimnisvolle Stimme der Tiefe heraufsang.

Dazu noch, weit in der Finsternis draußen, das Rauschen eines Baches. Und hier und dort, ganz leise, tönte zuweilen eine Almschelle. Die Rinder ruhten schon. Doch plötzlich kam etwas heftig Rasselndes durch die Dunkelheit heran, sehr schnell, dumpf schnaubend, eine finstere Tiergestalt mit plumpem Kopf: ein vierjähriges Öchslein, das seinen Heimherrn gewittert hatte. Sah wie ein Schreck der Finsternis aus – und war tierische Zärtlichkeit. Der Atem des Rindes ging dem Richtmann heiß und wohlriechend gegen die Wange, gegen die Hand.

„Dunnerli, bist du’s?“

Ruhig ging das Öchslein neben dem Bauer her bis auf einen Steinwurf vor der Hütte, aus deren Tür ein matter Rotschein herausgloste.

Im Dunkel eine leise, froh erschrockene Stimme: „Vater?“

„Wohl, Kindl!“

Jula, die neben der Tür auf der Hüttenbank gesessen, gab dem Vater die Hand. „Wird der Bub sich freuen!“ Ihre Knabenstimme war wie ein linder Flötenton in der Nacht.

„Wo ist er?“

„Schlafen tut er schon. Der wird Augen machen, wenn du ihn weckst.“

Runotter schwieg. Nach einer Weile schüttelte er den Kopf. „Soll er lieber schlafen. Der Schlaf ist das best. Da ist der Mensch dem Himmel näher und weit von der Welt.“

Die Hirtin nickte. „Ist schon wahr. Besser, der Jakob schlaft. Das tut ihm gut. Heut schon gar. Er muß sich ein lützel geärgert haben.“ Sie meinte den Auftritt mit Marimpfel; aber davon mochte sie dem Vater nichts erzählen. „Du weißt, nach einem Ärger tut er sich allweil mit dem Schnaufen hart. Zum Abend ist’s wieder besser gewesen. Gut, daß er schlaft.“

„Freilich, ja!“ Runotter tat einen schweren Atemzug. „Daß du noch nit zur Ruh bist?“

„Zum Abend sitz ich allweil so und schau hinaus. Und die Frösch, die mag ich leiden.“

Runotter streifte die Schuh von den Füßen. Lautlos, mit nackten Sohlen, trat er in den Käser und ging zum Heukreister hin, der in der Ecke war. Von der Kohlenglut des Herdes strahlte ein rotes Zwielicht aus. Und unter diesem roten Schimmer lag in der breiten, mit Heu gefüllten Schlaftruhe ein Häuflein mühsam atmenden Lebens. Eine graue Wolldecke verhüllte den winzig zusammengehuschelten, bresthaften Körper. Das schwarze Haar hing wuschelig in die bleiche Stirn; in den Runzeln des schmalen Gesichtes war ein ruheloses Zucken. Und dennoch gab der Schlaf diesem häßlichen Bild einen Hauch von wohligem Frieden.

Runotter streckte die Hand nach der wollenen Decke, ohne sie anzurühren. Und wie jedesmal, wenn er seinen Buben mit geschlossenen Augen sah, so jagte dem Richtmann auch jetzt eine Reihe von Bildern durch das Gehirn.

Er sah sein junges Weib aus dem Tal des Windbaches heimkommen, an der Hand das verstörte Dirnlein, das in einem erwürgten Schreikrampf immer schlucken mußte; alles Weiße am Gewand des jungen Weibes hatte rote Flecken wie von Blut; aber die kamen nur von den zerdrückten Erdbeeren; doch am Hals und auf der kalkbleichen Wange hatte sie eine leichte Ritzwunde.

Er sah sein Weib auf der Bank in der Stube sitzen, sah, wie sie zitterte an Händen und Knien, wie sie immer das Gesicht hin und her drehte, immer ihres Mannes Augen vermied und stumm blieb auf alle Fragen. Immer stumm, solang der Tag noch ein Bröslein Licht hatte. Und erst in der Nacht, als sie im Dunkel der Kammer an ihres Mannes Hals geklammert hing, da kam ihr die Sprache.

Er sah sich im Münster zu Berchtesgaden hinter einer Säule stehen, das Messer im Ärmel verborgen; er sah die Stiftsherren beim Rauschen der Orgel zu ihren Chorstühlen kommen, alle, alle – und nur ein einziger kam nicht und blieb verschwunden: Hartneid Aschacher.

Er sah einen grauen Wintermorgen und sah, wie ihm die schweigende Hebfrau auf seine ausgestreckten Hände hin ein verdrehtes, widersinnig verschobenes Menschenkind legte, das die Augen nicht auftat, immer das schmerzhafte Mündchen öffnete und doch nicht lallen wollte.

Er sah –

Da legte er langsam den Arm über seine Augen.

Lautlos trat er hinaus in die Nacht.

Nun saßen Vater und Tochter auf dem schmalen Bänklein, Schulter an Schulter, immer schweigend.

Dann fing Runotter ruhig zu reden an und erzählte von dem ›Stellmann‹, den er für Jakob gefunden.

Wieder schwiegen die zwei.

Und immer leiser wurde das Lied der Frösche, immer weiter schien es fortzurücken, immer ferner in die Nacht hinauszuschwimmen. Es wurde zuletzt wie eine feine Stimme, die zärtlich herausflüsterte aus dem Dunkel: Komm, komm, komm, komm –

„Das hör ich gern!“ sagte Jula.

Nun erzählte Runotter von der Arbeit im Hof daheim. „Aber arg still ist’s im Haus. Tät mir recht sein, wenn der erste Reif schon da war und du kämst mit dem Jakob wieder heim! Beieinand sein ist allweil das best. Aber jetzt muß ich fort, muß noch ein paar Weg machen in der Nacht.“ Er war aufgestanden und hatte Jula schon die Hand gereicht. Und nun erst sprach er von dem anderen, von der Narretei dieser Pfändung.

Die Hirtin erschrak. Und in der Sorge um ihre Tiere, die sie liebhatte, sprach sie zornige Worte.

Der Vater schob die Füße in die Schuhe. „Komm, geh ein lützel weiter vom Käser weg. Der Bub soll mich nit sehen, wenn er aufwacht. Der braucht’s nit wissen.“

Die beiden gingen langsam in die Nacht hinaus, Runotter mit Zaum und Gurt über dem Arm. Als der Vater stehenblieb, sagte Jula in Zorn: „Das ist doch unrecht, Vater!“

„Mehr Unverstand und ein lützel Irrtum, der sich weisen wird. Ich glaub eh, sie lassen’s gut sein. Aber kommen die Pfändleut; so mußt dich nit aufregen. Ich schick dir morgen in der Früh den Heiner herauf. Tat selber kommen, wenn ich nit bei der Gnotschaft sein müßt. Und zum Paß dahinten, gegen den Hallturm, leg ich einen Buben als Lugaus. Merkt er die Pfändleut, so muß er heimspringen und unter der Alben drei Juchzer tun, daß du weißt, sie kommen. Da geh mit dem Jakob vom Käser weg, weit weg, bleib in den Stauden hocken und tu dich nit kümmern um die ganze Sach. Der Heiner macht schon alles.“

„Vater, das ist hart, daß du mich wegschicken tust von meiner Herd!“

„Bloß wegen dem Buben, weißt! In drei, vier Tag ist alles wieder gut. Leicht morgen zum Abend schon. Über den Bruchboden bringen die Pfändleut so viel schwere Küh nit hinüber. Da müssen sie durch die Ramsau. Und beim Seppi Ruechsam steht die Gnotschaft mit unserm Recht. Kann sein, ich bring die Küh vor Nacht wieder her. Geht’s anders, so tu ich Botschaft schicken. Da bleibt der Heiner zum Ochsenhüten, und du mit dem Buben kommst heim.“

Jula konnte nicht reden.

Runotter tat auf den Fingern einen Pfiff. Ein Pochen wie von zwei schweren Hämmern ließ sich hören, und der Schimmel kam aus der Nacht herausgaloppiert. Der Richtmann fühlte an den Gaul. „So? Hast du dein warmes Jäckl schon wieder abgebeutelt?“ Er gürtete und zäumte den Schimmel.

Da sagte Jula: „Daß die Leut so schlecht sein können!“

„Wie’s half geht!“

„Muß das allweil so sein? Und ist das allweil so gewesen?“

„Ein Sträßl zum Besseren gibt’s überall, und gewesen ist’s auch nit allweil so. Meines Vaters Vater hat als junger Bursch noch leben dürfen in der, seligen Heinrichszeit.“

Beklommen fragte die Hirtin: „Was für eine Zeit ist das gewesen?“

„Bald hundert Jahr ist’s her, da hat im Land ein guter Fürst regiert, Herr Heinrich von Inzing. Von dem hat meines Vaters Vater als altes Mannderl oft erzählt, und wenn er geredet hat von ihm, sind die Leut herumgesessen, mäuserlstill, und jedem ist ein Glanz in den Augen gewesen.“

„Da hätt ich leben mögen!“ sagte Jula leis.

„Ja, Kind, selbigsmal, sagen die alten Leut, da wär das Gadener Land wie ein Paradeis gewesen. Und nit der Herrgott hat’s gemacht. Ein Mensch! Da glaub ich dran: Ein starker und guter Mensch macht tausend glückselige Leut und greift dem Elend der Welt ins Karrenrad.“ Runotter sprang auf den Gaul. „Der Schimmel hat die besseren Augen. Da geht’s flinker. Gut Nachts Kindl! Und morgen tust so, wie ich’s haben will. Gelt?“ Er faßte die Hand, die Jula ihm hinaufbot. „Gestern noch die beste Ruh, und heut so eine Sorg! Möcht nur wissen, wer die Narretei da aufgerührt hat. Der Marimpfel kann’s nit gewesen sein. Der ist doch heut schon mit der Ladung kommen.“ Runotter spürte an Julas Hand eine Bewegung. „Was hast?“

Sie schüttelte den Kopf. Und schweigend stand sie in der Dunkelheit.

„Jetzt muß ich aber davon! Gut Nacht! Und tu am Käser die Tür fest riegeln.“

Jula blieb stehen.

Den Vater sah sie schon nimmer. Nur auf dem Rasen hörte sie noch vier Hämmer leise pochen. Manchmal klang’s wie Eisen gegen einen Stein; und winzige Funken sprühten auf.

Langsam drehte Jula das Gesicht gegen den Bruchboden hinüber, aus dessen matter Wasserhelle die kleinen Moosbüschel wie struwelige Koboldköpfe herauslugten.

Die Stille der Nacht.

Auch die Frösche schliefen und sangen nimmer.

Da klang in weiter Ferne ein Murren wie vom Donner eines nahenden Gewitters.

Doch die Höhe war wolkenlos, die Sterne glänzten ruhig und schön.

Herr Peter Pienzenauer war mit dem Rehbock heimgekommen ins Stift. Und da hatten die Chorherren noch einmal die neue Kammerbüchse im Hirschgraben gelöst, um den Pulverblitz in der Nacht zu sehen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Ochsenkrieg. Erstes Buch.